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Titel219

Bemerkungen

Urzeit

Lassen wir die Wissenschaft einmal beiseite. Da kenne ich mich nicht aus. Reden wir über Science-Fiction, ein wenig Wissenschaft ist da ja auch dabei. Gut, ich gebe zu: ein ungewöhnliches Thema für Ossietzky. Aber, vielleicht kennt der eine oder die andere Geschichten wie »A Sound of Thunder« von »Fahrenheit 451«-Autor Ray Bradbury, »Ein Donnerschlag« auf Deutsch (in der Übersetzung von Andrea Kamphuis und Fredy Köpsell).

 

Mit einer Zeitsafari ist es möglich, in jedes Jahr der Vergangenheit zu reisen. Es gibt jedoch strenge Vorschriften, bei deren Missachtung drakonische Strafen drohen. Und es gibt Metallpfade, die sich durch die grüne Wildnis prähistorischer Dschungel erstrecken, 15 Zentimeter über der Erde schwebend, weder Grashalm noch Blume noch Baum noch einen anderen lebenden Organismus berührend. Damit niemand und nichts mit der Vergangenheit in Kontakt kommt, etwas zerstört – und sei es einen Halm, eine Raupe – und dadurch die Evolution und somit die Zukunft verändert so dass kein »Schmetterlingseffekt« auftritt, jenes Phänomen aus »nichtlinearen, dynamischen, deterministischen Systemen«, das aus »beliebig kleinen Änderungen der Anfangsbedingungen« langfristige Änderungen in der Entwicklung des Systems zur Folge hat. Zugespitzt von Edward N. Lorenz auf die Frage: »Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?« (Quelle der letzten Zitate: Wikipedia).

 

Lassen wir jetzt die Science-Fiction beiseite. Ich hoffe, der Gedankengang war verständlich. Kommen wir in die Realität dieser Tage. In Danzig wird Paweł Adamowicz ermordet, der Bürgermeister. Zur Beerdigung reist auch Carsten Sieling (SPD) an, Bürgermeister der Hansestadt Bremen. So weit, so klar.

 

Zeitgleich (Achtung: Schmetterlingseffekt) findet in Bremen das Eiswettfest statt, seit 1828 nun schon. Da wetten dann Männer (Männer!) bis zum 6. Januar eines jeden Jahres, ob die Weser zufriert oder nicht. Zwei Wochen später wird geprüft, wer Recht hatte: im Rahmen des schon erwähnten Festes, bei dem Spenden für wohltätige Zwecke eingesammelt werden.

 

Weil aber der Bürgermeister im fernen Danzig weilt, soll seine Stellvertretung das tun, was nun mal ihre Aufgabe ist: ihn dabei vertreten. Doch dies ist, horribile dictu, eine Frau, nämlich die Finanzsenatorin der Hansestadt. Und sie hat in dem Männerclub, der sich überheblich »Herrenclub« nennt, nichts zu suchen. Off limits, und das wenige Tage nach dem Jahrestag von »100 Jahre Frauenwahlrecht«.

 

Frau Senatorin: Ich empfehle den Hähnen die Hähne zuzudrehen, falls die Bagage öffentliche Mittel welcher Art auch immer erhält. Und ihnen eine Zeitreise anzubieten, zurück zu den Dinosauriern.  

 

Klaus Nilius

 

 

Entlastung der Täter

Am 11. November konnte man das sogenannte Friedenskonzert der Wiener Philharmoniker aus Versailles im Radio hören, auf NDR Kultur. Seltsame Töne gab es jedoch in der Moderation. Da wurde vom Ersten Weltkrieg wiederholt als von einer »Tragödie« gesprochen. Doch war dieser Krieg ein Schauspiel, war er unausweichlich, ist er auf ein Scheitern zurückzuführen? Gab es scheiternde Helden? Fehlanzeige. Keines der wesentlichen Merkmale einer Tragödie ist erkennbar.

 

Kein unentrinnbares Verhängnis also, sondern bekanntlich ein großes Verbrechen, das mit den Kriegserklärungen Österreich-Ungarns an Serbien (28.7.1914) und des Deutschen Kaiserreiches an Russland (1.8.) und an Frankreich (3.8.) begonnen wurde und durch die Verletzung der Neutralität Belgiens auch Großbritannien hineinzog. Spätestens in den Massenerschießungen belgischer Zivilisten und der Brandschatzung von Leuven enthüllte sich der Charakter der deutschen Kriegsführung zur Kenntlichkeit.

