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Die Angst des Schokofabrikanten  (Thomas Rothschild)

In der Stuttgarter Zeitung erklärt der Schokoladenfabrikant Alfred Ritter: »Ein Teil der Weltbevölkerung hungert, und trotzdem wird immer mehr mit Lebensmitteln spekuliert, das kann ich nicht gutheißen.« Weiter heißt es in dem Artikel, auch in Deutschland sei »das Gleichgewicht zwischen Arm und Reich aus dem Lot geraten«. Ritter: »Es ist doch erschreckend, wie viele Kinder kein warmes Essen mehr bekommen.« Das klingt sympathisch und aus dem Mund eines Unternehmers nicht alltäglich. Dann aber fügt Ritter hinzu, die Vermögenden im Land müßten begreifen, daß die zunehmende Armut auf kurz oder lang auch negative Auswirkungen auf ihr eigenes Leben haben wird. »Ich setze mich gerne abends bei mir zu Hause in meinen von der Straße einsehbaren Wintergarten; ich möchte in Zukunft auch weiter dort sitzen, ohne irgendwann erschossen zu werden.« Im Grunde ist es nicht der Zorn gegen das Unrecht, nicht das Verlangen nach Gerechtigkeit, was Alfred Ritter motiviert, sondern die Angst. Die Angst vor jenen, die sich mit kriminellen Mitteln holen könnten, was ihnen vorenthalten wird.

Mit dieser Angst steht Ritter nicht allein da, und sie reicht über seinen Wintergarten hinaus. Daß die zunehmende Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Armut die Kriminalität erhöhen und die eigene Sicherheit, vor allem den eigenen Besitz gefährden könnten, gehört mittlerweile zum Repertoire von Stammtischgesprächen. Im globalen Maßstab ist es die begründete Angst der (relativ) reichen Länder vor den Völkerwanderungen, die uns bevorstehen könnten und die nur ein Ziel haben: die bislang Benachteiligten am Reichtum zu beteiligen. Sie werden sich, das ahnt man, holen, und sei es mit dem Gewehr, was man ihnen seit Jahrhunderten verweigert hat und immer noch verweigert.

Indem Alfred Ritter aber dafür plädiert, etwas gegen die zunehmende Armut zu tun, und sei es aus Angst, gesteht er ein, daß Gerechtigkeit notwendig ist. Was er fürchtet, die mit der Armut zunehmende Kriminalität, hat seine Ursache: eben die Ungerechtigkeit. Die Beseitigung der Ungerechtigkeit müßte nicht mit der Gefahr, erschossen oder ausgeraubt zu werden, verbunden sein, wenn die Gesellschaft – die Politik, die Justiz, die öffentlichen Einrichtungen – für mehr Gerechtigkeit sorgten. Daß die Vermögenden etwas einsehen und von sich aus Almosen verteilen, ist nur die zweitbeste Lösung des Problems. Daß Arm und Reich immer weiter auseinanderklaffen, ist eine Provokation der Moral. Sie müßte ausreichen, um Alfred Ritters Haltung zu begründen. Auch wenn er unbehelligt in seinem Wintergarten sitzt, was wir ihm wünschen.

Aber Alfred Ritters Angst, über die zu spotten es keinen Anlaß gibt, beweist darüber hinaus, daß schon die Drohung von Gewalt Wirkung zeigt. Wie die Gefahr, von einem Kontrolleur erwischt zu werden, das Schwarzfahren reduziert, wie die Präsenz von Polizisten die Zahl derer verringert, die bei Rot die Straße überqueren, so könnte die Angst vor den Armen, die ihren Kindern keine warme Mahlzeit mehr vorsetzen können, den Übermut der Reichen dämpfen. Und so bewirkt der (illegale) Kampf der Armen gegen die Reichen, im nationalen wie im internationalen Maßstab, was die eigentlich dafür zuständigen Einrichtungen der Politik zu bewirken versäumen. Er ist, objektiv betrachtet, ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit.

Im März erscheint im Promedia Verlag der Essay »O Gerechtigkeit«, in dem sich der Autor ausführlich mit dem hier angesprochenen Thema beschäftigt.