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Das Recht ist nicht farbenblind  (Martin Kutscha)

Eine längst überwunden geglaubte »Theorie« feiert in der schwarz-gelben Bundesrepublik ihre Wiederauferstehung: die Totalitarismusdoktrin. Nach dem Koalitionsvertrag zwischen CSU/CSU und FDP sollen die Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus wie zum Beispiel »Vielfalt tut gut« in allgemeine Projekte gegen »Extremismus« umgewidmet werden. Wohlfeile Rechtfertigungen hierfür finden sich schnell: »Das Grundgesetz war nicht nur eine Reaktion auf die totalitären Erfahrungen mit dem NS-Regime, sondern nicht weniger eine Antwort auf die in den Nachkriegsjahren drohende Gefahr des Stalinismus, dessen Schrecken kaum einen Vergleich mit denen des Nationalsozialismus zu scheuen brauchen.« – Nein, diese Erkenntnis stammt nicht aus der Feder von Schäuble, Knabe oder Frau Steinbach, sondern war in einem Leitartikel von Christian Bommarius in der Berliner Zeitung zu lesen. Von diesem Autor ist man eigentlich Klügeres gewohnt. Glaubt er wirklich, daß die kleine KPD in den damaligen Westzonen, für die das Grundgesetz ja gelten sollte, ein stalinistisches Regime hätte errichten können? Ein Blick auf die Sozialisierungsermächtigung in Art. 15 hätte ihn rasch belehrt, daß unser Grundgesetz keineswegs »antiextremistisch«, also farbenblind gegenüber »rechts« und »links« ist.

In seinem Leitartikel schleudert Bommarius geharnischte Kritik gegen eine Institution, die er ansonsten als »Hort rechtsstaatlicher Liberalität« preist, nämlich das Bundesverfassungsgericht. Dieses hat in seinem Beschluß vom 4.11.2009 in der Tat mit der verfassungsrechtlichen Totalitarismusdoktrin aufgeräumt: »Das bewußte Absetzen von der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus war zentrales Anliegen aller an der Entstehung wie Inkraftsetzung des Grundgesetzes beteiligten Kräfte (...), insbesondere auch des Parlamentarischen Rates (...) und bildet ein inneres Gerüst der grundgesetzlichen Ordnung (vgl. nur Art. 1, Art. 20 und Art. 79 Abs. 3 GG). Das Grundgesetz kann weithin geradezu als Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes gedeutet werden und ist von seinem Aufbau bis in viele Details hin darauf ausgerichtet, aus den geschichtlichen Erfahrungen zu lernen und eine Wiederholung solchen Unrechts ein für alle Mal auszuschließen.« (Die Entscheidung ist unter www.bverfg.de abrufbar.) Auf dieses Faktum haben Wolfgang Abendroth und seine Schüler (auch der Verfasser dieser Zeilen) schon in den 1970er Jahren hingewiesen. Gehör bei der höchsten Instanz zur Auslegung der Verfassung haben sie offenbar erst jetzt gefunden – immerhin ein später Triumph.

Was hat das Bundesverfassungsgericht zu diesen klaren Feststellungen bewogen? Es mußte in seiner Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des erst im Jahre 2005 geschaffenen Straftatbestands gegen die Verherrlichung der NS-Gewalt- und Willkürherrschaft (§ 130 Abs. 4 Strafgesetzbuch) befinden. Tatsächlich schränkt diese Norm ein Stück weit die Meinungsfreiheit ein. Das Bundesverfassungsgericht erklärte, dies sei ein eng begrenztes »Sonderrecht«, das nur vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und der entsprechenden Ausrichtung des Grundgesetzes gerechtfertigt und verfassungsmäßig sei.

Die Frage, ob mit der Verschärfung von Strafrechtsnormen ein wirksamer Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Neonazismus geleistet wird, ist damit freilich noch längst nicht beantwortet. Die weite Verbreitung rechtsgerichteter, rassistischer und fremdenfeindlicher Einstellungen hat schließlich gesellschaftliche Gründe, und die herrschende Politik trägt einen großen Teil der Verantwortung dafür. Neue Rechtsnormen zur »Bekämpfung des Rechtsextremismus« können da leicht eine Alibifunktion erfüllen: Die Vertreter der Regierungsparteien können sich entspannt zurücklehnen, weil man ja alles Notwendige gegen den Rechtsextremismus getan habe. Eine wirksame Politik gegen Neonazismus sieht freilich anders aus. Ihr Schlüssel liegt, wie zum Beispiel. eine umfangreiche Untersuchung im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (Oliver Decker u. a.: »Ein Blick in die Mitte«) überzeugend nachgewiesen hat, letztlich in einer umfassenden Demokratisierung der Gesellschaft.