 

Gekrönt wurde die Moderation schließlich von der Formulierung, als Folge des Friedensvertrages von Versailles »kam es zum Zweiten Weltkrieg«. Der Krieg ein Naturereignis ohne Subjekt?

 

Wer also war für diesen hanebüchenen Moderationstext verantwortlich? Aufschluss gab eine Mail an den NDR, weitergeleitet an hr2 kultur. Antwort von dort: Der Text sei von der European Broadcasting Union (EBU) verfasst und ins Deutsche nur übersetzt worden. Verantwortlich ein Brite, der vorher bei der BBC war.

 

Da haben also höfliche Menschen bei der EBU eine gegenüber den Kriegsverursachern versöhnliche Moderation geschrieben – und nach der Übersetzung kommt ein Text heraus, der in Deutschland und Österreich der Selbstrechtfertigung der für diesen Krieg verantwortlichen Staaten und ihrer damaligen Herrscher dient nach dem Motto: »Jetzt ist Frieden, und Schwamm über die Schuldfrage.« Wie überaus bequem für die ARD, sich hinter der EBU verstecken zu können – und nicht genötigt zu sein, eine eigene Moderation zu verfassen, die der deutschen Verantwortlichkeit für diesen Krieg angemessen Rechnung trüge!

 

Muss noch angemerkt werden, dass in Versailles am 11.11.2018 zwar Werke von österreichischen, deutschen, englischen, französischen und US-amerikanischen Komponisten aufgeführt wurden, aber russische oder gar serbische Komponisten keine Berücksichtigung fanden? Festliche Versöhnung unter heutigen NATO/EU-Partnern – und für die ersten Angegriffenen des Krieges ist kein Platz auf der Agenda. Honi soit qui mal y pense?          

                   

Kai-Bernd Garesee

 

 

»Der Schoß ist fruchtbar noch ...«

Als vor 40 Jahren im Januar 1979 in den dritten Programmen der ARD erstmals in der Bundesrepublik die vierteilige amerikanische Fernsehserie »Holocaust« gezeigt wurde, löste das einigen Wirbel aus. Bereits im Vorfeld gab es Proteste und Drohungen gegenüber den Verantwortlichen des Fernsehens. Manche hielten die Verfilmung unbesehen für unwahr, andere wollten das Thema besser weiter totschweigen. Vor allem gab es große Empörung darüber, dass es die US-Amerikaner waren, die den Deutschen den Spiegel über ihre eigene Geschichte vorhielten. Dabei war die Zeit mehr als reif. In der BRD gab es bis dahin zu dem Thema verschiedene Veröffentlichungen und Darstellungen, die doch eher auf Dokumentationsebene umgesetzt worden waren. Die fiktive, aber faktenbasierte Darstellung in Form eines mehrteiligen Filmes anhand des Schicksals der jüdischen Familie Weiß war ein Novum. Es sollte sich zeigen, dass genau dieser Weg dafür sorgte, eine große Zuschauerzahl zu erreichen. Plötzlich war die Unmenschlichkeit des nazistischen Systems ein Gesprächsthema an vielen Orten. Auch in der DDR wurde die Serie mit regem Interesse aufgenommen, wenn auch nicht in der Presse diskutiert. Für manchen war es in der Bundesrepublik die erste Konfrontation mit der systematischen Ausrottung europäischer Juden durch die Nazis. Junge Leute, die davon in der Schule nie etwas gehört hatten, stellten plötzlich Fragen an die Generation, der die Täter entstammten. Wie konnte es dazu kommen, dass in Europa fünf bis sechs Millionen jüdische Mitbürger in der Zeit von 1941 bis 1945 systematisch ermordet worden waren? Man hatte sie nach Theresienstadt, Belzec, Sobibor, Treblinka und nicht zuletzt nach Auschwitz verschleppt. Allein dort kamen im Lager Birkenau zwischen 900.000 und 1,1 Millionen Menschen um. Das, was die Nazis zynisch »Endlösung der Judenfrage« nannten, machten sie mit großer Präzision und Gründlichkeit. Dabei darf nicht vergessen werden, dass in Deutschland die Judenverfolgung bereits kurz nach dem Machtantritt der Faschisten im Jahr 1933 begonnen hatte. Zunächst wurden jüdische Mitbürger drangsaliert (etwa am 1. April 1933, dem landesweiten »Judenboykott«-Tag), dann sukzessive aus dem öffentlichen Leben durch Entfernung aus Ämtern, Schulen und Unternehmen verbannt. Den Höhepunkt bildeten in dieser Phase die Pogrome am 9. November 1938, in deren Folge fast anderthalb Tausend Synagogen brannten und mehrere hundert Menschen gewaltsam den Tod fanden. Auch die Nazimordaktion T 4 – die Ermordung von psychisch und physisch Kranken – bildete eine solche »Vorstufe« dessen, was nazistischer Ungeist einst »Vernichtung lebensunwerten Lebens« nannte. Die BRD hatte zum Zeitpunkt der Ausstrahlung der später in der dortigen Presse teilweise als »Seifenoper« bezeichneten Fernsehserie inzwischen zwar den ersten und zweiten Auschwitz-Prozess in Frankfurt/Main (1963 bis 1966) erlebt, und seit 1975 saßen ehemalige Aufseher – Männer und Frauen des Lagers Majdanek – in Düsseldorf auf der Anklagebank, aber die Berichterstattung über diese Verfahren war oft im Alltag untergegangen. Das war nun anders. Die Ausstrahlung bewirkte bei vielen ein Umdenken, löste Scham aus und auch den berechtigten Ruf nach weiterer historischer und juristischer Aufarbeitung. Auch wenn die Serie nicht nur in der bundesdeutschen Presse heftiger Kritik ausgesetzt war, so verfehlte sie nicht ihre Wirkung.

