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Piranesi: Akribisch, virtuos, umstritten  (Klaus Hammer)

Für die einen waren seine »carceri d’invenzione«, seine erdachten Gefängnisse, mit ihren gewaltigen Raumfluchten und unendlichen Labyrinthen die eigentliche Welt des Künstlers, für die anderen waren es die bloßen Szenarien zügelloser Einbildungskraft, der Alpträume und Schreckensvisionen, in denen sie die Abgründe des eigenen Ich wiederfanden. Auf alle Fälle galt er schon zu Lebzeiten, im Zeitalter der europäischen Aufklärung und des Klassizismus, als eine Ausnahmeerscheinung, dieser römische Venezianer, der Architekt und Antiquar, der Zeichner und Radierer Giovanni Battista Piranesi (1720–1778), der auch ein geschäftstüchtiger Kunsthändler war. Er vermaß und rekonstruierte das dem Verfall widerstehende antike Rom in seiner perspektivischen Vielfalt mit großer Akribie und Virtuosität und sah in den visionär übereinander getürmten Riesenbauten der Römer den verpflichtenden Ausdruck schöpferischer Originalität, den er seinem Jahrhundert anempfahl. Man weiß nicht, ob es mehr der kühne, visionäre Dichter als der genau kalkulierende Architekt war, der ihm den Ruhm seiner Mit- und Nachwelt eintrug. Von der europäischen Romantik wurde Piranesi in die Schar verwegener Empörer gegen göttliches Gebot von Luzifer und Prometheus bis zu Michelangelo eingereiht, in der er sich zweifelsohne selbst gern gesehen hätte.

 

Zu seinem 300. Geburtstag zeigt jetzt die Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin, die zusammen mit dem benachbarten Kupferstichkabinett über eine bedeutende Sammlung seiner Druckwerke, Zeichnungen und Radierungen verfügt, erstmals in dieser Dichte und Breite das Werk des italienischen Meisters. Mit den »Vedute di Roma – Ansichten von Rom«, dem monumentalsten Werk Piranesis, das in einer repräsentativen Auswahl vorgeführt werden kann, wandert der Besucher gleichsam durch die antike wie moderne Baukultur des 18. Jahrhunderts, wirft einen Blick ins Colosseum, betrachtet den Septimus-Severus-Bogen auf dem Römischen Forum, ist überwältigt vom Panorama der Piazza Navona, unternimmt eine Bootsfahrt vorbei an der Engelsburg, lässt die von Pflanzen überwucherten Überreste der Diokletiansthermen oder die imposante Schutzmauer des Augustusforums auf sich wirken. So etwa könnte auch das Pflichtprogramm des heutigen Rom-Besuchers aussehen.

 

Piranesis archäologische Werke erreichten nicht die gleiche Wirkung – sie waren schon zu Lebzeiten heftig umstritten – wie seine »Ansichten von Rom«, die im Grunde das visionäre Bild der Ewigen Stadt im 18. und 19. Jahrhundert prägten. Während Johann Joachim Winckelmanns ästhetisches Ideal der »edlen Einfalt und stillen Größe«, wie er erstmals 1755 die griechische Skulptur charakterisiert hatte, zusehends an Einfluss gewann, verteidigte Piranesi in der griechisch-römischen Kontroverse die Originalität und Eigenständigkeit der römischen Architektur. Er wollte die Strukturen der antiken Stadt, die unvergleichliche Vielfalt ihrer monumentalen Grundriss- und Raumformen im Spiegel des von ihr geprägten modernen Rom erkennen und darstellen. Entstehen und Verfall sollten im unaufhaltsamen Fortschreiten der Zeit begriffen werden.

 

Die »Vedute di Roma« führte der Künstler vom Ende der 1740er Jahre bis zu seinem Tode einzeln oder gruppenweise aus und prägte damit die konventionelle Form der grafischen Vedute – zum Souvenir verkommen – zu einer Darstellung von höchster expressiver Kraft um. Virtuos setzte er seine grafischen Möglichkeiten ein – angefangen von dem an- und abschwellenden Duktus der Linien über die Gestaltung einer malerisch ansprechenden Szenerie bis zum dynamischen Spiel der Luftperspektive und der Lichteffekte, dem Setzen malerischer Kontraste und Spannungen.

 

Den teils antikisierenden, teils barocken Phantasie-Architekturen ist nicht anzumerken, dass der Künstler den realen Bauzustand mitbedacht hätte. Nachgezeichnete römische Antiken und frei nachempfundene Architekturreste sind miteinander verwoben. Der Betrachter fühlt sich gleichsam in das unüberschaubare System der Bauten, in die unendlichen Fluchten von Galerien, Treppenhäusern und Säulenhallen mit einbezogen. Er kommt sich ebenso verloren vor wie die Figuren auf Treppen und Denkmalsockeln, die unmöglich die Baumeister dieser mächtigen Architekturwerke gewesen sein können. Es gibt bei Piranesi enorme Kontraste in den Raum- und Größenverhältnissen, aber auch in den Bedeutungsebenen zwischen Alltagswelt und hoher Kultur. Aber gerade diese Kontraste schaffen dramatische Szenerien. Das heroisierte Einzelmonument wird zum beredten Zeugnis einer überragenden Geschichte, das in einem grotesken Missverhältnis zu seiner gegenwärtigen Umgebung steht. Er war alles andere als ein Phantast und krankhaftes Genie, das außerhalb seiner Zeit und Umwelt stand. In seinen Rom-Veduten hat er archäologische Rekonstruktion und phantastische Fiktion zusammengefügt und damit der Mit- und Nachwelt eine außergewöhnliche Herausforderung übermittelt.

 

Aber auch die »Carceri« wurden in der Überarbeitung von 1760 für die künstlerische Avantgarde der nachfolgenden Generationen zu einer chiffrierten Botschaft über die Geheimnisse einer vom Subjekt nur mehr scheinbar beherrschten Wirklichkeit, in der die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt gefallen waren, das Spiel mit dem Unbewussten ins Unendliche getrieben werden konnte. Perspektive und Beleuchtung führen zu den Paradoxien der Konstruktion, zum Traumcharakter und zur Kulissenhaftigkeit der Kerkerszenen, die von einer vieldeutigen Schattenwelt menschlicher Wesen bevölkert werden. Alles dient der Rekonstruktion eines Wachtraums im Ich des Betrachters. Mit den »Carceri« wurde Piranesi zum Anreger und Vorläufer des modernen Subjektivismus: Der Künstler nicht mehr als Nachahmer der Natur, sondern selbst Schöpfer einer Welt nach den Gesetzen der Phantasie, die er der Wirklichkeit abringt.

 

Der heutige Betrachter der imaginären Gefängnisse Piranesis, der Kerker seiner Phantasien, fühlt sich aber weniger den gefesselten Titanen in der Art der Sklaven Michelangelos verwandt als vielmehr dem Knäuel gequälter Menschheit in Piranesis Verliesen: »winzig und stumm / schlaflose träumer / gefangene / nicht besiegte«, wie es in Hans Magnus Enzensbergers Gedicht »carceri d’invenzione« heißt.

 

»Das Piranesi-Prinzip. Zum 300. Geburtstag des großen italienischen Meisters«, Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Kulturforum Potsdamer Platz, Eingang: Matthäikirchplatz, Di, Mi, Fr 10-18 Uhr, Do 10-22 Uhr, Sa und So 11-18 Uhr, bis 7. Februar 2021, Katalog 27 €