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Titel219

Nationalverfassungen contra EU-Nationalismus  (Diether Dehm)

Meine vergleichende Untersuchung wichtiger Nationalverfassungen in der Europäischen Union (mithilfe des »Wissenschaftlichen Dienstes« im Bundestag, Az: WD 300 077/16) ergab: Überall, wo der Faschismus geschlagen war, wurden einander ähnelnde »rote Verfassungskeime« (Abendroth) erkämpft. In Italien, wo Alliierte mit antifaschistischen Partisanen die Wehrmacht vertrieben hatten, floss 1947 am konsequentesten die Erkenntnis in die Verfassung ein, von welcher Übermacht aus Mussolinis Faschismus hochfinanziert worden war. Seither »kann das Gesetz bestimmte Unternehmen ... die lebenswichtige öffentliche Dienste ... Energiequellen betreffen oder die eine monopolistische Stellung innehaben ... von Anfang an dem Staate, öffentlichen Körperschaften oder Arbeiter- und Verbrauchergemeinschaften vorbehalten oder auf diese übertragen«. (Artikel 43)

 

Wirtschaftsdemokratisch, wenn auch divers, klingt es überall, wo nationale Arbeiterbewegungen vom Faschismus stranguliert worden waren. Im deutschen Grundgesetz sind in dieser Hinsicht bedeutsam: das Angriffskriegsverbot; die demokratische Gewaltenteilung (die das EU-Recht kaum kennt); die Macht-Begrenzung des Finanzkapitals (dessen terroristischster Flügel, laut Dimitrow, im Faschismus an der Macht war) durch Artikel 14 und 15: »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz ... in Gemeineigentum ... überführt werden« (also Großbanken zu Sparkassen, Wohnungswirtschaft öffentlich rechtlich werden und Ähnliches).

 

Am 20. Juli 1954 präzisierte das Bundesverfassungsgericht »die soziale Marktwirtschaft« – auch für Antiimperialisten reklamierbar (damals bereits gegen die FDP!): »Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche.« Bis heute gilt dies und bleibt, wenn auch verschüttet, dem werktätigen Alltagsbewusstsein »untergemischt«; auch als Verteidigung von Nationalstaatlichkeit und Aversion gegen diese EU. Deren Lissabonvertrag will einzig den »unverfälschten Wettbewerb« als kapitalliberale Wirtschaftsordnung und ist wegen EU-Einstimmigkeitsvorsatz irreversibel. Daher fordert der DGB, wenigstens eine »Sozialcharta« zwischen einzelnen EU-Nationen zu beschließen.

 

Wo scheinprogressive Sprech- und Schreibagenten heute Nationalstaatsgrenzen zerstören wollen, opfern sie unweigerlich und meist wissentlich, was Willy Brandt, Wolfgang Abendroth und Kurt Bachmann unterschiedlich als »linke Lesbarkeit des Grundgesetzes« herausgearbeitet hatten – aber damit auch linke Alltags-Denkpotentiale. Engels formuliert dies als: »Ironie der Weltgeschichte ... Die Ordnungsparteien ... rufen verzweifelt ›diese Gesetzlichkeit bringt uns um‹ ... während wir ... pralle Muskeln ... bekommen ... wenn wir nicht so wahnsinnig sind, ihnen zu Gefallen uns in den Straßenkampf treiben zu lassen, dann bleibt ihnen zuletzt nichts anderes, als selbst diese ihnen so fatale Gesetzlichkeit zu durchbrechen.« (MEW, Band 22, S. 525) Und genau dies tut die EU! Zum Beispiel gegen Streik- und Tarifrecht.

 

Die liberaldemagogische Verwechslung von »Pro-Europa« mit dem EU-Imperialismus zielt vordergründig gegen die antifaschistisch erstrittenen Sozialstaaten in den Nationalverfassungen, denn »der Kapitalismus kolonialisiert die letzte Pore der Lebenswelt« (César Rendueles: »Soziophobie. Politischer Wandel im Zeitalter der digitalen Utopie«, übersetzt von Paul Zelik, Suhrkamp 2690, Vorwort). In Wahrheit aber sollen so die »sozialstaatlichen Stützpunkte« im Alltagsdenken ausgelöscht werden, damit antimonopolistische Aufklärung dort keine nationale Anknüpfung mehr findet: »Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.« (»Manifest der Kommunistisches Partei«, S. 473) Stimmt! Nur in seiner jeweils »nationalen Form« war proletarischer Kampf in seiner internationalen Geschichte jemals erfolgreich, auch gegen reaktionären Nationalpopulismus.

 

Besonders antifaschistisch wurde die portugiesische Nationalverfassung mit der »Nelkenrevolution« 1974. Das portugiesische Staatsgericht stützte sich 2016 auf sie und die Massenproteste und wies erfolgreich die EU-Kürzungsdiktate, etwa bei Lehrer- und Richtergehältern, zurück (»... Unterordnung der wirtschaftlichen Macht unter die demokratische Staatsgewalt«, Art. 81).

 

Während der Ersetzungsphase Rajoys durch die sozialistische Minderheitsregierung war in Spanien wieder vermehrt die Rede vom »Verfassungspatriotismus«: »Die öffentliche Gewalt fördert ... die für den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt und für eine gerechtere Verteilung des regionalen und persönlichen Einkommens günstigen Bedingungen. Ganz besonders betreibt sie eine auf die Vollbeschäftigung ausgerichtete Politik.« (Art. 40 Abs. 1)

 

Die französisch-gaullistische Verfassung konkretisiert (für »jedermann«, nicht nur für Franzosen): »... Rechte und Interessen durch gewerkschaftliche Tätigkeit zu verteidigen ... Jedes Vermögen, jedes Unternehmen, dessen Bereich die Eigenschaft einer nationalen öffentlichen Dienstleistung oder eines tatsächlichen Monopols hat oder erlangt, muss Eigentum der Gemeinschaft werden.« Um 1981 Volksfront-Präsident zu werden, brachte Mitterand – und mit ihm Sozialisten und Kommunisten – diese Passage in aller Munde. Kürzlich wurde sie von »Gelbwesten« wieder hochgehalten.

 

Auch das mit drakonischen Freiheitsstrafen bewehrte »Angriffskriegsverbot« (GG Art. 26) wurde eine Verfassungs-»Idee, die die Massen ergreift«; es wurde sogar zum Wahlplakat. Als nämlich Willy Brandt und die SPD als Friedenspartei 1972 unter der genialen Wahlkampfführung von Albrecht Müller mit 45,8 Prozent das jemals beste Ergebnis einfuhr. Aber: Diese Eingrenzung auf reine Verteidigung (Art. 87a Abs. 2) sowie der Parlamentsvorbehalt (Art. 24) gegen jeglichen Militäreinsatz müssten einem noch freieren EU-Imperialismus geopfert werden, würde hier nationales Recht in EU-Standards übergehen.

 

In den EU-Wahlkampf mit ausgeleiertem Phrasenfrohsinn (»solidarisch, menschlich ...«) zu ziehen, ginge an den realexistierenden Vorbehalten der Werktätigen aller europäischen Nationen gegen die EU vorbei. Es dürfte zwar kurz innerparteiliche Konflikte erlahmen. Aber auch Wählerschaft! (Wolfgang Fritz Haug: »Der hilflose Antifaschismus«, Suhrkamp, 1967). Wo die Linke die oben aufgeführten, nur nationalstaatlich absicherbaren Vergewisserungen vernachlässigt, tritt sie auch das damit verbundene Alltagsdenken kampflos ab: an kapitalliberale Mediendemagogen. Somit auch an die AfD.