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Titel2019

Pazifisten und Abrüstung: Foerster und Ossietzky  (Werner Boldt)

Im Friedensvertrag von Versailles verpflichtete sich Deutschland abzurüsten. Das sollte, wie es in der Präambel hieß, »den Anfang einer allgemeinen Beschränkung der Rüstungen aller Nationen« ermöglichen. Ossietzky begrüßte die von den Siegermächten Deutschland auferlegte Abrüstung, in die er allerdings eine Portion Skepsis gegenüber den verantwortlichen Politikern mischte:

»Gern wollen wir die Mordwaffen abstoßen, die über uns und über die Menschheit so viel Unheil gebracht haben. Nein, wir wollen ihnen nicht nachtrauern, den Kanonenläufen, den Minenwerfern, den Präzisionsgewehren, die so präzise Menschenleben auslöschen können! Wir wollen das Stigma der Wehrlosigkeit tragen in dem Bewußtsein, daß […] andere Völker schließlich folgen werden, wenn eines nur begonnen hat, das Arsenal des Todes zu schließen.« Er kam aber nicht umhin festzustellen, dass »die imperialistischen Staatsmänner« diese Entwicklung noch verhindern.

 

Die führenden imperialistischen Staatsmänner Europas trafen sich 1925 auf einer Konferenz in Locarno, um einen Pakt zur Sicherung des Friedens zu schließen. Die deutsche Delegation wurde in den Kreis der ehemaligen Siegermächte aufgenommen, wofür sie sich dankbar zeigte, indem sie großzügig garantierte, auf eine gewaltsame Veränderung ihrer Westgrenzen zu verzichten – allerdings nicht ihrer Ostgrenzen. Ossietzkys Kritik an Locarno ging weiter; sie war grundsätzlich. Da Deutschland noch nicht dem Völkerbund beigetreten war, warf er Stresemann vor, den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht zu haben:

»Deutschland führte nach Locarno […] der Wunsch, unter Verständigung mit den Siegerstaaten um den Völkerbund und seine unbeliebten Bindungen herumzukommen. Der Garantiepakt: das macht zum Verbündeten, erhebt wieder in Großmachtrang, verschafft – wahrscheinlich – wieder Einreihung in die Kolonialmächte, Erlaubnis zu neuer Aufrüstung. Völkerbund: das bedeutet Gleichstellung mit Haiti oder Liberia, internationale Rechtsprechung, ausgeübt vielleicht von einem Gelben oder Braunen.«

 

Doch der Völkerbund war nicht untätig geblieben. 1924, ein Jahr vor Locarno, hatte er in einem Protokoll ein Verfahren zur friedlichen Regelung internationaler Streitigkeiten empfohlen und die Signatarstaaten verpflichtet, an einer internationalen Abrüstungskonferenz teilzunehmen. Zu deren Vorbereitung bildete der Völkerbund eine Kommission, zu der er auch die USA, die Sowjetunion und Deutschland, also Staaten, die ihm nicht oder noch nicht angehörten, einlud. Ein Jahr nach Locarno trat die Kommission zusammen. Unter dem mit einem Fragezeichen versehenen Titel »Völkerfrühling?« zeigte sich Ossietzky nicht gerade begeistert, aber auch nicht ohne Hoffnung:

»Zum ersten Mal seit dem Haag nehmen in der Abrüstungsfrage die Offiziellen der Mächte wieder Tuchfühlung. […] Im Grund sind wohl alle Regierungen über das Stadium weg, wo Rüsten Spaß macht. Alle seufzen über die Irrsinnsziffern der Heeresbudgets. Aber keine ist zum ersten Sprung bereit. […] So, wie man in Genf eröffnete und fortfahren wird, schiebt bei Allen die Sorge, sich etwas zu vergeben, Formalitäten vor, in denen etwa vorhandene Energien ersticken. Nirgends pulst eine antreibende Kraft. […] Verläuft sich auch dieser Genfer Versuch in eine Blamage«, schaute er besorgt in die Zukunft, »so wird ein verhängnisvoller Fatalismus die Folge sein.« Er sah noch nicht voraus, dass das Verhängnisvolle an dem Fatalismus eine neue große Katastrophe war, doch suchte er den sich mühsam hinschleppenden Verhandlungen etwas Handgreifliches entgegenzusetzen. Er appellierte an die Sozialisten und Pazifisten aller Länder, »ein knappes, deutliches Programm aufzustellen, das ein unverschleiertes Ziel gibt und den vieldeutigen Begriff Abrüstung aus dem Bereich der gehässigen wie empfehlenden Redensarten rückt«. Ein solches Programm schrieben weder die Sozialisten noch die Pazifisten. Die Frage der Abrüstung blieb dem Völkerbund überlassen.

