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Titel2109

Durch Einheit zum Krieg  (Rolf Becker)

Thomas Mann, Tagebucheintrag, 26. August 1947: »Ich ahne bestimmt, daß die Slaven aus Osteuropa wieder mit den vereinten Kräften des Westens werden hinausgeworfen werden und Deutschland bis auf die Ukraine wohl alles erhält, was Hitler wollte.«

Wenige Tage später schreibt er an Agnes Elizabeth Meyer: »Rußland mag im eigenen Lande nicht zu besiegen sein, aber es mit vereinten Kräften aus Deutschland wieder hinauszuwerfen, samt den Polen, ist bestimmt möglich, und wenn man sich erinnert, daß schon Hitler, wäre er nur ein bißchen manierlicher gewesen, alles hätte haben können, was er wollte (siehe ›München‹), so schweben einem Zukunftsbilder vor, die es voreilig erscheinen lassen, sich der Furcht vor Deutschland zu entschlagen. Man wird den Kontinent Deutschland ›anvertrauen‹. Aber ob ein deutsches Europa auch ein europäisches Deutschland bedeuten wird? Ich zweifle. Auf Macht wird es wieder hinauslaufen, und mir graut vor deutscher Macht.«

Als Thomas Mann diese Ahnungen und Befürchtungen im Sommer 1947 äußert, ist die Teilung Deutschlands in zwei Staaten noch nicht absehbar. Deren Gründung war Resultat der sich seit dem Ende des 2. Weltkriegs verschärfenden Ost-West-Konfrontation. Das Bündnis der Westalliierten mit der Sowjetunion hatte 1945 sein Ende gefunden, nachdem es seinen Zweck, die Niederringung des faschistischen Deutschland, erfüllt hatte. Der Hauptwiderspruch zwischen den beiden unterschiedlichen Gesellschaftssystemen Kapitalismus und Sozialismus, der vorübergehend durch gemeinsame Interessen überlagert worden war, bestimmte wieder die Politik. Die geografische Trennungslinie entlang der Elbe – zwischen den bereits während des Krieges vereinbarten Besatzungszonen – wurde für viele Jahre zur gefährlichsten Grenze der Welt, zum Aufmarschgebiet von West- und Ostblock. Das weitreichende militärische Patt zwischen den beiden Machtblöcken unter Führung der USA und der Sowjetunion, in die Geschichte eingegangen als »Kalter Krieg«, sowie die Einbindung der beiden deutschen Staaten in die sich feindlich gegenüberstehenden Bündnissysteme verhinderten bis 1989, daß sich bewahrheiten konnte, wovor nicht nur dem Schriftsteller Thomas Mann graute.

Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten und der Wiederherstellung deutscher Einheit änderte sich das. Aus dem politisch gefesselten Kapitalismus wurde der entfesselte, in Europa unter Führung Deutschlands. Der Zweifel Thomas Manns, »ob ein deutsches Europa auch ein europäisches Deutschland bedeuten wird«, bestätigte und bestätigt sich. Von einer Vereinigung, die den gemeinsamen Willen derer voraussetzt, die sie vollziehen, konnte und kann keine Rede sein: Die DDR, der erste Versuch eines sozialistischen Deutschland, wurde zurückgeführt in den Nachfolgestaat des Deutschen Reiches, die BRD, der – mit Hilfe der USA – die Restauration des vermeintlich zugleich mit der Naziherrschaft niedergerungenen Kapitalismus in Deutschland gelungen war.

»Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle« (Volker Braun): Deutschland wuchs nicht nur geografisch und demografisch, sondern auch ökonomisch und politisch; lediglich an den sozialen, kulturellen und geistigen Erzeugnissen hatte man bei der Aneignung der »neuen Länder« kein Interesse. Dem Machtzuwachs dienten hingegen die Übernahme der Volksarmee und ihre Eingliederung in die 1956 gegen breite Proteste aufgestellte und inzwischen hochgerüstete Deutsche Bundeswehr.

