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Titel2015

Ökonomie der Wanderungen  (Manfred Sohn)

Bis zu einer Million Flüchtlinge vor allem aus den arabischen Ländern erwarten Vertreter der deutschen Bundesregierung in diesem Jahr. Die Diskussion um diese seit Ende der 1940er Jahre größten Wanderungsbewegung in Europa wird vor allem unter moralischen und (partei)politischen Aspekten geführt. Es gibt aber mindestens drei ökonomische Aspekte. Sie betreffen die Fluchtursachen, die Fluchtwege und die vermutlichen Fluchtergebnisse in den Zielländern der Schutz oder eine neue Heimat Suchenden.


Mit millionenschweren Subventionen aus öffentlichen Kassen ist vor einigen Jahren in Wietze in Niedersachsen ein Geflügelschlachthof errichtet worden, in dem pro Stunde bis zu 24.000 Hühner getötet und verarbeitet werden. Auf den europäischen Märkten werden von diesen Tieren vor allem Brustfilets und Schenkel abgesetzt. Wie von anderen Agrarfabriken auch gehen die hier nicht verwertbaren Teile dorthin, wo auch das sogenannte Hühnerklein – also der von den kapitalistischen Wohlstandsgesellschaften verschmähte Rest – noch verkäuflich ist. Gegen solche Massenimporte industrieller Nahrungserzeugung haben die kleinbäuerlichen Strukturen Afrikas und Asiens keine Chance. Ähnliches gilt für andere Lebensbedürfnisse wie die nach Kleidung oder Wohnungseinrichtungen, die jahrtausendelang von einheimischen Handwerkern befriedigt wurden. Der letzte Anstoß für die millionenfache Wanderung, die jetzt einsetzt, sind die militärischen Konflikte. Aber sie entfalten sich auf der Grundlage tiefgreifend zerrütteter traditioneller Wirtschaftsstrukturen, die von der kapitalistischen Warengesellschaft zersetzt wurden. Die Staaten Westeuropas haben Nordafrika mit Billigfleisch und Waffen bombardiert und erhalten als Antwort die erwerbslos gemachten und in ihrem Leben bedrohten Menschen als Gegenbewegung zurück.


Die Bild-Zeitung, die dem im Mittelmeer ertrunkenen dreijährigen Aylan am 4. September drei Seiten widmete, richtet die von ihrem Bericht erzeugte Wut der Leser in Fettdruck auf diejenigen, die die Flucht unterstützten: »Und was wurde aus den Schleusern, die die Tragödie zu verantworten haben?« An dem Satz ist zweierlei bemerkenswert. Zum einen sind in der Zeitung nun diejenigen, die noch vor drei Jahrzehnten positiv gefeierte »Fluchthelfer« waren, als sie Menschen bei der gefahrvollen Wanderung von Ost nach West unterstützten, negativ belegte »Schleuser« geworden, seitdem die Wanderung von Süd nach Nord versucht wird. Die Redakteure des Blattes unterstellen ihren Lesern zweitens, dass sie Ursache und Wirkung verwechseln. Denn klar ist: Fluchtbewegungen haben nicht diejenigen zu verantworten, die einen Fliehenden mit welchen Mitteln und gegen welche Gegenleistung auch immer unterstützen. Verantwortlich sind diejenigen, die in den Ländern der Fliehenden Zustände herstellen oder herzustellen helfen, die so unerträglich sind, dass sich ganze Familien auf den Weg in andere Länder machen. Wenn es für diese Wanderung aber keine legalen Wege gibt, sind sie angewiesen auf Kundige, die auch illegale Wege öffnen. Schlepperei ist, wie der österreichische Journalist Franz Schandl vor einiger Zeit feststellte, nicht der Fluchtgrund, sondern das Fluchtmittel. Und ohne Fluchthelfer – Entschuldigung: Schlepper – sind die Flüchtlinge schlechter dran als mit ihnen. Weil die ökonomischen Ursachen der Wanderungsbewegung weiter nicht behoben sind und die Grenzen kontrolliert und geschlossen bleiben, wird die Fluchtbewegung genauso anhalten wie das Fluchthelfer-Gewerbe gedeihen wird.


Der dritte ökonomische Aspekt der Wanderungsbewegungen wird die bundesdeutsche Politik künftig intensiv beschäftigen. Den Ton hat am 22. September die FAZ in einem Kommentar vorgegeben: »Sollen aus Flüchtlingen Arbeitnehmer werden, die einmal die Rente sichern, muss die Regierung ihnen zunächst juristisch den Weg in die Arbeit frei machen …, wichtig wäre es, den Arbeitsmarkt aufnahmefähiger zu machen, statt ihn mit Mindestlohn, Hürden für Zeitarbeit und Werkverträge oder Arbeitsstättenverordnungen unzugänglicher zu machen. Es ist zur fixen Idee von Schwarz-Rot geworden, dass Arbeit allein nicht genügt, sondern dass es ›gute Arbeit‹ sein muss.« Nicht dumpfe Unterschichts-Fremdenfeindlichkeit, sondern mindestens auch die Vorahnung , dass dieser Gedanke die Hauptursache für die offenen Arme der herrschenden Politik gegenüber den überwiegend zwar arbeitslosen, aber gut ausgebildeten Syrern und anderen Flüchtlingen war, bestimmt wenigstens teilweise die Skepsis vieler schlecht verdienender Bundesbürger gegenüber dem, was da an Lohndrücker-Kolonnen auf sie zukommt. Sie haben – wie klar formuliert auch immer – in einem recht: Kapitalismus kennt in seinem Wesen Pflanzen nur als Nutzpflanzen, Tiere nur als Nutztiere und Menschen nur als Nutzmenschen. Die gegenüber Pflanzen überhaupt nicht, bei Tieren nur ganz schwache und bei Menschen nur in Zeiten, wo der Kapitalismus floriert, etwas stärkere Relativierung dieses Nützlichkeitsprinzips, dem alles unterworfen wird, wenn sich aus Geld mehr Geld machen lässt, sollte den Blick auf diesen Wesenskern nicht trüben – in zugespitzten Kriegs- und Krisenzeiten schockiert er sonst den Sehenden.


Die sich vor unseren Augen immer raumgreifender entfaltende Kriegs- und Krisenzeit holt gewissermaßen die vom Kapitalismus erzeugten und in ihren negativen Erscheinungen bisher weitgehend außerhalb deutscher Grenzen gebannten Wirkungen »heim ins Reich«. Das wird die politischen Verhältnisse solange nach rechts verschieben, wie es nicht gelingt, den Kern dieser Probleme – die kapitalistische Gier, Geld und seine Vermehrung zum weltweit alles niederzuwalzenden Selbstzweck zu machen – zum Gegenstand der Debatten zu machen.