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Titel216

Seit Jahrhunderten ausgegrenzt  (Annette Groth)

Mit fast zwölf Millionen Angehörigen sind die Sinti und Roma die größte Minderheit in Europa. Seit vielen Jahrhunderten werden sie ausgegrenzt, diskriminiert und Opfer rassistischer Gewalt. In nahezu allen europäischen Ländern müssen viele in Armut, Ausgrenzung und unter menschenunwürdigen Zuständen leben. Schon in einer Studie der Europäischen Grundrechteagentur aus dem Jahr 2009 berichteten 47 Prozent der befragten Angehörigen der Roma-Gemeinschaften, dass sie im zurückliegenden Jahr mindestens einmal Opfer von Diskriminierungen geworden seien.

Auch in Deutschland: Antiziganismus weit verbreitet
Die Studie »Zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung – Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma«, die vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin 2014 vorgelegt wurde, zeigt, dass ein großer Teil der deutschen Bevölkerung Sinti und Roma nicht als gleichberechtigte BürgerInnen wahrnimmt. Ein Drittel der Befragten empfindet Sinti und Roma als Nachbarn »sehr oder eher unangenehm«. Roma und Sinti bewegen sich damit als Bevölkerungsgruppe am unteren Ende der Sympathieskala. Ihnen wird unterstellt, dass sie aufgrund ihres Verhaltens selbst an dieser Ablehnung schuld seien. 50 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung halten »Einreisebeschränkungen« für Angehörige der Roma-Gemeinschaften für richtig.


Um die schnelle und fast ohne gesellschaftlichen Protest beschlossene Konzeption der »sicheren Herkunftsstaaten« zu verstehen, müssen diese weit verbreiteten Ressentiments gegen Angehörige der Roma berücksichtigt werden. No-border-Initiativen sowie die Antirassismus- und die Flüchtlingsbewegung konnten keinen spürbaren Widerstand gegen die Durchsetzung der »sicheren Herkunftsstaaten« entfalten.


In der Diskussion über Migration und Flucht hat sich die Mär weiter verfestigt, dass AsylbewerberInnen aus den Westbalkanländern »keine wirklichen Flüchtlinge« seien. Deshalb dürfe man sie schnell abschieben. Bösartig wird von »Asylmissbrauch« oder »Wirtschaftsflüchtlingen« gesprochen. Betrachtet man jedoch die reale Lage der Geflüchteten, zeigt sich überdeutlich, dass es sehr reale Fluchtgründe gibt.


So waren im ersten Quartal 2015 etwa ein Drittel der Geflüchteten aus der Balkan-Region Angehörige der Roma-Minderheit. Ihre Herkunftsländer werden immer wieder vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und selbst vom Europarat für systematische Diskriminierung der Roma kritisiert, da Roma häufig in Slums, teils ohne Strom und fließendes Wasser, leben müssen.


In Serbien sind Roma-Siedlungen oft nicht in den Katasterämtern verzeichnet, was dazu führt, dass Roma-Kinder keine offiziellen Dokumente erhalten und darum oft Probleme haben, Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erlangen. In Bosnien-Herzegowina sind nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch bis zu 99 Prozent der Roma arbeitslos.


Mit dem Konzept der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten haben die Regierungen der EU-Staaten die Abschaffung des Rechts auf Asyl für ganze Regionen beschlossen. Sie ignorieren dabei bewusst die reale Verfolgungslage der Roma in den Balkanländern. Nach Ansicht der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag verstößt das Konzept der »sicheren Herkunftsstaaten« gegen internationales Recht.


Von Januar bis November 2015 wurden in Deutschland 425.025 Erstanträge auf Asyl gestellt. Davon entfielen auf Syrien 136.270, auf den Kosovo 36.550, auf Albanien 52.850, auf Serbien 25.970, auf den Irak 26.270 und auf Afghanistan 26.740. Zusätzlich wurden 13.580 Erstanträge von Menschen aus Mazedonien gestellt. Bis November 2015 erkannten deutsche Behörden aus Albanien sieben AsylbewerberInnen als Flüchtlinge an, aus dem Kosovo zwölf, Serbien drei und Mazedonien 22. Mit diesen Anerkennungszahlen wird das Konzept der »sicheren Herkunftsstaaten« begründet. Die deutsche Ablehnungsquote von 99,9 Prozent weicht jedoch signifikant von Entscheidungen in anderen Ländern ab.


