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Toter Schwan und brennende Fackel  (Renate Hennecke)

Eine Handvoll waren sie – fünf junge Männer zwischen 17 und 20 Jahren, die im Mai 2019 Anstoß daran nahmen, dass eine Gruppe französischer Roma bei dem Ort Erbach-Dellmensingen (Alb-Donau-Kreis) eine Wiese gemietet hatte und die heißen Frühsommertage dort verbrachte. Einen konkreten Anlass für ihre Feindseligkeiten gab es nicht; die fünf jungen Männer fanden einfach, Roma seien unerwünscht. Auch glaubten sie, im Sinne der Dorfmehrheit zu handeln. In mehreren Stufen eskalierten sie ihre Angriffe. Als erstes stellten sie eine Tafel mit der Aufschrift »Nicht willkommen!« auf. Dann erschreckten sie die Camper durch einen Böller. Dann legten sie ihnen einen toten Schwan vor die Tür. Schließlich warfen sie nachts aus einem fahrenden Auto eine brennende Fackel zwischen die Wohnwagen. Die Fackel landete neben einem Wagen, in dem eine junge Frau mit ihrem neun Monate alten Baby schlief. Glücklicherweise konnte ein geistesgegenwärtiger Mann den Brandsatz rechtzeitig weit wegwerfen, so dass niemand verletzt wurde. Die Roma flohen in Panik, wie seit Jahrhunderten ihre Vorfahren vor antiziganistischen Verfolgungen hatten fliehen müssen.

 

 

Kein Mordversuch, keine Brandstiftung?

Die fünf jungen Männer wurden verhaftet und wegen versuchtem Mord vor Gericht gestellt. Als im Mai 2020 die Hauptverhandlung vor der Großen Jugendkammer des Landgerichts Ulm eröffnet wurde, sagte ein sachverständiger Zeuge aus, die Fackel sei nicht geeignet gewesen, einen Wohnwagen in Brand zu setzen. Und der Fackelwerfer gab an, er habe die Fackel gezielt so geworfen, dass sie in zwei Meter Entfernung von dem Wohnwagen mit der Mutter und dem Baby gelandet sei. Eine Brandstiftung sei nicht beabsichtigt gewesen. Aus dem fahrenden Auto so zielgenau geschleudert? Wer kann das glauben? Jedenfalls wurden die Haftbefehle aufgehoben, alle fünf auf freien Fuß gesetzt. Es habe sich möglicherweise ja nicht um versuchten Mord und versuchte Brandstiftung gehandelt, sondern nur um Nötigung. Das hieß aber nicht, dass der Motivation der Angeklagten keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

 

 

Das Urteil

Am 23. September wurden alle fünf Angeklagten wegen »Vertreibung beziehungsweise gemeinschaftlicher Nötigung in 45 Fällen« nach dem Jugendstrafrecht verurteilt. Alle Strafen wurden zur Bewährung ausgesetzt. Als Motivation der Tat nannte das Gericht ausdrücklich Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antiziganismus. Diese Einstellungen seien bei den Tätern auch weiterhin vorhanden. Alle Angeklagten wurden verpflichtet, die KZ-Gedenkstätte Dachau zu besuchen und danach einen zehnseitigen handschriftlichen Bericht über ihre Erfahrungen, Gefühle und Eindrücke anzufertigen. Zwei der Angeklagten müssen Geldstrafen in Höhe von 1200 Euro an die Hildegard Lagrenne Stiftung zahlen. Die Stiftung wurde für Bildung, Inklusion und Teilhabe von Sinti und Roma in Deutschland gegründet, da aufgrund der jahrhundertelangen und noch andauernden Geschichte der Diskriminierung und des Antiziganismus Sinti und Roma geringere Bildungschancen haben als Angehörige der Mehrheitsbevölkerung.