Bereits 1991, kaum daß die Einheit formal vollzogen und die Souveränität des »neuen« Deutschlands international nicht mehr eingeschränkt war, zu einem Zeitpunkt, als die übrigen europäischen Staaten noch für Verhandlungen, also friedliche Wege bei Zusammenschluß Europas eintraten und entsprechend die Einheit Jugoslawiens ebenso wenig in Frage stellten wie die USA, drängte die Regierung der wiedererstandenen deutschen Großmacht auf die Zerschlagung der letzten sozialistischen Bastion in Europa – trotz der absehbaren Konsequenz militärischer Auseinandersetzungen. Mit der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens im Dezember 1991 konfrontierte die damalige CDU/FDP-Regierung unter Helmut Kohl als Kanzler und Hans Dietrich Genscher als Außenminister ihre europäischen Partner mit vollendeten Tatsachen, die – nach der Anerkennung weiterer Teilrepubliken der jugoslawischen Föderation – schließlich zum Krieg führten. Vergeblich hatte UN-Generalsekretär de Cuellar wenige Wochen zuvor noch gewarnt, daß eine Anerkennung von Slowenien und Kroatien zu einer Ausweitung der Aggression führen werde.

Der Vorbereitung auf Angriffskriege anstelle des bis dahin gesetzlich festgeschriebenen Verteidigungsfalles diente die Neudefinition der »Verteidigungspolitischen Richtlinien« der Bundesregierung von 1993 zur Sicherung der »vitalen Sicherheitsinteressen« Deutschlands: »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt ... Wenn die internationale Rechtsordnung gebrochen wird oder der Frieden gefährdet ist, muß Deutschland auf Anforderung der Völkergemeinschaft (sprich: in Abstimmung mit der Führungsmacht USA; R.B.) auch militärische Solidarbeiträge leisten können. Qualität und Quantität der Beiträge bestimmen den politischen Handlungsspielraum Deutschlands und das Gewicht, mit dem die deutschen Interessen international zur Geltung gebracht werden können.« Die Verabschiedung dieser neu definierten Aufgaben der Bundeswehr, die nichts weniger als die Möglichkeit auch exterritorialer Einsätze beinhalteten, ging von den Medien fast unkommentiert, vor allem ohne Widerspruch seitens der Gewerkschaften über die damals noch Bonner Bühne.

1994 zog das Bundesverfassungsgericht nach und machte auch rechtlich den Weg frei für »out-of-area«-Einsätze der Bundeswehr – abhängig lediglich von der Zustimmung des Bundestages; inzwischen folgten weitere Entscheidungen zur »Bekämpfung des internationalen Terrorismus« und zur »Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse« in Afghanistan.

Fünf Jahre später, am 24. März 1999, kurz nach 20 Uhr, trat Gerhard Schröder als Bundeskanzler der ein halbes Jahr zuvor gewählten Bundesregierung aus SPD und Grünen mit der Erklärung vor die Kameras des deutschen Fernsehens: »Heute abend hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen.« Es stünden »zum ersten Mal nach Ende des 2. Weltkrieges deutsche Soldaten im Kampfeinsatz« (wahrheitsgemäß hätte der Satz lauten müssen: »zum ersten Mal seit Beginn des 2. Weltkriegs beteiligen sich deutsche Soldaten an einem Angriffskrieg«). Schröders Begründung: Das Bündnis wolle »weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden« und »eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern«. Die Verlogenheit seiner und entsprechender Erklärungen seiner Minister Fischer und Scharping wurden festgeschrieben zum – wie Ossietzky-Mitherausgeber Otto Köhler es nennt – »Gründungsmythos der Berliner Republik«. Ein Mythos, mitgetragen bis heute von der Führung des DGB, der den Angriff auf Jugoslawien wie 1914 mit seinem »Ja« zum Krieg absegnete.

