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Titel2009

Im Sinne von Norma Rae  (Victor Grossman)

Wer ihn je gesehen hat, wird sich noch heute an ihn erinnern, einen von Hollywoods wirklich guten Filmen, 1979 gedreht: »Norma Rae«. Dafür erhielt Sally Field einen Oscar und den Schauspielerinpreis in Cannes. In einer Textilfabrik in North Carolina mit miserablen Arbeitsbedingungen wird eine anfangs ziellos wirkende junge Frau Anführerin von Schwarzen und Weißen in einem harten Kampf mit der brutalen Firma. In der Schlüsselszene steigt sie auf eine Werkbank und hält das auf Pappe gekritzelte Wort »Union« hoch. Das ist dort kein Fußballteam, es bedeutet »Gewerkschaft«. Eine Arbeiterin nach der anderen stoppt solidarisch ihre Maschine; Norma Rae verliert den Job, doch trotz aller Schikanen gewinnt der Verband die notwendige Abstimmung.

Eine wahre Geschichte lag dem Film zugrunde. In Wirklichkeit hieß die Frau Crystal Lee Jordan. Ihre Courage wäre weiß Gott heute vonnöten. 1945 waren in den USA 35 Prozent aller Lohn- und Gehaltsabhängigen organisiert. 1975, zur Zeit von Crystal Lees Aktion, waren es 26 Prozent. Heute sind es zwölf, im privaten Sektor sogar nur traurige acht Prozent.

Der Grund liegt nicht etwa darin, daß die meisten gegen Gewerkschaften wären. Viele wissen, daß Organisation Voraussetzung für höheren Lohn, bessere ärztliche Versorgung und Renten ist und Schutz vor Willkür bedeutet. Ob sich eine Gewerkschaft der Interessen der Beschäftigten eines Betriebes annehmen darf, hängt von einer Abstimmung unter den Beschäftigten ab. So ist es gesetzlich geregelt. Doch ebenso wie es damals Crystal Lee widerfuhr, ruft jeder Versuch von Arbeitern, sich zu organisieren, sogleich eine vom Boß bestellte Schar von spezialisierten Anwälten und Konsultanten herbei, welche die Arbeiter, gruppenwiese und einzeln, mit Lügen, Lockungen und Drohungen behämmern. Häufig wird angedroht, bei einer »Ja«-Mehrheit werde das Werk geschlossen. Aktive Organisatoren werden unter allen möglichen Vorwänden gefeuert, wie es auch Crystal Lee erging. Die Ängste der Menschen sind keinesfalls grundlos.

Eine Ironie ist es, daß das Gesetz, das solche Abstimmungen vorschreibt und derartige Einschüchterung ermöglicht, aus den vergleichsweise sozialliberalen 1930er Jahren stammt und damals den Gewerkschaften half. Doch vor allem in den Amtszeiten der Republikaner Eisenhower, Nixon, Reagan, Bush I und II wurde es in sein Gegenteil verkehrt; die Demokraten, obwohl in allen Wahlkämpfen von den Gewerkschaften unterstützt, taten wenig dagegen. Hinzu kam, daß sich die Verbände oft gegenseitig befehdeten. Schlimmer noch: Während die Industrie zunehmend in Billiglohnländer zog, ließen sich die Gewerkschaften für jeden Kreuzzug der USA einspannen und vernachlässigten derweil zu Hause den Kampf um die Rechte der Frauen, der Afroamerikaner, der Latino-Immigranten. Ausnahmen gab es; sie bestätigten die Regel.

Heute erzwingen der Mitgliederverlust und die Krise eine Umkehr. In einigen Verbänden wächst der Kampfgeist. Am nötigsten – und schwierigsten – ist eine Vermehrung der Mitgliedschaft. Dem US-Kongreß liegt schon seit einiger Zeit ein Arbeiter-Wahlgesetz zur Beratung vor, das vor allem regeln soll, daß Beschäftigte, die im Betrieb eine Gewerkschaftsgruppe gründen wollen, nicht mehr jahrelang auf manipulierbare Abstimmungen warten müssen. Wenn mehr als die Hälfte von ihnen eine Mitgliedskarte unterschreiben, soll die Gewerkschaft künftig als anerkannt gelten, und der Boß müßte mit ihr einen Vertrag aushandeln. Entlassungen von Organisatoren, wie damals Crystal Lee, könnten schwer bestraft werden. Dieses Gesetz würde einen großen Zuwachs ermöglichen, nicht nur an Zahlen, sondern an politischer Kraft.

Diese neue gewerkschaftliche Energie trug zum Wahlsieg Obamas und der Demokraten bei, die dafür versprachen, das wichtige Gesetz schnell zu erlassen. Nun aber zaudert Obama: Vorrang habe die – zweifellos dringend notwendige – Gesundheitsreform. Wal-Mart und andere Großkonzerne schießen mit ihren Medien, Heeren von Lobbyisten und riesigen Spenden an Politiker gegen beide Gesetze. Und nun wispern manche Demokraten von »nötigen Änderungen« – gerade die wichtigsten Bestimmungen sollen gestrichen werden.

In der einstigen Stahlstadt Pittsburg tagte eine Woche vor den G-20 der Kongreß des größten Arbeiterdachverbands, der AFL-CIO. VertreterInnen von immerhin 11,5 Millionen Arbeitenden wählten eine neue Leitung, der zwei Frauen angehören, eine ist Afroamerikanerin. Präsident ist der kämpferische Bergarbeiterführer Richard Trumka. Die Delegierten beschlossen, um die staatliche Krankenversicherung zu kämpfen, sie nahmen sich vor, Frauen, Jugendliche, Schwulen und andere Minderheiten besonders anzusprechen, sie stimmten dafür, die Arbeiter im Irak zu unterstützen, womit sie ein neues Zeichen setzten. Wohl am lautesten – vor, während und nach der Rede Barack Obamas – verlangten sie das unverwässerte Gewerkschaftsgesetz, das langes Unrecht beseitigen könnte.

Die inzwischen 68 Jahre alte Crystal Lee Jordan, das Vorbild für Norma Rae, litt unter einem schnell wachsenden Gehirntumor. Ihre Versicherung stritt zwei Monate mit ihr über die Bezahlung einer Therapie. »Wie kann eine Entscheidung über Leben und Tod so lange dauern?«, fragte die Gewerkschafterin. Noch im Rollstuhl war sie politisch engagiert. In einem Interview sagte sie: »Wenn später an mich erinnert wird, dann als eine Frau, die sich über die arbeitenden Armen und alle armen Menschen in den USA und der Welt Sorgen machte und für die eigenen wie für andere Kinder einen fairen Anteil und Gleichheit forderte.« Der Kongreß hätte ihr gefallen, doch sie starb zwei Tage vor seinem Beginn.