 

Ossietzky schwankte in seiner Einschätzung der Möglichkeiten, die sich diesem boten. Einerseits beklagte er einen völligen Mangel an Autorität des Völkerbundes: »Alle Außenpolitiker vertreten nur nationale Interessen, suchen nur diplomatische Erfolge. Deshalb gehen sie nach Genf, um für ihre Kabinettspolitik zu werben, zu streiten, zu mogeln. Der Völkerbund ist völlig zum Instrument der verschiedenen Imperialismen geworden.« Andererseits hatte er noch nicht alle Hoffnung verloren, wenn er etwa den »Völkerbündlern« einschärfte, dass die Abrüstung ihr »zentrales Thema« sei, an dem sie ihren »Befähigungsnachweis« zu erbringen hätten. Doch schon ein Jahr, nachdem die Kommission ihre Tätigkeit aufgenommen hatte, gab er ihr keine Chance mehr: »Es gibt eine große internationale Kriegspartei, deren nationale Sektionen sich in der Form von Beschimpfungen, Hetzcampagnen und Konstruktion von Zwischenfällen gegenseitig unterstützen. Durch diese Art von internationaler Kooperation sind die Hoffnungen zertrampelt worden, die sich an das Zusammentreten der Abrüstungskonferenz [gemeint ist die Abrüstungskommission – W. B.] geknüpft haben.«

 

Als wenig später das Plenum des Völkerbundes zusammentrat, machte Ossietzky in einem Kommentar zu den dort gehaltenen Reden »Nichtssagen« als das »ungeschriebene aber faktische Programm« der Tagung aus. Doch er registrierte auch, dass kleinere Staaten einen sachlichen Beitrag leisteten: »Die Kleinen aber streben zu den Ideen des Protokolls von 1924 zurück. Das war der Sinn des überraschenden holländischen Vorstoßes, auch der Bemühungen Polens, zu einem Sicherungsabkommen für den Osten zu gelangen. Die kleinen Staaten sind durch die Locarnoverträge aus der Weltpolitik radikal hinausgeworfen worden. Sie sind ohne Einfluß auf den Lauf der Dinge und dürfen nur nachträglich in Genf protestieren. England hat die Abrüstung ruiniert und schafft sich überall in Europa Trabanten zur Einkesselung Rußlands.« Er kam zu dem Schluss: »Zukunft und Würde des Völkerbundes ruht nicht bei den Regierungen der großen Mächte, sondern bei ihren linken Oppositionen.«

 

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Ossietzky die internationale Konstellation in Europa drei Etappen durchlaufen sah, und zwar mit fallender Tendenz: In der ersten eröffnete der Völkerbund Aussichten auf einen dauerhaften Frieden. Dann drängten ihn die Großmächte mit ihrer separaten Konferenz ins Abseits. Schließlich suchte das englische Torykabinett mit einer »halsbrecherischen Außenpolitik«, das Konzert der europäischen Großmächte unter seine Leitung zu bringen. Um es davon abzuhalten und dem Völkerbund wieder Gewicht zu verschaffen, appellierte Ossietzky an die linken Oppositionen in den Ländern. Sein Appell galt auch für die Sozialdemokraten in Deutschland, die jahrelang von der Regierung ausgeschlossen waren.

 

Die deutsche Republik bot überhaupt ein trauriges Bild. Statt konsequente Friedenspolitik zu betreiben, beschritt sie mit repressiven Maßnahmen gegen Pazifisten und deren Publikationsorgane einen deutschen Sonderweg. Man kann nicht sagen, dass sich hiergegen große Proteststürme erhoben hätten. Einiges Aufsehen erregte immerhin der Prozess, der unter der Präsidialdiktatur Hindenburg/Brüning vor dem Reichsgericht gegen die Weltbühne geführt wurde. Ossietzky und Walter Kreiser, ein sozialdemokratischer Wehrexperte, der in der Weltbühne einen Artikel über illegale Aufrüstungen der Reichswehr veröffentlicht hatte, wurden wegen Landesverrats verurteilt. Das Gericht hatte ein Gesetz gegen Spionage vom Juli 1914 hinzugezogen. Kurz vor dem Krieg vermutlich im Schlafwandeln erlassen, hatte es nun den Zweck, die Öffentlichkeit aus den Verhandlungen auszuschließen und die Veröffentlichung der Urteilsbegründung zu unterbinden. Außerdem konnten den Angeklagten politische Motive abgesprochen werden. Als Spione wurden sie wie einfache Kriminelle behandelt.