Wenn heute anhand des Konzepts der »sicheren Herkunftsstaaten« behauptet wird, gerade Roma aus dem Balkan würden nicht verfolgt, ist dies objektiv falsch. So erhielten im Jahr 2014 zum Beispiel etwa 37 Prozent der AntragstellerInnen aus Serbien Asyl in der Schweiz, Finnland gewährte 43 Prozent der kosovarischen Flüchtlinge Schutz. Frankreich und Belgien erkannten jeden fünften Schutzsuchenden aus Bosnien und Herzegowina als asylberechtigt an, Großbritannien stufte 18 Prozent der albanischen Asylsuchenden als schutzbedürftig ein. Dagegen lag die Anerkennungsquote in Deutschland zwischen 0,3 Prozent (Serbien) und 2,6 Prozent (Albanien).

Beispiel Serbien
Nachdem Serbien im November 2014 als sicherer Herkunftsstaat festgelegt wurde, hat im Juli 2015 der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in einem Urteil entschieden, dass der Gesetzgeber »die Einstufung Serbiens als sicherer Herkunftsstaat genau geprüft« habe. Auch auf Seiten der Judikative wird die faktische Zerstörung des Asylrechts also offenbar unkritisch hingenommen. Weiter heißt es in der Urteilsbegründung, es gebe in Serbien keine staatliche Verfolgung von Roma. Im Einzelfall könne zwar zugunsten des Asylbewerbers entschieden werden, dann müsse er aber schlüssig nachweisen, dass ihm in Serbien die Verfolgung drohe.


Pro Asyl zeichnet hingegen ein anderes Bild von der Situation der Roma in Serbien: »Wir haben informelle Siedlungen gesehen, deren ›Häuser‹ nur aus Sperrmüll und Pappe bestanden. Wir haben städtische Roma-Siedlungen gesehen, die seit Jahren nicht ans öffentliche Abwassernetz angeschlossen werden. Immer wieder wurde uns über die Verweigerung der Zuzahlungsbefreiung von Medikamenten für chronisch Kranke berichtet – ein sozialrechtliches Detail von oft lebensbedrohlicher Bedeutung. Wir haben gesehen wie durch eine aufwändige und kostenintensive flächendeckende Versiegelung der öffentlichen Abfalleimer in Belgrad Müllsammelnden ihre Lebensgrundlage entzogen wird.« Roma haben davon berichtet, dass sie immer wieder »körperlichen Angriffen und Beleidigungen bei rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind, und dass eine polizeiliche Strafverfolgung praktisch nicht stattfindet« (www.proasyl.de).


Dass Roma in Serbien und vielen anderen Staaten Osteuropas massiv rassistisch diskriminiert werden, ist nicht neu. Offizielle Berichte, wie der des UNO-Komitees zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung oder des Menschenrechtskommissars des Europarats sowie zahlreiche Berichte von Nichtregierungsorganisationen belegen die systematische Ausgrenzung der Roma, die lebensbedrohliche Armut zur Folge hat.


Wenn EU-Mitgliedstaaten behaupten, bei Serbien handele es sich um einen »sicheren Herkunftsstaat« werden internationale Abkommen bewusst ignoriert.


In den nächsten Monaten muss es darum gehen, die Festlegung von »sicheren Herkunftsstaaten« deutlich infrage zu stellen und über die reale Lage von geflüchteten Sinti und Roma aus den Balkanstaaten aufzuklären. Die Forderung, alle Abschiebungen von Roma in die Balkanstaaten zu beenden, bleibt weiterhin richtig. Gerade auch aus der Verantwortung der Bundesregierung, die sich aufgrund der Geschichte Deutschlands ergibt, müssen die rassistisch motivierte Politik gegen Roma und die diskriminierende Bezeichnung »Wirtschaftsflüchtling« aktiv bekämpft werden. Eine Lehre aus der Geschichte sollte sein, dass in Deutschland großzügige Kontingente für Roma zur Verfügung gestellt werden, wie dies für Menschen jüdischen Glaubens aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion möglich gemacht wurde.