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Ein Gespräch an der Elbe  (Manfred Wekwerth)

Es war bei Räbel, einem Flecken in der Altmark, wo eine kleine Fähre Passanten, die zum Beispiel nach Havelberg wollen, mitsamt ihren Autos über die Elbe bringt. Da warteten auch wir auf die Fähre, um nach Havelberg überzusetzen, denn wir machten Urlaub in einer wunderschönen Gegend, die in den meisten Reisebüros überhaupt nicht mehr vorkommt und deren Name durch die »Wende« eine ganz neue Bedeutung erhalten hat: aus »Altmark« wurde die Mark der Alten. Denn die Jugend ist – wie es dort heißt – »abgewandert«. Die Einwohnerzahlen der Gemeinden, aber auch die der größeren Städte halbieren sich allmählich. Grund: Die Industrie verschwand, dafür kamen die Junker wieder, holzten »ihre« Wälder ab und machten aus »ihrem Familienbesitz« Hotels für Betuchte, die aber ausblieben. Eine Gegend eben, die in Vergessenheit gerät.

Dort, wie gesagt, machten wir Urlaub und warteten auf die Fähre. Wir warteten nicht allein. Neben uns wartete ein kleinerer Bus, auf dessen Rückwand Kinder mit Schulranzen abgebildet waren: ein Schulbus.

Um die Zeit ein wenig abzukürzen, fragten wir den Fahrer, der ungeduldig neben seinem Bus stand und Ausschau nach der Fähre hielt, er hole sicher Schulkinder ab, die mit der Fähre kämen. Eine gute Sache, fanden wir, denn der Weg zum nächsten Ort sei zu Fuß ja wirklich ziemlich weit. Die Antwort war so kurz wie überraschend: »Wer soll denn das bezahlen?« Unser erstaunter Hinweis auf die Kinder mit Schulranzen auf der Rückseite des Busses brachte die Erklärung: »Der Bus ist effektiver als ein Benziner. Darum nehme ich den.« Und da die Fähre auf der anderen Seite immer noch nicht abgelegt hatte, wurde er ungehalten: »Was die sich mit ihrer Langsamkeit so rausnehmen, die sind wohl noch von gestern.« Wir nutzten die Gelegenheit und fragten ihn nach dem Grund seiner Eile. Denn wenn er keine Schulkinder mit dem Schulbus abholen müsse, komme es doch nicht auf die Minute an. »Haben Sie eine Ahnung! Frau von K. zahlt nur für zuverlässige und pünktliche Leistung.« Unsere verwunderten Gesichter waren es wahrscheinlich, die ihn immer gesprächiger werden ließen: Er komme aus Osterburg, um direkt vom Fährmann, darauf lege Frau von K. Wert, den genauen Preis für das Übersetzen eines PKWs plus einer Person und Gepäck zu erfahren. Frau von K. müsse das wissen, um entscheiden zu können, ob sie zu ihrer Kur in der Reha-Klinik Havelberg täglich im eigenen Wagen fährt oder sich ein Taxi nimmt. Beim eigenen Wagen summierten sich die Benzinkosten und die Garagengebühr mit dem Fährpreis fürs Übersetzen. Und er, der Busfahrer, müsse sie heute noch über den genauen Fährpreis informieren, denn die Kur beginne morgen früh. Er rate zum Taxi, einfach aus Effektivität, denn beim Taxi entfielen die Nebenkosten.

»Und Effektivität«, sagte er, indem er einen Schritt auf uns zukam, »ist heute das A und O«. Aber dazu brauche es eben Köpfe und Verantwortungsgefühl, »und die«, er kam noch einen Schritt näher, »waren ja so gut wie verboten. Heute wird Gott sei Dank nicht mehr so drauflosgewirtschaftet wie bei ›Planers‹, die mit ihrer Planwirtschaft nix als Verschwendung planten. Jede kleine Zulieferklitsche mußte ja unbedingt ein ›Feriendorf‹ haben, möglichst an der Ostsee und nur für ihre Leute und alles für ‘n Appel und `n Ei. Und wem die Ferien für seine Faulheit nicht ausreichten, der machte eben das ganz Jahr acht Stunden lang Ferien pro Tag, weil kein Mensch ihn rausschmeißen konnte, man hatte ja einen unbefristeten Arbeitsvertrag, praktisch unkündbar. Unter solchen Zwängen konnte sich natürlich kein Antrieb für Effektivität entwickeln. Alles war planmäßig eingeschnürt wie in einer Zwangsjacke.« Er zeigte mit ausgestrecktem Arm in Richtung des Elblaufes: »Sehen Sie hier noch einen einzigen Kahn? Früher wimmelte es hier nur so von diesen Riesenpötten, die für eine Fracht das Hundert- bis Zweihundertfache an Zeit brauchten wie ein LKW. Ein gewöhnlicher Trucker erledigt das heute auf der Straße im Handumdrehen. Eben effektiv.« Unseren vorsichtigen Einwand, Schiffstransporte seien doch für Klima und Umwelt, ja, eigentlich für die Menschen überhaupt, besser, tat er mitleidig lächelnd ab: »Der Kunde fragt nach Zeit, nicht nach Klima oder Umwelt. Zeit ist Geld.« Und angeregt von seinen eigenen Gedanken fuhr er immer begeisterter fort: »Was glauben Sie, warum die Bahn die Gleise hier abbaut? Aus Landschaftsschutz? Oder aus Sparsamkeit? Quatsch. Sie selbst legt doch alles von der Schiene auf die Straße, und zwar mit eigenem Fuhrpark. Die Bahn selbst verdient doch eine Menge dabei. Das ist Effektivität!«

Ein Pfiff signalisierte, daß die Fähre angekommen war. Unser Gesprächspartner mußte sich von uns losreißen: »Darüber könnte man stundenlang reden, aber ich muß los, daß ich den Fährmann erwische. Frau von K. will den Fährpreis vom Fährmann selbst wissen, sie haßt überflüssige Ausgaben.«

Schon auf dem Rückweg zum anderen Ufer sahen wir von der langsam hinübertuckernden Fähre aus, wie unser Mann mit seinem Schulbus in einer Staubwolke verschwand. Als die Staubwolke sich verzog, sahen wir eine Gruppe von fünf oder sechs Kindern, die mit der Fähre gekommen waren und sich mit ihren Ranzen auf den Heimweg in ihr Dorf machten.