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Titel2118

Scheidung oder Lager  (Vera Friedländer)

Am 18. Oktober findet traditionell eine Gedenkstunde am »Gleis 17« in Berlin statt. Von dort erfolgten die Deportationen Berliner Juden in die faschistischen Vernichtungslager. Die 90-jährige Schriftstellerin Vera Friedländer sprach dort in diesem Jahr als Zeitzeugin:

 

Ich habe erlebt, was geschah. Auf dieser Brücke stand ich, als mein Vater in einen Zug steigen musste, der ihn in ein Arbeitslager brachte. Er hatte sich geweigert, sich von seiner jüdischen Frau, meiner Mutter, scheiden zu lassen. Er war kein Jude und musste wählen: Scheidung oder Lager. Er wählte das Lager.

 

Die Ehe meiner Eltern war eine »Mischehe«. Und ich war für die Nazis ein »Mischling 1. Grades«.

 

Es sollen 3000 Männer gewesen sein, die sich in das Lager der Organisation Todt (OT) bringen ließen, um ihre Familien zu schützen – ein ungewisser Schutz. Nur ganz wenige Männer wählten die Scheidung und gaben ihre Frauen – und wenn sie Kinder hatten, auch ihre Kinder – in die Hände der SS.

 

Ob es das Gleis 17 war, von dem mein Vater abfuhr, weiß ich nicht. Bereits seit drei Jahren fuhren von hier Züge mit Güterwaggons ab. Es waren Menschentransporte in Vernichtungslager. Mit ihnen wurde die große Berliner jüdische Familie deportiert, in der ich aufgewachsen bin.

 

Der industriemäßig betriebene Mord verlief nach Plan. Ende 1941 stand fest, dass alle Juden vernichtet werden. Und im Januar 1942 fand die Wannsee-Konferenz statt, wie sie später genannt wurde. Da wurde festgelegt, wie die »Endlösung der europäischen Judenfrage« – im Klartext: die vollständige Liquidierung der Juden Europas – zu organisieren ist und um wie viele Juden es sich handelt. Fünfzehn Männer saßen bei einem guten Frühstück in einer Villa am Wannsee beisammen und sprachen über die Ermordung von elf Millionen Menschen, darunter anderthalb Millionen Kinder.

 

Danach rollten die Deportationszüge. Aber der Nazi-Führung ging es nicht schnell genug mit dem Abtransport der Juden. Sie bereiteten die »Großaktion Juden« vor. Das war das, was nach 1945 die Bezeichnung »Fabrikaktion« bekam.

 

Die Fabrikaktion in Berlin begann am 27. Februar 1943. An jenem Tag und an den folgenden Tagen wurden die Juden aus den Fabriken und aus den Wohnungen geholt oder auf der Straße aufgegriffen. Tagelang wurde Jagd auf Juden gemacht. Auf LKW wurden sie durch die Straßen gefahren, zumeist auf offenen Lastkraftwagen – mehr als 8000 Menschen, gekennzeichnet mit dem gelben Stern. Diese Umzüge waren nicht zu übersehen. Das müsste jeder in der Stadt bemerkt und gewusst haben. Die Aufgegriffenen wurden zu Sammelstellen gebracht und Transporte zusammengestellt. Dann ging es zum Gleis 17.

 

In den Tagen der Fabrikaktion fuhren von dem Gleis fünf Züge ab. Einen möchte ich nennen, als Beispiel. Am 5. März gingen 1128 Juden auf Transport. Bei der Ankunft in Auschwitz mussten 151 Männer und 490 Frauen und Kinder sofort den Weg zu den Gaskammern gehen. Zwei Tage später waren sie nicht mehr am Leben. Und wie viele von denen, die als arbeitsfähig eingestuft worden waren, werden überlebt haben? Vielleicht reichen die Finger einer Hand, um sie zu zählen.

 

Meine Mutter kam in die Sammelstelle Große Hamburger Straße. Ich stand mit meinem Vater und vielen anderen Menschen davor. Menschenansammlungen waren verboten, doch wir kümmerten uns darum nicht, und niemand versuchte, uns zu vertreiben. Dort zu stehen und zu warten war eine Demonstration, ein Zeichen von Protest. Aber darüber habe ich damals nicht nachgedacht. Ich erinnere mich nur, dass es eisig kalt war und ich Angst um meine Mutter hatte.

 

Nach drei Tagen, spätabends, kam sie aus dem Haus. Wir verließen Berlin für mehrere Wochen, sicherheitshalber.

 

Die meisten Männer und Frauen aus »Mischehen« waren in der Sammelstelle Rosenstraße unweit der Großen Hamburger. In Berichten darüber ist oft nur von Männern die Rede, und dann heißt es: Am siebten Tag wurden sie freigelassen. Das ist historisch ungenau und nicht haltbar. Denn einige wurden bereits am dritten Tag aus der Sammelstelle Rosenstraße freigelassen, genau wie meine Mutter in der Großen Hamburger Straße. Und ihre Schwester konnte schon am zweiten Tag wieder nach Hause gehen.

 

Die Freilassung war keine Folge eines lauten Protestes von Frauen in der Rosenstraße. Auch Männer standen dort, und Szenen des Protestes gab es auch in der Großen Hamburger Straße, aber nicht, während wir dort standen. Schon eine Woche vor Beginn der Fabrikaktion, am 20. Februar, hatte auf Anordnung von Goeb-bels der Leiter der für die Organisation der Deportation zuständigen Abteilung im Reichssicherheitshauptamt, Adolf Eichmann, an alle beteiligten Nazi-Stellen die Weisung ausgegeben, Juden aus »Mischehen« und eine ganze Reihe anderer Juden vorerst nicht zu deportieren, sondern ihren jüdischen Status und ihre berufliche Qualifikation festzustellen, sie zu registrieren – für spätere Deportationen – und dann freizulassen.

