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Zum »Fall« geworden  (Renate Hennecke)

»Obere Gartenstraße, Untere Gartenstraße, Parkstraße, Lerchenstraße, Ringstraße, Spielplatzstraße: So harmlos kommt er heute daher, der Ort, an dem zwischen 1940 und 1945 systematisch geschunden und ausgebeutet, gefoltert und gemordet wurde – das Gelände der Konzentrationslager an der Gusen. Doch schon der bloße Augenschein genügt, um Plänen der KZ-Anlagen abzulesen, wie tief sich die mörderische Vergangenheit in die Einfamilienhaus-Gegenwart eingeschrieben hat. Straßen und Wegführungen folgen wacker alten Lagerstrukturen, und wo ehedem Zigtausende ›Schutzhäftlinge‹ zu Tode kamen, stehen heute Thujenhecken und Gartenzwerge, Baumarkt-Zäune und der blühende Traum aus dem Pflanzenversandkatalog als Wacht des großen Eigenheimer-Glücks.«

 

Das Kapitel in Wolfgang Freitags Buch über den ehemaligen Gusen-Häftling Karl Horvath, das mit diesen Sätzen beginnt, hat die Überschrift »Das vergessene KZ«. Nachdem schon bald nach der Befreiung die Entscheidung gefallen war, auf dem Gelände des nahen KZ Mauthausen eine Gedenkstätte zu errichten, wurden die vielen anderen Lager in Österreich weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. So auch Gusen. Dabei waren die Haftbedingungen hier sogar noch härter, wurde das Prinzip »Vernichtung durch Arbeit« hier noch erbarmungsloser praktiziert als in Mauthausen. Ab 1940 in den Granit-Steinbrüchen der SS-eigenen Deutschen Erd- und Steinwerke GmbH (DESt), später in den unterirdischen Stollen, in denen die Rüstungsfirma Messerschmitt Flugzeugteile produzieren ließ. Freitag zitiert den Wiener Zeitgeschichtler Bertrand Perz: »Ca. 60.000 Häftlinge verblieben für längere Zeit in den Gusener Lagern, mindestens 35.000 kamen dort zu Tode.«

 

Ein gesamtgesellschaftliches Versagen erkennt Freitag in dem Umgang mit der NS-Geschichte nach dem Krieg. »Hier haben nicht einzelne Bürger, hier hat eine ganze Republik versagt. Weil sie versagen wollte. Und weil sie möglicherweise sogar versagen musste ...«

 

Der privaten Initiative von Überlebenden war es zu verdanken, dass 1967 über den Resten des Krematoriums das Memorial Gusen errichtet wurde. Erst 2004 eröffnete das Innenministerium ein Besucherzentrum mit Dauerausstellung. Aber wer verirrt sich schon hierher? Wolfgang Freitag geht auf seine Weise gegen das Vergessen an. Im Februar 2017 veröffentlichte er in der Wiener Tageszeitung Die Presse eine biografische Skizze über »Onkel Karl aus dem KZ«.

 

Dieser »Onkel«, Karl Horvath, wurde Ende Juni 1939 von seiner Arbeitsstelle im Straßenbau weg verhaftet. Als »Zigeuner« galt er als »außerhalb der Volksgemeinschaft stehend« und somit per se als »asozial«. Die Verhaftung wurde gerechtfertigt als Akt »vorbeugender Verbrechensbekämpfung« ohne Richterbeteiligung (ein Konzept, das heute wieder in Mode kommt). Von Dachau wurde Horvath nach Buchenwald, von Buchenwald 1941 nach Gusen verbracht. Tatsächlich schaffte er es, bis zur Befreiung am 5. Mai 1945 zu überleben. Noch kein Jahr in Freiheit, wurde er Anfang März 1946 erneut festgenommen und eingesperrt. Andere »Ehemalige«, polnische Juden, beschuldigten ihn, sich 1944/45 im Lager Gusen II als »Funktionshäftling« (Kapo) an der Misshandlung und Tötung mehrerer hundert jüdischer Häftlinge beteiligt zu haben. Horvath bestritt das beharrlich: Nie sei er in Gusen II und nie Kapo gewesen, es müsse sich um eine Personenverwechslung handeln. Er selbst habe immer nur in Gusen I als Mitglied der Lagerkapelle Ziehharmonika gespielt. Vergeblich. Nach dem Kriegsverbrechergesetz zu 15 Jahren schwerer Kerkerhaft verurteilt, gelang es Horvath nach sechs Jahren, mit Hilfe des polnischen KZ-Verbandes Zeugen zu finden, die seine Aussagen bestätigten. Im Wiederaufnahmeverfahren wurde Horvath freigesprochen, freilich ohne für die abgesessenen Jahre eine Haftentschädigung zu erhalten: Irgendjemand hatte auf eine der Urteilsausfertigungen nachträglich mit der Hand »mangels an Beweisen« geschrieben. Den Rest seines Lebens verbrachte Horvath auf dem Zöhrdorfer Feld, einem mittlerweile längst eingemeindeten ehemaligen »Scherbenviertel« südwestlich von Linz. Bei anderen Ausgegrenzten fand er Familienanschluss, bekam sogar in den 1960er Jahren eine eigene Wohnung. Vor allem aber kümmerte er sich liebevoll und fürsorglich um einen vaterlosen Jungen, der ihn als »Onkel Karl« bis heute in guter Erinnerung hat.

 

Die biografische Skizze über den Gusen-Häftling Karl Horvath bildet die Grundlage des Buches »Der Fall Karl Horvath. Ein Loipersdorfer ›Zigeuner‹ vor dem Linzer Volksgericht« von Wolfgang Freitag. Karl Horvath ist darin zum »Fall« geworden – und das ist nicht negativ gemeint. Seine Geschichte dient zur exemplarischen Darstellung der Diskriminierungs- und Verfolgungsgeschichte der Roma und Sinti in Österreich. Entsprechend wird der jeweilige Hintergrund beleuchtet: die weit – bis vor die Zeit von Maria Theresia – zurückreichende Tradition der Ausgrenzung und Diffamierung, die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die Gleichsetzung von »arbeitslos« mit »arbeitsscheu« Wurzeln schlagen konnte, das Funktionieren des beschönigend »Häftlingsselbstverwaltung« genannten Gewaltsystems in den KZs der Nazis, die bürokratischen Mechanismen, mit denen in der Nachkriegsgesellschaft ehemalige Verfolgte, insbesondere Roma und Sinti, um die ihnen zustehenden Fürsorgeleistungen gebracht wurden. Was als allgemeine Schilderung trocken wirken könnte, erhält im Zusammenhang mit dem »Fall Horvath« konkreten Sinn und bleibt im Gedächtnis. Wolfgang Freitag ist auf diese Weise ein in doppelter Hinsicht aufklärerisches Buch gelungen: ein Buch über das »vergessene KZ« Gusen und ein Buch über Situation und Geschichte der Roma und Sinti in Österreich.

 

 

Wolfgang Freitag: »Der Fall Karl Horvath – Ein Loipersdorfer ›Zigeuner‹ vor dem Linzer Volksgericht«, Mandelbaum, 128 Seiten, 15 €