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Zum 50. Todestag von Lise Meitner  (Manfred Orlick)

Die Entdeckung der Kernspaltung im Jahre 1938 wird gewöhnlich mit dem Namen des deutschen Chemikers Otto Hahn verbunden. Der grundlegende Beitrag der österreichischen Kernphysikerin Lise Meitner dagegen ist weitgehend in Vergessenheit geraten.

 

Lise Meitner wurde am 17. November 1878 als drittes Kind eines jüdisch-liberalen Elternhauses in Wien geboren. Der Tochter eines angesehenen Anwalts blieb der Weg zu höheren Lehranstalten jedoch versperrt, denn Mädchen durften damals in Österreich keine Gymnasien besuchen. In Privatkursen und im Selbststudium erreichte sie schließlich die Allgemeine Hochschulreife. Danach entschloss sie sich, Physik zu studieren. Bereits während des Studiums beschäftigte sich Meitner mit Fragestellungen der Radioaktivität. Mit 28 Jahren erlangte sie den Doktortitel, damit war sie in der Geschichte der Wiener Universität erst die zweite promovierte Frau.

 

Nach dem Studium ging Meitner nach Berlin – ausgerechnet nach Preußen, wo Frauen erst ab 1908 zum Studium zugelassen wurden. Hier besuchte sie die Vorlesungen von Max Planck; doch nur der junge Chemiker Otto Hahn bot dem österreichischen »Fräulein Doktor« die Zusammenarbeit an, die dreißig Jahre äußerst produktiv sein sollte. Das »Zweierteam auf Augenhöhe« konnte bald wissenschaftliche Ergebnisse vorweisen, die auf großes Interesse in der Fachwelt stießen.

 

Der Erste Weltkrieg unterbrach ihre Arbeiten, und beide konnten sich der patriotischen Euphorie nicht entziehen. Als Hahn dem »Giftgasbataillon« an der Westfront zugeteilt wurde, beglückwünschte Meitner ihn nach dem deutschen Giftgasangriff von Ypern (22. April 1915) sogar recht naiv »zu dem schönen Erfolg«. Als sie später als Röntgenschwester an der österreichischen Ostfront freiwillig ihren Dienst verrichtete, lernte sie aber die Schrecken des Krieges selbst kennen. Während des Krieges konnten Hahn und Meitner ihre Zusammenarbeit trotzdem fortsetzen; so entdeckten sie 1917 das Element Protactinium. Nach Kriegsende trennten sich ihre wissenschaftlichen Wege zwar, aber sie blieben stets in engem Kontakt. Lise Meitner wurde Leiterin der physikalisch-radioaktiven Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie. In der Weimarer Republik machte sie als Frau eine beispiellose Karriere bis zur außerordentlichen Professorin für experimentelle Kernphysik an der Berliner Universität und war damit Deutschlands erste Physikprofessorin.

 

Nach der Machtübernahme entzogen die Nazis Meitner aufgrund ihrer jüdischen Abstammung die Lehrerlaubnis. Zunächst konnte sie am nichtstaatlichen Kaiser-Wilhelm-Institut ihre Forschungen fortsetzen, aber mit der Annexion Österreichs 1938 wurde sie deutsche Staatsbürgerin und war damit von den Nürnberger Rassengesetzen betroffen. Mit Hahns Hilfe floh Meitner nach Schweden, wo sie eine bescheidene Anstellung am Nobel-Institut für Physik fand.

 

In Berlin gelang Hahn mit seinem Assistenten Fritz Straßmann im Dezember 1938 erstmals die Spaltung des Uran-Kerns durch Neutronenbeschuss. Keiner der beiden hatte jedoch eine Erklärung dafür, denn nach dem damaligen Stand der Wissenschaft galt das Dogma der Unspaltbarkeit von Atomkernen. Hahn bat daher Meitner in einem Brief um ihre Hilfe bei der Interpretation der Ergebnisse: »Es würde mich natürlich sehr interessieren, Dein Urteil zu hören. Eventuell könntest Du etwas ausrechnen und publizieren.« Mit ihrem Neffen, dem Kernphysiker Otto Robert Frisch, gab sie eine erste physikalisch-theoretische Deutung. Es musste tatsächlich eine Spaltung des Kerns gegeben haben.

 

Für die Entdeckung und den radiochemischen Nachweis der Kernspaltung erhielt Otto Hahn den Nobelpreis für Chemie 1944 (überreicht erst 1946), Lise Meitner und Otto Frisch wurden dagegen nicht berücksichtigt. Aus heutiger Sicht eine Fehlentscheidung, denn die Entdeckung der Kernspaltung war eine Gemeinschaftsarbeit.

 

Nun begann der internationale Wettlauf um den Bau der Atombombe, Meitner lehnte eine Mitarbeit am englisch-amerikanischen Atombomben-Projekt ab, Hahn distanzierte sich demonstrativ vom deutschen Uranverein. Ab 1947 leitete Lise Meitner die kernphysikalische Abteilung der Königlich Technischen Hochschule Stockholm. Erst 1960 verließ sie Schweden und siedelte nach Cambridge über, wo sie am 27. Oktober 1968 mit fast neunzig Jahren starb.

 

Zum 50. Todestag von Lise Meitner ist im Leipziger Buchfunk Verlag ein Audiobuch erschienen, das die Lebensstationen der Physikerin näher beleuchtet, wobei der Schwerpunkt auf ihren Exiljahren liegt. Die Textcollage von Stefan Frankenberger mit Musik nimmt den Hörer aber auch auf eine spannende Reise in die Welt der Physik des 20. Jahrhunderts.

 

 

Stefan Frankenberger: »Deine Lise – Die Physikerin Lise Meitner im Exil«, Buchfunk Verlag, 2 Audio-CDs, Spieldauer 100 Minuten, 20,95 €