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Justiz auf Abwegen?  (Ralph Dobrawa)

Joachim Wagner ist vielen bisher vor allem aus seiner Zeit als Moderator des ARD-Fernsehmagazins Panorama bekannt. Jetzt hat sich der promovierte Jurist in einem Buch mit Problemen der Justiz auseinandergesetzt, die oft nur ungern in der Öffentlichkeit beleuchtet werden. Dies gilt vor allem für Innenansichten der Justiz. Dabei geht es keineswegs nur um Fragen der Angemessenheit der Besoldung, der Stellenbesetzung oder -streichung, die Ländersache sind und daher stark differenziert werden müssen. Wagner kommt zu dem Schluss, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Politik und Justiz erheblich beschädigt ist. Auswege aus der Krise können nur vorsichtig aufgezeigt werden.

 

Dabei wird nach meinem Eindruck viel Wert gelegt die Anfertigung von Statistiken zur Erfassung von Auslastung und Arbeitsbelastung der Richter. Ob das immer Wirklichkeit widerspiegelt, bleibt fraglich, da die Belastbarkeit einzelner Richter unterschiedlich ist. Während mancher bereits frühzeitig eine sogenannte Überlastung anzeigt, machen andere Dienst bis zum Umfallen – ohne zu murren. Das alles hat auch nicht wenig mit der Qualität der zu treffenden Entscheidungen und des in der einzelnen Sache zu betreibenden Aufwandes zu tun. Wagner verweist auf die »Berliner Tabelle« für die ordentliche Gerichtsbarkeit und die »Sachsen-Tabelle« für die Fachgerichtsbarkeiten. Beides Dokumente, die so vertraulich sind, dass sie kaum jemand zu Gesicht bekommt. Sie beinhalten eine Art Ranking der Gerichte. Da geht es um Qualitäts- und Effektivitätsunterschiede der Amtsgerichte, unter anderem nach den Kriterien Verfahrenslaufzeiten und Erledigungsquote. Ein Zivilrichter beim Amtsgericht hat im Durchschnitt etwa 575 Verfahren jährlich zu bearbeiten. Wagners Fazit überrascht: »Je größer der Druck durch eingehende Verfahren wird, desto mehr schaffen die Richter weg ...« Da ist allerdings zur Qualität dieser Erledigung noch nichts gesagt.

 

Welche Motive bringen jemanden dazu, Richter zu werden? Wagner spricht von 30 Prozent Idealisten, der Rest seien Pragmatiker. Mancher sei auch mehr oder weniger durch Zufall in den Richterberuf gelangt. Dabei kann immer nur der Anstoß »zufällig« gewesen sein, die Entscheidung für diese Tätigkeit doch wohl letztlich nicht. Ein Teil der von dem Autor Befragten sah als wesentliches Motiv für sich die Unabhängigkeit des Richters an: keine Weisungen in der Entscheidungsfindung und Arbeitsweise, freie Bestimmung der Arbeitszeit. Ob Letzteres aber unbedingt sein muss, um die Unabhängigkeit eines Richters in der Sachentscheidung zu gewährleisten, wird kaum überzeugen. Es ist sicher nur eine kleine Zahl von Richtern, die diese besondere Art der Freiheit vielleicht auch dann und wann »missbraucht«. Bei jenen, die nicht an ihrem Arbeitsplatz – dem Gericht – sind, kann nur schwer kontrolliert werden, ob und wann sie für die Rechtspflege tätig sind. Die Justizverwaltung wird hier vermutlich immer einwenden, dass es letztlich auf die Bewältigung des Arbeitsumfanges und die Qualität der richterlichen Tätigkeit ankommt. Das ist vorrangig richtig. Die grundgesetzlich geschützte richterliche Unabhängigkeit würde aber nicht angetastet, wenn auch Richter eine Art Kernarbeitszeit einhalten müssten. Einmal gewährte Privilegien, die über Jahrzehnte praktiziert wurden, sind bekanntermaßen nur schwer zurückzunehmen, ohne dass ein Aufschrei der Betroffenen mindestens riskiert würde. Deshalb rütteln Justiz und Politiker nicht an diesen Fundamenten. Der Apparat soll funktionieren. Frustrierte Richter machen ihre Arbeit möglicherweise weniger gut.

 

Ein Kapitel widmet Wagner der »Verweiblichung der Justiz«. War der Richterberuf noch bis tief in die 1960er Jahre weitgehend eine Männerdomäne, hat sich dies in den zurückliegenden Jahrzehnten deutlich geändert. Viele Frauen sind als Richterinnen und Staatsanwältinnen tätig. Der Autor kommt zu der Erkenntnis: »Alle sind sich einig, dass der Zustrom von Frauen die Justiz bereichert hat. Sie gelten als besser organisiert, effizienter und haben das Diskussionsklima in Kammern und Senaten verbessert.« So hat Familienfreundlichkeit in den Gerichten Einzug gehalten, um Schwangerschaft und Mutterschutz und daraus resultierende Ausfallzeiten personell zu bewältigen. Auch Teilzeitarbeit ist vor allem ein Thema, das weitgehend Frauen betrifft. Wer karrieremäßig allerdings ehrgeizige Ziele verfolgt, wird sich – wie in vielen anderen Berufen auch – entscheiden müssen, ob das Schwergewicht auf der eigenen Familie oder dem beruflichen Fortkommen liegt. So bleibt manche Frau dann lieber am Amtsgericht und verzichtet auf eine Stelle am nächst höheren Landgericht. Deshalb ist es auch nicht ungewöhnlich, dass es dann sogenannte Halbtagsrichterinnen gibt, die offiziell keineswegs so genannt werden. Teilzeit ist aber auch für das Unternehmen Justiz finanziell aufwendiger und organisatorisch schwieriger zu bewerkstelligen.