 

Gerade erst wurden die vier Teile des Films nach längerer Pause wieder gezeigt. Eine neu herangewachsene Generation wird sie zum Teil erstmals gesehen haben. An Aktualität hat die Serie nicht verloren – im Gegenteil! Die Warnung vor jeder Form faschistischer Gewaltherrschaft und ihren Folgen ist nach wie vor die moralische Verantwortung aller demokratischen Bürger und Lehre aus der deutschen Geschichte. 

 

Ralph Dobrawa

 

 

Vorkriegsweihnacht

Genossen haben wir dieses Weihnachtsfest. Die Kinder haben wie im Rausch ihre Geschenke ausgepackt. Die knusprig gebratene Ente mit den selbstgemachten Semmelknödeln war noch köstlicher als das Raclette am Vortag. Der Altglascontainer in unserem kleinen Dorf quoll die Tage nach dem Fest über von grünen und braunen Flaschen, in denen noch bis wenige Tage vor dem Fest guter Rotwein auf das Entkorken gewartet hatte.

 

Viele Weihnachten habe ich schon erlebt. Die in meiner Jugend waren geprägt vom erleichtert ausgesprochenen Wort von der »Nachkriegsweihnacht«, die fast wieder so schön sei wie die Weihnachtsfeste »vor dem Krieg«. Sie machte die Tage vergessen, in denen sich die Freude über den warmen Kerzenschein gemischt hatte mit der bangen Furcht um »die an der Front« – ob sie das Paket, das in den Adventstagen auf die Reise nach Osten geschickt worden war, denn auch erhalten hätten, vor allem aber, ob sie noch lebten.

 

Inzwischen gehen wieder Pakete nach Osten – nach Afghanistan und an die sich langsam an die russischen Grenzen vorschiebenden NATO-Garnisonen östlich von Polen. Die fast widerstandslos beschlossenen dramatischen Erhöhungen der Rüstungsausgaben werden sich, wenn ihr Tempo beibehalten wird, noch zu unseren Lebzeiten in einem dritten großen Krieg entladen.

 

Von Kriegs- oder auch Nachkriegsweihnachten redet heute niemand mehr – die Erinnerung an die bangen Nächte der ersten Hälfte der vierziger Jahre beginnt spürbar zu verblassen in diesem Volk. Von Zwischenkriegsweihnachten war nie die Rede – zu stabil schien vor allem dank der besonnenen Stärke des Warschauer Paktes der Friede in den goldenen Jahrzehnten des Kapitalismus.

 

Anderen mag es anders gehen: Ich bekenne, dass sich zwischen Ente und Rotwein und mit bangem Blick auf meine vielen Kinder das Wort von der Vorkriegsweihnacht, die wir genießen durften, immer lästiger in meinem Kopf eingenistet hat.                    