 

Mit ihrem Urteil leiteten die Richter in dem Konflikt zwischen Pazifisten, die als Landesverräter diffamiert wurden, und einer »national« gesinnten Presse, die der Reichswehr Feuerschutz gab, eine neue Runde ein, bei der Ossietzky, so schwer er auch persönlich betroffen war, nur eine Nebenrolle zufiel. Eine Woche nach der Urteilsverkündung begab sich Kreiser in die französische Hauptstadt. In seinem Reisegepäck befand sich eine stenographische Mitschrift der mündlichen Urteilsbegründung. Er übergab sein Material dem Echo de Paris, einem nach Ossietzkys Urteil »hochkapitalistischen, der Rüstungsindustrie nahestehenden Organ«. Ausgerechnet in einer solchen Zeitung wollte Kreiser, wie Ossietzky ihm vorwarf, eine »Campagne gegen die deutsche Militärpolitik« eröffnen und »den deutschen Militarismus entlarven«, mit dem sich die Welt doch schon »still abgefunden« habe.

 

Die Idee, sich an das Echo de Paris zu wenden, dürfte Kreiser von Friedrich Wilhelm Foerster gehabt haben, einem bekannten pazifistischen Gelehrten und Pädagogen, der aus Deutschland nach Frankreich gegangen war, um sich Verfolgungen zu entziehen. Weil er wusste, dass die Reichswehr sich auf einen Angriffskrieg gegen Polen und die Tschechoslowakei vorbereitete, um die Grenzen im Osten zu revidieren, womit nach seiner Einschätzung sogar die Gefahr eines zweiten Weltkriegs heraufbeschworen wurde, war er der Auffassung, dass nicht von Frankreich, sondern von Deutschland eine Kriegsgefahr ausging, dass Frankreich, um der vorzubeugen, gar nicht abrüsten darf. Als Beleg hatte er dem Völkerbundsrat eine Dokumentation über die Reichswehr und die deutsche Aufrüstung überreicht mit der Folge, dass der mit dem Friedensnobelpreis geehrte Stresemann ihn vor Journalisten als »Lügner und Lumpen« beschimpfte.

 

In einer gegen Stresemann gerichteten deftigen Polemik lobte Ossietzky den Gesinnungsgenossen in der Weltbühne vom 20. September 1927 wegen seines »Bekenntnismutes«. Er hatte wiederholt für ihn Partei ergriffen und ihn gegen die Frankfurter Zeitung, das Flaggschiff der bürgerlichen demokratischen Presse, vehement verteidigt, als sie sich »gegen die fanatischen Friedenshetzer von der Art F. W. Försters [sic!]« ereiferte. Aber dessen strikte Unterscheidung zwischen einem friedenswilligen Frankreich und einem kriegswilligen Deutschland vollzog er nicht mit. Er nahm die deutsche Aufrüstung nicht sonderlich ernst. Den Panzerkreuzer A, dessen umstrittener Bau erheblichen politischen Wirbel erzeugte, verhöhnte er als einen »heroischen Kahn«. Doch eine in der englischen Presse veröffentlichte Denkschrift des Reichswehrministers Groener brachte ihn zu der Erkenntnis, dass A als Anfangsbuchstabe des Alphabets auf die Eröffnung eines ganzen Flottenprogramms hinweist, und zwar eines, das speziell für die Ostsee gedacht war.

 

»Hier dreht es sich nicht mehr«, musste er nun feststellen, »um die bei allen Parteien gleich beliebte Verteidigung unsrer Grenzen, nicht mehr um die Ausnutzung der kargen Wehrmöglichkeiten, die uns der Friedensvertrag belassen hat, sondern wieder einmal um Überlegenheit, um Herrschaft.« Er revidierte die in der Linken und so auch bei ihm verbreitete Auffassung, dass es sich bei der Flotte um eine »nutzlose, kostenreiche Spielerei« handle. »Die Erfüllung des maritimen Bauprogramms«, so warnte er jetzt, »zieht uns automatisch in die gefährlichsten Händel der Welt. Die Flotte ist nicht ein Luxus, sondern gemeingefährlich.« Er sprach es nicht aus, aber es ist anzunehmen, dass er bei den »gefährlichsten Händel(n)« in erster Linie an einen von der konservativen Regierung Englands mit deutschen Hilfstruppen geführten Krieg gegen Russland dachte, wobei er vor allem Winston Churchill als Scharfmacher ausmachte.