 

Heutzutage wird gern davon gesprochen, dass die Justiz ein Dienstleistungsbetrieb sei. Nach Wagner sehen das nur etwa knapp die Hälfte der von ihm Befragten so. Diese Skepsis scheint nicht unbegründet. Die Arbeit des Richters ist letztlich eine staatliche Tätigkeit der dritten Gewalt. Ihr den Stempel des Dienstleisters aufzudrücken dürfte nicht nur dem Ansehen der Justiz schaden, sondern auch die völlig falsche Illusion erwecken, der Richter sei mit anderen Dienstleistungsberufen auch nur annähernd vergleichbar. Es sollte auch nicht differenziert werden, wie es der Direktor eines Amtsgerichtes gegenüber Joachim Wagner machte, als er angab, der Strafrichter übe Macht aus, der Zivilrichter erbringe eine Dienstleistung. Auch an der Justiz ist nicht spurlos vorbeigegangen, dass ein Autoritäts- und Werteverlust eingetreten ist. So etwas ist ein schleichender Prozess. Viele Umstände haben hierzu beigetragen, nicht zuletzt auch unsägliche und inflationär durch private Fernsehsender ausgestrahlte Gerichtssendungen.

 

Das in der Praxis nicht selten anzutreffende Phänomen bei Richtern, dass Unabhängigkeit mit Unantastbarkeit gleichzusetzen sei, wird auch von Wagner problematisiert. »Arbeitszeitgestaltung und Arbeitsplatzwahl werden von Richtern weidlich genutzt«, lediglich die »quantitative Kontrolle richterlicher Leistungen« wird weitgehend hingenommen. Ob jemand gut oder schlecht arbeitet, beeinträchtigt nicht die Bezüge. Wagners Fazit: »eine übersteigerte Sensibilität der Richter gegenüber der Justizverwaltung und öffentlicher Kritik, Akzeptanzverluste der richterlichen Arbeit in Medien und Politik und eine zahnlose Dienstaufsicht«. Wer sich einmal eingerichtet hat, möchte auch an seinem Gericht bleiben. Deshalb sind Versetzungen gegen den Willen des Richters in eine andere Gerichtsbarkeit nicht möglich und innerhalb derselben eher die Ausnahme. Wagner spricht von »Dienst nach Vorschrift« und dem »Richter mit freizeitorientierter Schonhaltung«. Der eine oder andere werde auch mit durchgeschleppt, Wagner stellt fest, dass es »solche Fußkranken … an fast allen Gerichten und Staatsanwaltschaften« gibt. Daneben gibt es auch Ehrgeizige, die sich zu Höherem geboren fühlen und im Ernstfall auch vor Konkurrentenklagen nicht zurückweichen, wenn es um Bewerbungen für eine bestimmte höhere Stelle im Justizdienst geht. Kritisch sieht Wagner auch die Dienstaufsicht über Richter und bezeichnet sie als »zäh und zahnlos«. Selbst gegenüber Geringleistern sei das ein Problem. Auch die einzelnen Gerichtszweige untersucht der Autor näher, so die Zivil-, Straf-, Verwaltungs-, Arbeits-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit. Besonders in der Strafgerichtsbarkeit beklagt er das, was zum Titel seines Buches wurde: das Ende der Wahrheitssuche. Qualitätsverluste, wie die steigende Dauer von Strafverfahren, »schlampige Anklagen«, »unvorbereitete Hauptverhandlungen und lückenhafte Beweisaufnahmen« tragen hierzu nicht unwesentlich bei.

 

Ein Kapitel widmet Wagner den sogenannten Verständigungen, die seit einigen Jahren aus der früheren Grauzone herausgetreten und nun nicht nur gesetzlich geregelt sind, sondern inzwischen auch durch höchstrichterliche Rechtsprechung weiter ausgefeilt wurden. Es bleibt manches unbeleuchtet und unaufgeklärt, wenn nur das Ergebnis passt und alle Beteiligten damit leben können. So lässt sich Effizienz auch herstellen, aber um welchen Preis?

 

Das Buch ist eine schonungslose Kritik an der deutschen Justiz, jedoch nicht ohne Ausblick. Wer es gelesen hat, wird mehr von den internen Justizabläufen und -problemen wissen. Ob dafür in jedem Fall Verständnis aufgebracht werden kann, muss der Leser selbst entscheiden.

 

Joachim Wagner: »Ende der Wahrheitssuche«, Verlag C.H.Beck, 270 Seiten, 29,80 €