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Titel2111

Herzlos und rätselhaft?  (Wolfgang Schreyer)

Zum »arabischen Frühling« von Tunis bis Kairo fällt mir folgendes ein: Im Sommer 1961 schickt John F. Kennedy den Starjournalisten John Bartlow Martin nach Santo Domingo. Der Bürgerrechtler hat ihm im Wahlkampf als brillanter Redenschreiber gedient. Nun wird Martin Botschafter auf der zweitgrößten Karibikinsel. Er soll helfen, aus der Dominikanischen Republik nach 31 Jahren Trujillo-Tyrannei ein Schaufenster der Demokratie zu machen. Gleich bei seiner Ankunft zünden Aufrührer zwei Autos der US-Vertretung an.

Als Hoffnungsträger der »Allianz für den Fortschritt« wirkt Martin überfordert. Das hochverschuldete Land ist tief in Arm und Reich gespalten, die Kluft zwischen dem Massenelend und der Oligarchie – die das Militär auf ihrer Seite weiß – ist nicht zu schließen. Dazu noch scheint das Schaufenster, im Schatten Fidel Castros, auch von links bedroht! Und da das Übergangsregime nicht im alten Stil zuschlagen kann, wird es der Unruhen nicht Herr. Da fordert Martin FBI-Leute an, um die Polizei im Straßenkampf und im Gebrauch von Tränengas zu schulen. Dem smarten Liberalen fällt aber noch mehr ein: Neben der raschen Dollarspritze und garantiert freien Wahlen auch ein Auftritt des Orchesters Louis Armstrong, das die arbeitslose Jugend der Hauptstadt verzaubern soll.

Doch selbst mit derlei soft power glückt ihm nicht viel. Zumal Martin, der Mann des Ausgleichs, die lokalen Chefs von US-Konzernen wie Alcoa, ITT und United Fruit jäh gegen sich hat. Hinterrücks dringen sie im Außenministerium auf seine Ablösung. Und als er dies im Juli 1963 dem Präsidenten im Weißen Haus klagt, reagiert der genervt. Zwar erhält Martin Hilfszusagen und einen festem Händedruck, doch im Weggehen hört er JFK zum Stabschef sagen: »There he goes, the Earl E. T. Smith of this administration.« (Smith war Botschafter in Havanna, als Castro siegte – worauf die US-Botschaft dort bald schloß und bis heute leersteht.)

John B. Martin verließ Washington ernüchtert. Obgleich er Kennedy verehrte und dessen koboldhaften Humor als Teil der Fähigkeit zur Selbstkritik begriff, blieb ein Stachel in ihm. Denn der Vergleich stimmte ja gar nicht: Auf Cuba herrschten nun die Linken, in Santo Domingo aber stand der Feind inzwischen rechts. Mühsam machte er weiter. Und als, kurz vor JFKs Ermordung, der übliche Militärputsch sein Scheitern besiegelt, wird er abberufen. Bitter resümiert er in seinen Memoiren (»Overtaken by Events«), jedwede Regierungstätigkeit sei nicht nur herzlos, sondern auch rätselhaft, denn »man lebte in einer kalten, entfremdeten Welt. Die da meinten, sie faßten die Beschlüsse, ahnten oft gar nicht, welchen Weg die Dinge nahmen ... Fünfzig Männer lenkten die Nation, bei uns daheim wie in der hundertmal kleineren Dominikanischen Republik, und bloß zwei oder drei davon hatte das Volk gewählt. Der Rest hatte Macht einfach durch eine fast dynastische Heiratspolitik der alten und reichen Familien, wenn sie auch manchmal frisches Blut aufsogen.«

Überall fünfzig? Natürlich war das eine Fiktion, es hing ja nur davon ab, wo man den Kreis um das Machtzentrum zog. Aber genau diese Zahl hatte vor ihm schon, neun Jahre älter als Martin, der Kolumnist Herbert von Borch genannt, langjähriger USA-Korrespondent der Welt, als er in seinem Buch »Amerika – Die unfertige Gesellschaft« (München, 1960) ganz unumwunden schrieb: »Die Bildung einer Machtelite an der Spitze, die den demokratischen Prozeß gewissermaßen umschifft, begann um 1939, als Franklin D. Roosevelts New Deal der Exekutive in Washington so viel zentralisierte Macht gab, daß die Kreise, die in der Gesellschaft kraft der Macht des Geldes bestimmen, diese Exekutive nicht mehr allein lassen wollten. Sie hatten die Bemannung der Staatsgewalt seit dem Bürgerkrieg den Berufspolitikern überlassen, die sie, oft mit Erfolg, von außen zu kontrollieren gesucht hatten. Jetzt aber begann jene Osmose, erst zwischen den wirtschaftlichen und den politischen Leitern ..., zu denen dann mit dem Zweiten Weltkrieg die hohen Militärs kamen.«