Manfred Sohn

 

 

Berliner Ballhaus

Suzanna & Karsten Troyke, Daniel Weltlinger & Götz Lindenberg: vier aufeinander eingespielte Unterhalter, die Stimmung zu machen verstehen, bis die Balken sich biegen. So erlebt im Berliner Ballhaus in der Chausseestraße am Vorabend zu Weihnachten 2018. Ein sehr anderes, sehr eigenes Weihnachtsprogramm belebte die Bühne: Spottlieder und Spottgedichte komödiantisch dargeboten von der Schönen mit der rauchigen Stimme und dem Sänger mit dem drolligen Hut, den jungenhaften Locken und dem herrlichen Bass. Und stets fiedelte sich der Daniel Weltlinger in ostjüdischer Tradition durchs Programm, ganz wie Chagalls Fiedler auf dem Dach, während Götz Lindenberg das Klavier zum Klingen brachte, dass es eine Lust war. Das sei hier festgehalten, wo doch die Vier seit Jahren schon jedes Weihnachtsfest launig einzuläuten wussten – »schaut her, ihr Leute, so geht's auch!« Was alles die Suzanna, der Troyke, der Weltlinger und der Lindenberg wohl in diesem Jahr wieder tun werden? Und wer sie dann verpasst, hat selber Schuld.

 

Walter Kaufmann

 

 

Peinlich

Lion Feuchtwanger würde sich im Grab umdrehen, wenn er erführe, seine intimen Tagebücher seien der Öffentlichkeit präsentiert. Aber ein toter weltberühmter Schriftsteller kann sich nicht mehr wehren gegen Voyeure und Wissenschaftler, für die allein das jetzt veröffentlichte Buch einen Wert haben dürfte. 1991 bei einer Haushaltsauflösung der Wohnung der letzten Sekretärin Feuchtwangers entdeckt, hat es einige Zeit der Entzifferung und wohl auch Bedenkzeit gebraucht, um die aufgefundenen Teile (es fehlen wichtige Jahre und insgesamt reichen die Aufzeichnungen nur bis 1940) dann doch zu publizieren.

 

Man erfährt, wer zu Besuch war, mit wem Feuchtwanger – wie er schreibt – gevögelt und gehurt hat (und das immens oft!), wie er geschlafen hat, ob das Geld reichte, wann er onanierte oder zu viel trank oder spielte. Alles Details, die das tagtägliche Leben zwar strukturieren mögen, aber es sind stichwortartige Notizen, die Zusammenhänge, Hintergründe beziehungsweise Kommentare und eine tiefere Auseinandersetzung mit der eigenen Person und ihrer Zeit vermeiden. »Ein endloser Reigen männlicher Potenzprotzerei« schreibt Michael Naumann in der Zeit, und ich stimme ihm voll zu: »die peinlichsten und langweiligsten Tagebücher der deutschen Literaturgeschichte«.         

 

Christel Berger

 

 

Lion Feuchtwanger: »Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher«, Aufbau, 640 Seiten, 26 €

 

 

Unsere Zustände

Wer auf ein lahmes Pferd setzt, darf nicht erwarten, dass er gewinnt.

 

*

 

Wenn du in diesem Land keine Lobby hast, treibst du im Wasser dahin wie ein toter Fisch.

 

*

 

Betrachtet man das ganze Unterhaltungsgeschmuse, dann müsste eigentlich die nächste Bundeskanzlerin Helene Fischer heißen.                             

Wolfgang Eckert

 

 

Ossietzky 1/2019: Errata

Im Beitrag von Peter Arlt »Paul Citroen vom Bauhaus« steht: »Schüler Citroen wählte vom Meister Klee die dadaistische Fotomontage ›Metropolis‹, 1923, aus«. Richtig muss es heißen: »Vom Schüler Citroen wählte Meister Klee die dadaistische Fotomontage ›Metropolis‹, 1923, aus.«

 

SBK schrieb irrtümlicherweise in ihrem Artikel »Europa – aus nichtdeutscher Sicht«, das Verfassungsgericht habe sein KPD-Verbot von 1956 jüngst revidiert, es war aber der Historiker Josef Foschepoth, der das Verbot in seiner Studie von 2018 als »verfassungswidrig« bewertete. Die Autorin bedauert ihr Versehen.

 

Red.

 

 

 

Der Bernstein Fritz Weigle

Kostbar wirkt der matt schillernde Bernstein. Welcher Fritz sich so nennt, hat einen Grund.

