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Titel220

Ein Jude – unschuldig?  (Monika Köhler)

 

Der Anfang: eine Zeremonie der Entehrung. Ein kleiner Trupp Soldaten marschiert über einen riesigen leeren Platz, gesäumt vom gesamten Regiment, kein Platz ist leer. Hinter Zäunen gaffende Zuschauer. Die Schritte hallen in die Stille, die vom Regimentskommandeur unterbrochen wird. Vom Pferd aus verliest er das Urteil des Kriegsgerichts: Verbannung und militärische Degradierung. Hauptmann Alfred Dreyfus, verurteilt wegen Landesverrats und Spionage für Deutschland. Dreyfus – ihm wird alles abgerissen, was ihn zum Hauptmann machte, die Insignien, sogar die Knöpfe, der Säbel zerbrochen. Sein Gesicht spiegelt Aufruhr: »Soldaten, man entehrt einen Unschuldigen«, ruft Dreyfus. Von den Zäunen tönt es »Lump«. Aus den Reihen der Offiziere, die Dreyfus mit dem Fernglas observieren, die Frage: »Wie sieht er aus?« Die Antwort: »Wie ein jüdischer Schneider, der den Preis der Goldtressen abschätzt.« Dreyfus war der einzige Jude im gesamten Generalstab.

 

So beginnt Roman Polanskis Film »Intrige«, der ab 6. Februar in Deutschland gezeigt wird, Länge 132 Minuten. Das Drehbuch verfasste er gemeinsam mit dem Autor Robert Harris, der vorher einen Roman über das Thema geschrieben hat. Der Film erhielt 2019 in Venedig den großen Preis der Jury. In den Hauptrollen: Louis Garrel (Dreyfus), Jean Dujardin (Marie-Georges Picquart, Leiter der Inlandsspionage-Abteilung) und Emmanuelle Seigner (Pauline Monnier, Geliebte von Picquart).

 

Der Film – ein Historiendrama – führt uns in die Welt des Militärs mit deren eigenen Riten und Normen. Für Zivilisten exotisch. Das Volk bleibt draußen, rebelliert oder applaudiert an den Zäunen, auf der Treppe zum Gericht. Die Ehre ist das Wichtigste für Offiziere. Und das Erfüllen der Pflicht, das Handeln auf Befehl – auch wenn der kriminell ist. Vertuschen, aber ohne Aufsehen. Der allgegenwärtige Antisemitismus durchzieht den Film, der die Zeit um 1900 beschreibt. Alles stimmt wunderbar: das Interieur, alte Gerätschaften, Telefon, Fotoapparate, wobei die Arbeit des Geheimdienstes oft an die Gegenwart erinnert, etwas primitiver, gewiss, Briefe über Dampf geöffnet, Beobachtung mit Fernrohr. Die Akten mit Schleifen zusammengebunden. Alles düster und verstaubt. Der neue Chef des Nachrichtendienstes Marie-Georges Picquart versucht immer wieder, die Fenster aufzureißen, vergeblich. Antisemit auch er, der den verurteilten Juden Dreyfus später für unschuldig halten wird. Warum erfahren denn die Deutschen noch immer Geheimnisse, obwohl der als schuldig Verurteilte auf der Teufelsinsel in Französisch-Guayana festgehalten, ja in Eisen gelegt wird?

 