Herbert von Borch fand eine Führungsspitze vor, die so fest etabliert war, daß jeder Präsident sich mit ihr die Macht teilen mußte. Die beiden Parteien lösten einander ab, der »Aktionskern« aber blieb. Gegen ihn kam auch ein Kennedy kaum an, selbst wenn er das einmal wollte. Denn »die höchsten Entscheidungen in Washington werden von 50 Männern getroffen, die den Präsidenten, seinen Stellvertreter, das Kabinett, die Generalstabschefs, den Chef des Geheimdienstes und den Stab des Weißen Hauses umfassen ... Die Mehrzahl kommt aus der Finanz- und Geschäftswelt. Vielleicht am einflußreichsten in der Machtelite sind die Rechtsberater der Investitionsbankiers oder diese selbst.«

»Es herrscht das Gesetz der Austauschbarkeit«, bemerkte von Borch. »Generäle wie Clay oder McArthur werden Firmenpräsidenten, Generaldirektoren wie Charles Wilson oder McElroy werden Verteidigungsminister ... Sie alle haben gesellschaftlich viel gemeinsam: einen eher konservativen Lebensstil, die Universitäten und Kriegsakademien und die Clubs ... Fast alle teilen den Mangel an Legitimierung durch die Volkswahl.«

Zwei alte Bücher, zu Unrecht vergessen, randvoll mit empirischen Eindrücken, der Lebenserfahrung dieser beiden Publizisten. Ein drittes folgt der Spur solcher Vorgänger, nun mit wissenschaftlicher Akribie. In seinem glänzenden Werk »Eliten und Macht in Europa« (Frankfurt am Main, 2007) prüft Michael Hartmann, Professor für Soziologie in Darmstadt, das Objekt ebenso nüchtern, wie er es lesbar beschreibt.

Im historischen Kontext zeigt Hartmann etwa, welche Karrieremuster rings um uns – und natürlich im eigenen Land – den Weg nach oben ebnen, woraus sich die Führungsschicht speist, wie Vermögen und Einkommen die Strukturen prägen; auch daß Herkunft und Homogenität der Eliten direkt mit dem Grad der sozialen Ungleichheit zusammenhängen: Je exklusiver nämlich eine nationale Elite, desto tiefer ist die Kluft zwischen Arm und Reich.

»Ohne massiven Druck seitens der Bevölkerung«, betont er, »wird sich am augenblicklichen Kurs, der die sozialen Unterschiede in Europa weiter verschärft, nichts ändern.« Denn unsere Oberschicht profitiere glänzend von einer Entwicklung, der Deutschlands Wiedervereinigung noch Zusatzschub verliehen hat. Das offenbare bei steigender Produktivität das Absinken der Reallöhne, während mit wachsenden Renditen die steile Anhebung der Topmanagergehälter in der Privatwirtschaft einhergehe. Dazu nennt Hartmann skandalöse Zahlen.

Und leider: »Der vielfach sogar dramatische Rückgang der Gewerkschaftsmitglieder, die massiv gesunkene Bereitschaft der Bevölkerung, sich politisch zu engagieren, die fast auf allen Ebenen wachsende Macht der großen Unternehmen und deren zunehmende Lobbyaktivitäten bei den nationalen Regierungen wie bei der EU in Brüssel sprechen nicht gerade für eine Verbesserung der Situation. Die Lage wird dadurch verschärft, daß die zentralen Instanzen der EU-Bürokratie nur in geringem Maße parlamentarischem oder gar direktem demokratischen Einfluß seitens der Bevölkerung der EU-Mitgliedsstaaten unterliegen.«

Auf Seite 244 schließt der packende Text: »Nur wenn die Verlierer sich wehren, beginnt vielleicht auch bei Teilen der Eliten ein Umdenken.« Solange nämlich die große Mehrheit passiv bleibt, »besteht für die Eliten kaum Anlaß, über ihr Vorgehen kritisch nachzudenken. Das machen sie in der Regel erst dann, wenn sie die Folgen selbst negativ zu spüren bekommen. Wer nur auf die Kraft der Argumente vertraut, wird deshalb immer wieder erleben, daß handfeste Interessen stärker sind.«

Ist Politik also herzlos, wie es John B. Martin im Kummer seines Scheiterns fand? Ja, sie kann nach seinen Worten »läppisch oder launisch, selten heilsam, häufig übelwollend« sein. Aber ist sie »rätselhaft, unermeßlich, zuletzt immer unerforschlich wie die Schöpfung oder das Leben selbst?« Nein, wer Hartmanns Buch gelesen hat, der glaubt das gewiß nicht mehr, sondern sieht klarer.