 

Obwohl also Ossietzky Foersters Auffassung bis zu einem gewissen Grade nahekam, zeigte er keinerlei Verständnis für eine Veröffentlichung des Gerichtsurteils. Von Kreiser, wie Ossietzky ein Mitglied der Deutschen Liga für Menschenrechte, konnte er wenigstens erwarten, Unterstützung bei der französischen Schwesterorganisation zu suchen. Doch vermutlich versprach sich Kreiser davon keine durchschlagende Wirkung. So wählte er eine Zeitung, der pazifistisches Denken und Tun fernlag, der aber Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. Tatsächlich versetzte erst die Publikation der Urteilsbegründung in der Pariser Zeitung die deutschen Behörden in Unruhe. Sie sahen die Interessen Deutschlands auf der im Februar 1932 endlich einberufenen Abrüstungskonferenz gefährdet.

 

Schon vor Erscheinen der Artikelserie im Echo de Paris hatte Brüning in einer Rede auf der Konferenz die deutsche Position dargelegt. »Internationale Solidarität und Friedenssicherung« beschwörend, gab er als gemeinsames Ziel der Staaten an, »den unseligen Zustand des bewaffneten, auf ungleichen Rechten beruhenden Friedens« zu beenden. »Internationale Solidarität« hieß im Klartext: Deutschland darf aufrüsten, wenn die andern nicht abrüsten. Das brachte Bewegung in die Verhandlungen. Die französische Delegation unter Hérriot bestand darauf, dass Deutschland die im Versailler Vertrag eingegangenen Verpflichtungen einhalte. Die deutsche Seite drohte mit ihrer Abreise. MacDonald von der Labour Party vermittelte. Schließlich vereinbarten die Locarno-Mächte Großbritannien, Frankreich und Italien sowie die USA mit Deutschland, dass die Gleichberechtigung Deutschlands ein Grundsatz sei, der die Konferenz leiten solle. Da nicht zu erwarten war, dass die ehemaligen Siegermächte ihre schweren Waffensysteme wie Flugzeuge, Panzer und U-Boote verschrotten würden, um ihr Niveau dem deutschen anzugleichen, hatte Deutschland seinen Willen aufzurüsten durchgesetzt. Seine bis dahin illegale Praxis, die aufzudecken Ossietzky mit Gefängnishaft bezahlte, war nunmehr anerkannt.

 

Zu einem endgültigen Beschluss konnten sich die Teilnehmer der Konferenz nicht aufraffen. In einem Ausschuss wurde weiter beraten. Brüning nahm in seiner Eigenschaft als Außenminister daran teil. Aber seine forsche Maxime »Abrüstung der Anderen; Aufrüstung für uns« konnte er nicht durchsetzen. Er verhakte sich an Einzelfragen. Der Nazi-Regierung diente dies später als Vorwand, die Konferenz zu verlassen. Zugleich trat sie unter Friedensbeteuerungen aus dem Völkerbund aus. 1935 stellte die Abrüstungskonferenz ihre Tätigkeit ein, in dem Jahr, für das Ossietzky mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde.

 

Die Abrüstungskonferenz des Völkerbundes war gescheitert. Aber sie hatte immerhin stattgefunden. Heute darf die UNO Blauhelme schicken, während die NATO Kampfverbände schickt. Die G7-Staaten treffen sich nicht einmal zu einem Locarno. Dazu müssten sie sinnvollerweise wenigstens acht werden. Ein beklemmender Rückschritt. Es gibt aber auch einen Fortschritt: Die Gegner von Krieg und Rüstung verschaffen sich Gehör. Das mag hoffen lassen.

 

 

Der vorstehende Text basiert auf dem Vortrag von Prof. pens. Werner Boldt anlässlich der Ossietzky-Matinee am 3. Oktober 2019 in Berlin. Alle Zitate, soweit nicht anders gekennzeichnet, stammen aus: Carl von Ossietzky, Sämtliche Schriften in VIII Bänden, Rowohlt 1994. Von Werner Boldt erschienen im Ossietzky Verlag die Bücher: »Carl von Ossietzky – Vorkämpfer der Demokratie« (2013, Ossietzky-Biografie, 820 Seiten, 34 € zzgl. 1,50 € Versandkosten) sowie »Carl von Ossietzky. Ein Lesebuch«, (2014, 144 Seiten, 10 € zzgl. 1,50 € Versandkosten), Bezug: ossietzky@interdruck.net.