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Titel2110

Farbe gehalten: Fritz Reuter  (Wolfgang Beutin)

Er zog selber das Fazit seines Lebens: Er habe »sehr kämpfen und streiten müssen, und wenn einer Augen hat zu sehen, so wird er zwischen den Zeilen meiner Schreibereien herauslesen müssen, daß ich immer Farbe gehalten habe und daß die Ideen, die den jungen Kopf beinahe unter das Beil gebracht hätten, noch in dem alten fortspuken«. Die Farbe war die dreigestreifte Fahne, die schwarz-rot-goldene, das Symbol der Demokratie in Deutschland.

Wie der israelische Historiker Walter Grab nachwies, muß der Aufbruch der – im Ursprung progressiven – deutschen Burschenschaften im Vormärz zu den oppositionellen, auch revolutionären Bewegungen der Epoche gezählt werden. Als Teilnehmer daran wurde der dreiundzwanzigjährige Bürgermeistersohn Fritz Reuter aus Stavenhagen im Herbst 1833 auf der Durchreise in Berlin verhaftet, widerrechtlich, da er kein Preuße, sondern Mecklenburger war. Das Urteil, erst 1836 gefällt, lautete auf Tod durchs Beil, wurde aber umgeändert in 30 Jahre Festungshaft. Sieben qualvolle Jahre verbüßte der Student in insgesamt sieben Haftanstalten bis 1840. In seinem Bericht »Ut mine Festungstid« (1837) klagte er über »de Niederträchtigkeit von Minschen, de ehr grausam Gelüst an uns utlaten wullen«, über die Peiniger, die im Kerker »dörch ’ne gründliche virjöhrige Bearbeitung ut en rodbackigen, frischen Burßen en bleikes Steinbild fabrizirt« hatten. Der Entlassung folgte eine zermürbende Spanne vergeblicher Bemühungen, sein Studium wiederaufzunehmen oder in verschiedenen Berufen Fuß zu fassen, ehe es dem ehemaligen Häftling gelang, sich in den 1850er Jahren als Schriftsteller durchzusetzen. Nun stellte sich der große literarische Erfolg ein, der ihm ein Leben im Wohlstand ermöglichte – bis zu seinem Tode in Eisenach 1874. Unter seinen Dichtungen sind der historische Roman »Ut de Franzosentid«; eine der glänzendsten Satiren der deutschen Literatur: »Urgeschicht von Meckelnborg«; die eindringlichste sozialrevolutionäre deutsche Dichtung des Zeitalters: das Versepos »Kein Hüsung« (unbehaust, obdachlos), sowie der gewichtigste deutsche Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts: »Ut mine Stromtid« (Aus meiner Landmannszeit).

Seine Schriften und sein Andenken litten in der Literaturgeschichtsschreibung unter einer lange währenden Schief- und Falschrezeption. Weil er Mecklenburger Szenerien bevorzugte, wurde sein Werk als »Heimatkunst« eingestuft. Es erfuhr primär eine Deutung mit Hilfe formaler Kategorien wie »Plattdeutsch« und »Humor«. Der NS-Literaturbetrachtung gegenüber erwies es sich dennoch als mächtig sperrig, so daß wichtige Bestandteile seines Figurenensembles der Verfemung verfielen: »halb literarisch angekränkelt, halb herausgewachsen aus primitiven Erinnerungen an Typen der Volksliteratur« (Paul Fechter). Im NS unverzeihlich: Wie konnte der Autor der »Stromtid« den human denkenden und nobel eingreifenden Juden Moses als eine Zentralgestalt ins Geschehen einführen? Den Dichter Reuter versah derselbe Paul Fechter, der in Hitlers Buch »Mein Kampf« den Höhepunkt der Literaturgeschichte erblickte, mit dem Etikett des »Unkultivierten, fast Antikultivierten«.

Die jüngere Forschung entdeckte den lesenden Reuter, der sich mit der besten Literatur seiner Epoche vertraut machte und in der Haft ganze Dichtungen auswendig lernte. In seinen Versdichtungen nahm er sich Byron zum Vorbild, in der »Franzosentid« Walter Scott, in der »Stromtid« Charles Dickens.

Ihren Tiefpunkt erreichte die Reuter-Forschung im Jahr des Kalten Kriegs 1960 zu seinem 150. Geburtstag. Ein westdeutsches Gedenkbuch zu Ehren des Jubilars wurde zur Hetzschrift gegen die Reuter-Forschung in der DDR (»systematisch angelegter Mißbrauch durch den Bolschewismus«, der »bolschewistische Geistesraub am Lebenswerk unseres Fritz Reuter«, »das kommunistische Gift«). Ausgehend von dem 1848er Demokraten Guido Weiß und dem marxistischen Literaturkritiker Franz Mehring hatte sich in der DDR eine ertragreiche Reuter-Forschung etabliert. Kurt Batt, Arnold Hückstädt, Christian Bunners und andere lieferten vorbildliche Ergebnisse.

Reuter läßt sich nicht als plattdeutscher Humorist abtun, schon deswegen nicht, weil er die Hälfte seiner Werke hochdeutsch abfaßte. Und gerade das grandiose Versepos »Kein Hüsung« ist durchtränkt von Bitternis: eine, wie Guido Weiß erkannte, »soziale Tragödie der Heimat, ein Stück von mecklenburgischem Bundschuhepos, ein dämonisch Lied«. In den besten Dichtungen ist Reuters Humor von der Erinnerung an düstere Erfahrungen unterfüttert.

Mit dem vielleicht berühmtesten Spruch aus der »Stromtid«: »… die große Armuth in der Stadt kommt von der großen Powerteh her!« hat man ein glänzendes Beispiel für eine Unterart des Witzes, den Unsinnwitz, vor sich! Wo ist der Ernst zu suchen? Die offensichtliche Absurdität der Erläuterung, die der Redner Bräsig in der Revolution von 1848 seinen Hörern zumutet, verweist in Wahrheit auf die Absurdität ökonomisch-sozialer Zustände der Ära, worin große Teile der europäischen Bevölkerung das Lebensnotwendigste entbehren, zur »Armuth« verdammt in Deutschland – in Frankreich zur »pauvreté«. Und Reuter karikiert überdies den von »Wirtschaftsweisen« feierlich verbreiteten Unsinn.

Wenn 1848 die Möglichkeit der Heraufkunft der Demokratie auch in Mecklenburg aufscheint, aber Skepsis bleibt, trägt Reuter diese in die »Urgeschicht« ein (wobei er für Demokratie, demokratische Freiheit setzt: »Fritägigkeit«, Freizügigkeit). Ein Bürger fragt: »›Äwer wat seggen wi unsere Inwahners man wegen de Fritägigkeit?‹ – ›Dor mak wi ehr blagen Dunst vör‹, säd de Parchensche Burmeister …«

Darauf verstehen sich die Herrschenden 150 Jahre später gleich Reuters Bürgermeister von Parchim noch immer: den Einwohnern »blauen Dunst« vorzumachen.