Es beginnt ein akribisches Recherchieren, was ihn in den Augen seiner Vorgesetzten selbst belastet. Ein Besuch bei seinem Vorgänger im Amt, Oberst Sandherr, der krank im Bett liegt. Der übergibt Picquart eine Liste mit den Namen von 100.000 potentiellen Verrätern, die im Kriegsfall zu internieren sind – Ausländer vor allem. »Die Juden sind da noch nicht drin«, stellt er lakonisch fest. Er spricht von »Entartung, die sich durch unser Land zieht«. Das alles ist normal – damals? Briefe, ein Telegramm, das nicht abgeschickt wurde – alles manipuliert als Beweise. Da sitzen sie im pittoresken Gebäude des Nachrichtendienstes und versuchen, zerrissene Briefe zusammenzusetzen. Dem Zuschauer kommt so etwas bekannt vor. Wer ist die »Kanaille D«? Das kann doch nur Dreyfus sein. Es ist ein Mann namens »Dubois«, ein Drucker, der verschiedene Sprachen spricht. Als Picquart seinen Vorgesetzten General Gonse im Urlaub besucht, er den Satz auszusprechen wagt, Dreyfus sei unschuldig, muss er hören, wie unwichtig das ist. »Was kümmert Sie es, wenn ein Jude auf einer einsamen Insel hockt?« Er solle schweigen. Das ist ein Befehl. Der wird missachtet. Der Brief, der aus dem Papierkorb des deutschen Militärattachés in Paris gefischt und von der Putzfrau weitergegeben wurde, in einer Kirche hinterlegt, er stammt von dem Major Ferdinand Walsin-Esterházy, der später auch angeklagt und freigesprochen wird, freigesprochen!

 

Auch Picquart bekommt eine Anklage und eine Versetzung in nordafrikanische Garnisonen. Seine Wohnung wird durchsucht. Wieder zurück in Frankreich nimmt er an einer geheimen Zusammenkunft teil, wo er den Herausgeber der Zeitung L´Aurore und Émile Zola trifft. Den hat vor allem der Freispruch Esterházys zu seinem berühmten Aufruf »J´Accuse« in der L´Aurore gebracht, der am 13. Januar 1898 erschien. Er klagte alle Offiziere, Generäle an, nannte ihre Namen – dafür wurde auch er verurteilt zu einem Jahr Gefängnis. Alle haben seinen flammenden Appell gelesen. Die Reaktion: brennende Scheiterhaufen, Zeitungen, Bücher, »Tod den Juden«-Rufe und Schmierereien an Geschäften.

 

Picquart hat nicht gegen die Judenfeindschaft gekämpft, nein, er wollte nur »unsere Ehre anders als mit blindem Gehorsam verteidigen«, bekennt er. »Blinder Gehorsam«, das bezieht sich vor allem wohl auf Major Henry, auch Mitglied des Generalstabs, der nur tun will, was ihm gesagt wird: »Wenn ich jemand erschießen soll, tue ich es.« Er beschuldigt im Prozess Picquart, obwohl er selbst der Fälscher ist. Es endet im Fecht-Duell. Henry wird verletzt. Auch er wird verhaftet, er hat die Fälschung nun zugegeben.

 

Picquart sitzt draußen im Café. Ein Mann kommt und stürzt sich auf ihn, schlägt ihn nieder: »Feigling, dreckiger Jude!« ruft der Angreifer. Schneller Schnitt. Schlagzeilen: Dreyfus wieder in Frankreich. Ein erneutes Verfahren gegen ihn. Er beteuert seine Unschuld, um der Ehre willen. Hat sich nichts geändert? Wieder gibt es Stimmen, die von »Millionen, die das Judentum für ihn ausgab« raunen. Eine Szene im Park: Picquart trifft den Anwalt Labori, er hat die Akten dabei, ist guter Dinge. Ein Unbekannter kommt von hinten und schießt auf den Anwalt, verschwindet im Unterholz.

 

Dreyfus wurde am 9. September 1899 erneut des Hochverrats schuldig gesprochen, aber das Strafmaß auf zehn Jahre Gefängnis abgemildert. Zehn Tage später begnadigte der Präsident der Republik Dreyfus. Uneingeschränkte Rehabilitierung erreichte Dreyfus erst 1906. Die Zeiten hatten sich geändert. Er wurde wieder in die Armee aufgenommen. In einem Nachspann treffen Dreyfus und Picquart, der inzwischen zum Kriegsminister aufgestiegen ist, zusammen. Dreyfus möchte Beförderung, die unverschuldete Haftstrafe müsse angerechnet werden. Picqart will die Debatte nicht neu eröffnen, aber: »Ohne Sie hätte ich das nicht erreicht.« Dreyfus: »Sie haben das erreicht, weil Sie Ihre Pflicht getan haben.« Die Pflicht – damit endet dieser Film, der nach 125 Jahren aktuell ist.