 

Fritz Weigles/F. W. Bernsteins so zart locker bewegliche Zeichnerhand ruht. Für mich war er der Letzte, der andere befähigen konnte, Weltgetöse und Menschentreiben zeichnerisch treffsicher zu erfassen. Zeitlebens blieb er ein lernend Lehrender. Die Güte seiner Zeichenkunst hielt sich immer die Waage mit einer selten gewordenen menschlichen Güte.

 

Gerade deshalb war er besonders dafür geeignet, erst in Strichlagen und dann zunehmend in Reimspielen (wer kennt nicht: »Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche.«) die Marotten der Mitmenschen aufs Korn zu nehmen. Das ging früh schon los, dass der brave Fritz Weigle als angestellter Lehrer ganz eigene Seitenwege einschlug. Der 1938 im tiefsten Schwaben Geborene startete 1964 als rotzfrecher Satiriker bei der Zeitschrift Pardon in Frankfurt am Main voll durch. Und befand sich mit Robert Gernhardt und F. K. Waechter in bester akademisch gebildeter Gesellschaft. Mit Hans Traxler und Chlodwig Poth wurde aus der Dreierbande eine Fünferkorona absoluter Sonderklasse – »Neue Frankfurter Schule« genannt. Sie stand für politisch linke Positionen und künstlerische Intentionen in der alternativen Publizistik.

 

Nach Übergang von Pardon zu Titanic wurde die redaktionelle Bindung lockerer. Schon allein die Verpflichtung als Hochschullehrer für »Komische Zeichenkunst« (ja, so etwas gab es mal!) ergab das. Sie führte ihn über Göttingen nach Westberlin. Das begünstigte 1990 den denkbar engen Kontakt zur Kollegenschaft der Ostseite der fallenden Mauer. Wir verstanden uns auf Anhieb so prachtvoll, dass mit Manfred Bofinger sogar ein längerer zeichnerischer komischer Briefwechsel zu Buche schlug.

 

Seit am 20. Dezember die böse Adventsüberraschung der Todesnachricht kam, wissen wir, dass die komische Zeichnerszene nun wieder um einen Kopf und eine Hand von Bedeutung ärmer ist. Dazu ausgerechnet desjenigen, der jahrelang noch Talente gegen die zunehmende zeichnerische Verödung der Medienlandschaft auf den Weg brachte. Schon allein durch das Beispiel der handschriftlich und handzeichnerisch inspirierten Variante. Denn die bürgt für die Lebendigkeit der Aussage, die Menschen erreicht. Die Unmittelbarkeit der saloppen Rede und Zeichensprache – wo finden wir sie heute so sympathisch? Seit die einst flotte Schreibe von Axel Hacke und Harald Martenstein zunehmend vom Ernst des Lebens ein- und überholt wird, gibt es das kaum noch. Wobei Bernsteins Neigung, Politisches zu kommentieren, am Ende gegen Null ging. Der Abgesang aller »Neu-Frankfurter Schulgänger« war halt von verhaltener Komik gesättigte Zurückhaltung.

 

Inzwischen wetteiferten die Nachrufer wichtiger Gazetten im Nachholen einer Hochachtung eines stets bescheiden Hintergründigen. Bernstein war uns chronisch unbeachteten Satirikern des Ostens nahe. Sein Verständnis von Menschenbeobachtung und literarischem Feinsinn war uns vertraut. Freundlichkeit muss nicht immer gleich zu Freundschaft werden. Bei ihm gab es da keine Grenze. Berühmte Namen von Goethe ab- und aufwärts veralberte er wiederum äußerst respektlos. Da kam seine intime Nähe zu ihnen zum Vorschein. Unter Kumpeln hat man da keine Hemmungen. Das und manches andere an und von Bernstein wird uns fehlen.

Harald Kretzschmar

 

 

Klüfte

Die Welt der Toten hat nichts mit der Welt der Lebendigen zu tun …

 

Aber sie drängen sich herein, obwohl die Tür hermetisch verschlossen sein soll. Hermetisch, luft- und wasserdicht abgeschlossen. Siehe: Hermes legt den Finger auf den Mund, er verschweigt die göttliche Weisheit und führt die Seelen der Toten in die Unterwelt, psychopompos. Manchmal macht er Umwege.