Mit Ausnahme des Afghanistankrieges werden Einsätze deutschen Militärs – ob im Kosovo, dessen Abtrennung von Serbien und Anerkennung als eigenständiger Staat international nach wie vor nicht durchsetzbar ist, oder als Seestreitkräfte am Horn von Afrika – von den Medien, aber auch von der Öffentlichkeit kaum noch hinterfragt. Umso bemerkenswerter folgendes Zitat von Stefan Fröhlich aus Politik und Zeitgeschichte vom 20.10.2008 (Herausgeber: Deutscher Bundestag in Abstimmung mit der Bundeszentrale für politische Bildung): »Inwieweit sind die aus den globalen Herausforderungen und Bedrohungszusammenhängen heraus formulierten Interessen tatsächlich plausibel und angemessen im Sinne einer für Deutschland unmittelbaren Betroffenheit? Oder ist die deutsche Außenpolitik mit der sukzessiven Ausweitung ihres geostrategischen Aktionsradius zur Unterstützung von internationalen Friedensmissionen dazu übergegangen, deutsche Interessen stillschweigend mit globalen Interessen gleichzusetzen? Die heutige Beteiligung der Bundeswehr an dem sogenannten Hybrideinsatz von Vereinten Nationen (UN) und Afrikanischer Union in Darfur, an den UN-Militärbeobachtermissionen in Südsudan (Unmis), Georgien (Unomig) und Äthiopien (Unmee) sowie an der UN-Truppe im Libanon (Unifil), schließlich das deutsche Engagement in den NATO-geführten Missionen unter UN-Mandat im Kosovo (Kfor, 2230 Soldaten) und in Afghanistan (Isaf, derzeit 3825 Soldaten) unterstreichen zwar den Willen zur Übernahme von globaler Verantwortung, zeugen aber von diesem Dilemma. In einer Welt, in der sich plausibel Szenarien konstruieren lassen, in denen asymmetrische (vor allem terroristische) Bedrohungen, damit verbundene Prozesse des Staatszerfalls und der Auflösung von Macht auch die deutsche Sicherheit bedrohen (können), wird es zunehmend schwieriger, außenpolitische Prioritäten zu definieren und die internationale Ordnung im Sinne eigener Interessen zu beeinflussen.«

Zu rechtlichen Absicherung internationaler Einsätze der Bundeswehr wurden 2003 die »Verteidigungspolitischen Richtlinien« erneut umformuliert: »Nach Artikel 87a des Grundgesetzes stellt der Bund Streitkräfte zur Verteidigung auf. Verteidigung heute umfaßt allerdings mehr als die herkömmliche Verteidigung an den Landesgrenzen gegen einen konventionellen Angriff. Sie schließt die Verhütung von Konflikten und Krisen, die gemeinsame Bewältigung von Krisen und die Krisennachsorge ein. Dementsprechend läßt sich Verteidigung geografisch nicht mehr eingrenzen, sondern trägt zur Wahrung unserer Sicherheit bei, wo immer diese gefährdet ist. Die Vereinbarkeit internationaler Einsätze der Bundeswehr, die im Rahmen von Systemen kollektiver Sicherheit durchgeführt werden, mit der Verfassung wurde durch das Bundesverfassungsgericht und den Deutschen Bundestag bestätigt.«

Wohlgemerkt: Die Neuformulierung, die jeden militärischen Einsatz, wo und wann auch immer, ermöglicht, wurde im Vorfeld der derzeitigen weltweiten Wirtschaftskrise verabschiedet, die keineswegs überwunden ist und deren politische Konsequenzen bislang kaum absehbar sind.

»Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen?«, lautet eine zentrale Frage im Kommunistischen Manifest. Die Antwort von Marx und Engels: »Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.«

»Eroberung neuer Märkte« – spätestens dann, wenn »die gründlichere Ausbeutung alter Märkte« im Widerstand der Bevölkerungen ihre Grenze findet. Nur wo sollen diese neuen Märkte sein? In Rußland? China? Selbst unsere in Berlin, Brüssel und Washington regierenden politischen Gegner dürften da scheuen.

Und wir? Die Konkurrenz innerhalb unserer Gesellschaften reicht bis zum Jede und Jeder gegen Jede und Jeden auch innerhalb der arbeitenden Klassen. »Die Lohnarbeit beruht ausschließlich auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich« (Kommunistisches Manifest). Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten ist diese Konkurrenz nur im gemeinsamen Widerstand gegen den Angriff des Kapitals zu überwinden. Trotz der »Unlust der Massen, sich zu empören«, die Brecht in seiner Antigone-Fassung konstatiert – hier und nur hier können wir, müssen wir ansetzen. Beim kleinsten Konflikt, wo immer sich Menschen zur Wehr setzen. Veränderung statt Anpassung. Der Passivität entgegenwirken, auch der eigenen, das Begriffene nicht preisgeben, sondern weitervermitteln, mit dem Gegeneinander zugleich unsere Schwäche überwinden. »Es setzt sich nur so viel Vernunft durch, als wir durchsetzen.« (Brecht)

Der westdeutsche Schriftsteller Claus Bremer schrieb 1983: »Es gibt keine Form / die neu ist solange die / Inhalte alt sind // Es gibt keine Form / die neu ist solange uns / das Weiße Haus droht // Stoppt den dritten Welt- / krieg der für das Weiße Haus / schon begonnen hat // Willst du dem Frieden / dienen bist du gezwungen / für ihn zu kämpfen«