 

Goebbels, »Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda«, fürchtete mit Recht größere Unruhen in der Stadt, wenn zu diesem Zeitpunkt auch diese Juden deportiert würden. Denn es gab mehrere tausend »Mischehen« in Berlin, und dazu gehörten nichtjüdische Angehörige, Freunde, Kollegen, Nachbarn, also viele Menschen, die bestimmt energisch protestiert hätten, vielleicht auch auf die Straße gegangen wären. Es war die Zeit unmittelbar nach Stalingrad, und die Stimmung in der Bevölkerung war schlecht. Goebbels brauchte eine stabile Heimatfront, um den Krieg fortsetzen zu können, und keine Unruhen in der Hauptstadt. Darum seine Order und Eichmanns Weisung.

 

Anderthalb Jahre ließen uns die Nazis in Ruhe. Dann kam der Angriff auf die »Mischehen« in jenem Herbst 1944, als ich auf der Brücke stand und um meinen Vater bangte.

 

Dass ich selbst gefährdet war, wusste ich nicht. Meine Mutter war in der Großen Hamburger Straße registriert worden und ich mit ihr. Das verschwieg sie mir. Im streng geheimen Protokoll der Wannsee-Konferenz, das erst nach dem Krieg bekannt werden sollte, ist dazu festgeschrieben: »Mischlinge 1. Grades sind im Hinblick auf die Endlösung den Juden gleichgestellt.« Das hieß: Sie sind wie diese zu liquidieren.

 

Wenn ich über diese Zeit spreche, nenne ich sie nicht »Nationalsozialismus«. Das Wort lenkt von der Unmenschlichkeit des Systems ab. Es war ein Werbewort der Nazis, um die Massen zu gewinnen, die sich unter Sozialismus etwas Erstrebenswertes vorstellten. Sie versprachen ihnen einen »nationalen Sozialismus«. Das war Betrug. Die Nation führten sie in den Krieg, und den Sozialismus bekämpften sie. Leider verwendet heute fast jeder in unserem Land das Wort, als sei es gesellschaftlich vorgeschrieben. Ich ziehe es vor, das System mit dem Wort zu bezeichnen, das international üblich ist: Faschismus, deutscher Faschismus. Es drückt nach meinem Empfinden genau das aus, woran wir hier erinnern.

 

Erinnerung ist ein Blick zurück, auch ein Nachdenken über das, was heute ist und was morgen sein kann. Es ist eine Mahnung, nichts zu vergessen, und eine Warnung vor neuer Gefahr. Ich fühle mich verpflichtet, darüber zu sprechen. Das bin ich der großen Familie schuldig, die es 1945 nicht mehr gab. Die Nummern der Transporte und die Namen auf den Transportlisten sind die letzten Zeugnisse ihrer Existenz. Das jüngste Opfer meiner Familie war das kleine Mädchen Bella. Es war noch nicht einmal zwei Jahre alt. Diese Erfahrung bestimmt mein Denken und Handeln.

 

Wir drei – meine Mutter, mein Vater und ich – haben alles überstanden. Meine Mutter war bis zuletzt in unserer Wohnung, unbehelligt. Eine Beamtin im Arbeitsamt für Juden hatte die Unterlagen meiner Mutter verschwinden lassen. Es gab nicht nur Täter und Opfer, es gab auch mutige Helfer. Aber sie waren selten. Wenige Tage, bevor die Rote Armee den Ring um Berlin schloss, stand mein Vater vor der Tür. Er war aus dem Lager geflohen. In dem Chaos jener Tage suchte niemand nach ihm. Und ich ging nicht mehr zur Zwangsarbeit. Ich war mit 16 Jahren zur Zwangsarbeit für den Reparaturbetrieb von Salamander in der Köpenicker Straße 6a-7 in Berlin-Kreuzberg geholt worden. Wir, die Zwangsarbeiter verschiedener Länder, wurden dort von SS bewacht, zur Arbeit angetrieben und manchmal auch misshandelt.

 

Mahnung und Warnung sind bitter nötig, weil menschenfeindliche Ideen massenhaft verbreitet werden, und Gewalttaten sind die Folge. Wir kennen die täglichen Nachrichten. Ich nenne trotzdem ein Beispiel. Im Frühjahr gab es eine Pressemeldung. In einem sächsischen Ort war ein Ausländerheim in Brand gesteckt worden. Leute der Umgebung halfen, Menschen zu retten und Verletzte zu versorgen. Etwas abseits stand eine Meute, die rief: »Lasst sie verbrennen!« In meinen Ohren hört es sich an, als hätten sie gerufen: »Schickt sie ins Gas!«

 

Um der Mahnung und Warnung willen stehe ich hier.

 

Bertolt Brecht schrieb über das Gedächtnis der Menschheit, es sei kurz. Man vergesse schnell und denke kaum an die Gefahr künftigen Leids. Und darum forderte er uns auch auf: »Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde! Lasst uns die Warnungen erneuern, selbst wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind!«

 

 

Vera Friedländer veröffentlichte: »Alfred Wohlgemuth. Ein unbesungener Held«, verlag am park in der edition ost (116 Seiten, 12,99 €); »Ich war Zwangsarbeiterin bei Salamander«, Das Neue Berlin (224 Seiten, 14,99 €).