 

Wuppertal. Elberfeld plus Barmen, seit 1930. »Ich suche allerlanden eine Stadt / Die einen Engel vor der Pforte hat …«

 

Oberbarmen. Die Wupper. Die Stadt im engen Talkessel. Der Schneefall lässt nach. Hauptbahnhof Wuppertal. Der Vorplatz ist aufgewühlt. Flüche, die etwas rheinisch klingen und darum nicht bösartig. Die meisten Passanten sind aber schweigende, arabisch aussende Ausländer, mit Rauchen beschäftigt. Nicht einmal die Kinder sind laut. Wuppertal ist eine Stadt der Fremden. Else Lasker-Schüler muss es ähnlich empfunden haben. Schneematsch auf den Gehwegen. Autos spritzen hohe Fontänen.

Der Winterdienst beginnt allmählich mit der Arbeit. Möglicherweise ist sie genau hier entlanggekommen: Döppersberg, Schloßbleiche, Wall, Herzogstraße, Kasinostraße.

 

Nur wenige Besucher an diesem Vormittag in der Bibliothek. Nicht einmal alle Mitarbeiter konnten infolge des Schneefalles pünktlich zum Dienst erscheinen.

 

Im Armin-T.-Wegener-Zimmer: Paul Zech, Else Lasker-Schüler. Eine Postkarte an Trakl: »Lieber Dichter und Herr von Thyrol, ich schreibe morgen einen Brief … Bleiben Sie in Innsbruck? Wie ist es dort? Ich war mal in der Schweiz.«

 

In der Schwebebahn, die sie auch gesehen hat. Fahrt vom Hauptbahnhof nach Oberbarmen. Unten die Wupper. Schnee am Ufer. Die Wupper schnell, erdig an diesem Tag.

 

Döppersberg, Hauptbahnhof. Das Café besetzt inzwischen, erfüllt von Gesprächen, die Fremdheit nur verstärken. Doch wo Heimat suchen? »O Gott, schließ um mich deinen Mantel fest; / Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest …«                             

 

Albrecht Franke

 

 

Der Text ruft auf: »Gebet« aus Else Lasker-Schüler: »Gedichte und Prosa« Gustav Kiepenheuer Verlag Weimar, [Gustav-Kiepenheuer Bücherei, Bd. 29] Seite 39. Die Postkarte von Else Lasker-Schüler an Georg Trakl wird aufbewahrt in der Stadtbibliothek Wuppertal: /A 303/ Trakl, Georg/ Postkarte / Berlin /11.4.1914.

 

 

Ein aufregender Jahresbeginn

Man will es einfach nicht glauben …, aber das neue Jahr begann mit einigen Paukenschlägen. Ich meine nicht den angeblich massiven Hackerangriff auf Politiker und Prominente oder den Streik der Geldtransport-Dienste. Nein, die sozialen Medien hatten ganz andere Aufreger. Spitzenreiter war die Trennung von Florian Silbereisen und Helene Fischer nach zehn Jahren. Was im Leben mitunter etwas ganz Normales ist, wird im deutschen Boulevard die Schlagzeile des Jahres. Und so hatten sich viele Fans sicher mehr als nur eine vorweihnachtliche Träne abgerungen. Doch mit dem neuen Jahr begann die Gerüchteküche bei Instagram & Co. erst richtig zu brodeln, und Ruhe ist noch nicht in Sicht.

 

Dann leistete sich Bayern-Star Franck Ribéry mit seinem Gold-Steak und seinem anschließenden Instagram-Post einen üblen, ja beleidigenden Ausraster, dass sich sogar der FC Bayern zu einer hohen Goldstrafe veranlasst sieht. Ach ja, auch einige grüne Politiker waren gleich zu Beginn des Jahres in Fettnäpfchen getreten. Cem Özdemir postete kuriose Neujahrsgrüße aus den südamerikanischen Anden, Katharina Schulze unterlief mit ihrem Kalifornien-Urlaubsfoto eine Plastik-Panne und Katrin Göring-Eckardt bewies, dass sie in der Schule beim Mathe-Unterricht geschlafen hat, was im Netz einen Shitstorm auslöste.

 

Nun verstehe ich nicht, warum Prominente und Politiker in den sozialen Medien ihr Privatleben ausbreiten müssen. Letztlich ist es doch nur Selbstvermarktung – ohne den möglicherweise kritischen Filter der Medien und der Journalisten. Aber gleichzeitig muss ich den Kopf schütteln über die millionenfache Aufregung.             