 

Zu dem Urteil sagte Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, der schon im NSU-Prozess als engagierter Nebenklägervertreter aufgefallen ist: »Die Nebenklage kann mit dem Urteil leben, weil das Gericht die antiziganistische Hassmotivation klar benannt hat.«

 

 

Was sich die Nebenklage gewünscht hätte

Vor dem Ende des Prozesses hatte Daimagüler in einem beeindruckenden Plädoyer differenziert ausgeführt, was für ein Urteil sich die junge Mutter, neben deren Wohnwagen die brennende Fackel gelandet war, und er selbst gewünscht hätten:

 

»... Die Staatsanwaltschaft hat für alle Angeklagten mit Ausnahme von Herrn P. Haftstrafen beantragt. Dies trägt die Nebenklage nur teilweise mit. Meine Mandantin möchte nicht, dass die Angeklagten ins Gefängnis gehen. Anders als die Angeklagten selbst hat sie die Fähigkeit zu Liebe, Nachsicht und zum Verzeihen. Zudem glauben wir nicht, dass das Gefängnis aus den Angeklagten bessere Menschen macht, im Gegenteil. Wir wollen, dass die Angeklagten eine Ausbildung machen und Gelegenheit bekommen, ihr Leben ins Lot zu bringen.« Während der Rechtsanwalt dem Angeklagten P. sein Bedauern über die Tat glaubte, war dies bei dem Angeklagten O. nicht der Fall. O. habe sich zwar wie die anderen Angeklagten bei den Roma entschuldigt, doch habe er noch lange Zeit nach der Tat einen Instagram-Account betrieben, auf dem mit dem Hitlergruß kommuniziert wurde. »Im Falle von Herrn O. halte deshalb auch ich eine Haftstrafe ohne Bewährung für tat- und schuldangemessen.« Für die anderen Angeklagten beantragte Daimagüler Haftstrafen auf Bewährung. Außerdem sollten alle Angeklagten ein Stadionverbot erhalten und nach Ermessen des Gerichtes zu Geldstrafen zugunsten der Hildegard Lagrenne Stiftung verurteilt werden. Die Angeklagten P. und D. sollten von der Zahlung befreit sein, weil sie im Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs bereits eine Entschädigung geleistet hatten. »Schließlich und endlich: Wir halten nichts davon, die Angeklagten zu einem Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau zu verurteilen. Was soll das bringen? Eine Führung zur Erfüllung nach Weisung? Ich meine, dass man auch den Angestellten der Gedenkstätte nicht zumuten kann, desinteressierte Nazis durch das Lager zu führen. Mein Vorschlag ist ein anderer: In Ulm wurden, wie an vielen anderen Orten in Deutschland, sogenannte ‹Stolpersteine› in den Boden gelassen, überall dort, wo Opfer der Nazis gelebt hatten, bevor man sie verschleppte und ermordete. Diese Opfer sind Juden, Sinti und Roma, Menschen mit geistiger Behinderung, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, Kriegsdienstverweigerer, Gewerkschafter und politisch Andersdenkende. In Ulm sind etwa 100 Stolpersteine verlegt. Ich beantrage, dass die Angeklagten F., D. und B. verurteilt werden, in einem Zeitraum von zwei Jahren einmal im Monat, voneinander getrennt und unter Aufsicht, diese Stolpersteine zu reinigen. Sollte der Angeklagte O. ebenfalls zu einer Bewährungsstrafe verurteilt werden, so soll auch er dazu verurteilt werden. Der Angeklagte P. soll für die Dauer eines Jahres einmal im Monat die gleiche Arbeit verrichten. … Im Anschluss soll jeder der Angeklagten einen handgeschriebenen Aufsatz von 25 Seiten darüber schreiben, warum das Gedenken an die Opfer der Nazis so wichtig ist und was sie persönlich bei ihrer Arbeit gelernt haben.«

 

Der Nebenklagevertreter beendete sein Plädoyer mit einem Dank an die Polizei, an die Staatsanwaltschaft und das Gericht, »weil sie von Anfang an den antiziganistischen, rassistischen und rechtsextremen Hintergrund der Tat klar benannt beziehungsweise untersucht haben. Das ist weiß Gott nicht selbstverständlich.«

 

 

Das Plädoyer von Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler ist nachzulesen unter: https://zentralrat.sintiundroma.de/antiziganismus-tatmotiv-fuer-brandanschlag/.