Manfred Orlick

 

 

Zuschriften an die Lokalpresse

Der Pulverdampf heizte die Dieseldebatte an, der Raketenschrott vergammelte noch tagelang im Rinnstein, und die Notärzte konnten ihr chirurgisches Repertoire erneut erweitern. Es gab – wie immer in der grellbunten Silvesternacht – Schlägereien und pyrotechnische Straßengefechte. Inzwischen sind die salbungsvollen Bundesreden verklungen, die Predigten zelebriert, und selbst der Papst hat die Heuchler in seiner Kirche aufgefordert, sich besser als Atheisten zu outen. Und Alexander Gerst hat sich bei der jüngeren Generation entschuldigt und der planetarischen Menschheit einiges zu bedenken gegeben, bevor er sich aus seiner schützenden interplanetarischen Kapsel wieder auf die angebrannte Erde fallen ließ. Das Fazit: Aus dem verqueren Jahr 2018 sind wir raus, in dem nicht sehr hoffnungsvollen Jahr 2019 sind wir drin. Zeit und Gelegenheit, sich über die Neuerungen zu informieren, die dem Bundesbürger das Leben erleichtern werden. Dazu gehören einige tarifliche Verbesserungen, errungen durch Streiks, die einen erheblichen Teil der Fluggäste zu fröhlichen Wartegemeinschaften zusammenführten; eine weitere Verheißung auf dem Wege der forteilenden 30-jährigen Rentenangleichung und die Entscheidung, dass die Deckel- und Schraubverschlüsse von Gläsern und Flaschen nicht mehr abgedreht werden müssen, bevor die ausgedienten Behälter in die Container entsorgt werden. Das kommt uns Rentnern mit unseren gichtklammen Fingern entgegen. Auch die bevorstehenden Beschlüsse über den Abschuss denkmalgeschützter Wölfe geben uns Senioren bei Waldspaziergängen größere Sicherheit. Welche Lichtblicke angesichts der kaum noch überblickbaren Weltlage, der britischen Brexit-Katastrophe, der USA-Gemengelage zwischen Republikanern und Demokraten und der bevorstehenden Wahlgänge in bundesdeutschen Landen! Unter diesen Umständen sind auch die Erhöhung der Bestattungsgebühren und die »bodennahe Pflege« von Patienten in der Klinik Niederlausitz (siehe BZ vom 3.1.19) zu verkraften! Meine Vorsätze für 2019 ergeben sich vor allem aus den nicht eingelösten des Vorjahres. Und noch eine Erinnerung: Als 12-Jährigen beeindruckte mich in der Neujahrsaufführung meines heimatstädtischen Stadttheaters »Peterchens Mondfahrt«. 70 Jahre später ist es die chinesische Landung auf der schattigen Rückseite des Mondes. Wenn das kein großer Sprung ist. – Manfred Möchtegern (83), Rentner, 16775 Großmutz

 

*

 

»Der Winter kennt kein Erbarmen«, titelte der Berliner Kurier am 9. Januar, nachdem die Wetterprognosen zuvor nur nieselnden Regen und stürmischen Wind angekündigt hatten. Aber so ist das nun einmal: Die Welt verändert sich, und auf politische und meteorologische Erscheinungen muss die Presse ebenso reagieren wie auf individuelle Befindlichkeiten. Wenn die Journaille irgendetwas Spektakuläres erfahren hat, muss sie sich knallhart dazu äußern. Deshalb sind in derselben Ausgabe auch die Speisegewohnheiten einiger Promis dran. So wird offengelegt, dass sich Hummer, Gänsestopfleber und Spitzenweine bei Frau Wagenknecht, Herrn Steinbrück und Herrn Schulz großer Beliebtheit erfreuen. Manne Mustermann und andere sollten sich einen Schluck und eine Scheibe davon gönnen. Ich finde das gut und richtig, zumal zurzeit in den Medien häufig die Bedeutung einer gesunden Ernährung für das Wohlbefinden hervorgehoben wird. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder nur das genießen würde, was ihm schmeckt! Gibt es außer diesen Beispielen noch weitere Empfehlungen? Mich interessiert auch, ob die Gourmet-Interessen für Mitglieder anderer Parteien ebenfalls repräsentativ sind. Und gibt es größere Unterschiede zwischen den Bundesländern? Bestehen schon EU-Standards? – Maledivia Schmatzler-Magerfeld (45), Veganerin, 99441 Vollradisroda-Döbritschen

 

Wolfgang Helfritsch