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Briten werden niemals Sklaven sein  (Johann-Günther König)

Die inoffizielle Nationalhymne »Rule Britannia«, die eigentlich alljährlich in der »Last Night of the Proms« inbrünstig vom Publikum gesungen wird (2020 coronabedingt jedoch nicht), enthält die Forderung: »Herrsche, Britannia. Briten werden niemals Sklaven sein«. Das patriotische Lied des englischen Komponisten Thomas Augustine Arne (1710–1778) und der Texter James Thomson und David Mallet stammt aus dem Jahr 1740, also aus einer Zeit, da es noch keine EU, geschweige denn einen Austritt zum Zwecke des »Take back control« aus ihr gab. Wobei die Verhandlungssituation beim geplanten Folgeabkommen nahezu aus der Kontrolle geraten ist. Offenbar spielen Premier Boris Johnson und sein Chefverhandler David Frost mit der Ankündigung eines rigorosen No-Deal-Kurses va banque. Schon aufgrund ihrer Drohung vom 16. Oktober, weitere Verhandlungen seien sinnlos, sollte die EU ihre Position nicht »grundsätzlich ändern«, bleibt noch abzuwarten, ob beziehungsweise wie sehr sich die übrig gebliebenen 27 EU-Mitgliedsstaaten hinsichtlich der umstrittenen »fairen Wettbewerbsbedingungen« auf die stark abweichenden Vorstellungen ihrer Kontrahenten von der Insel einlassen. (Der Streit um die Fischereirechte in allen Ehren – er ist, rein ökonomisch betrachtet, schlicht irrelevant.)

 

Die Parole »Herrsche, Britannia. Briten werden niemals Sklaven sein« stammt aus einer Zeit, als es zwar keine die Briten »versklavende« EU, dafür aber einen prosperierenden Handel mit von Briten versklavten Menschen gab. Im Rahmen des sogenannten Atlantischen Dreieckshandels segelten im 17. und 18. Jahrhundert unentwegt vollbeladene Schiffe von Bristol, Glasgow und Liverpool zur Küste Westafrikas, wo die Waren gegen auf dem Kontinent gefangengenommene Afrikanerinnen und Afrikaner getauscht wurden. Nach dem Transport über den Atlantik wurden die versklavten Menschen auf amerikanischen Plantagen zur Arbeit gezwungen. Die Produkte der Sklavenarbeit füllten wiederum die Laderäume der Schiffe für die Rückreise nach Großbritannien. Forschungen des Historikers David Richardson zufolge sind von britischen Schiffen mindestens 3,4 Millionen gefangene Afrikanerinnen und Afrikaner nach Amerika verbracht worden. Außerordentlich profitabel gedieh Großbritanniens Sklavenwirtschaft zumal in den eigenen Kolonien in der Karibik.

 

Zu den englischen Unternehmern, die historisch auffielen und ein Denkmal erhielten, gehört nicht zuletzt Edward Colston (1636–1721). Er war an der Versklavung von mehr als 80.000 Menschen beteiligt, von denen um die 19.000 an Bord seiner Schiffe starben. Die meisten Überlebenden wurden als Sklaven auf den Tabak- und Zuckerplantagen in der Karibik ausgebeutet. Der zu großem Reichtum gekommene Colston förderte in seiner Heimatstadt Bristol Schulen, Kirchen, Kranken- und Armenhäuser mit großen Geldsummen. Die Statue, die 1895 zu seinen Ehren auf der Colston Avenue im Stadtzentrum eingeweiht wurde, erhielt keinen Hinweis auf seine Vergangenheit im Sklavenhandel, sondern würdigte den ehemaligen Tory-Politiker und – vermeintlichen – Menschenfreund. Trotz vieler seit den 1990er Jahren ausgeübter Proteste scheiterten noch 2019 die Versuche, an der den Sklavenhandel gleichsam ausblendenden Statue zumindest eine Gedenktafel mit dem Verweis auf Colstons Beteiligung an dem menschenfeindlichen System anzubringen. Von Erfolg gekrönt war hingegen die Aktion der Black-Lives-Matter-Bewegung vom 7. Juni 2020. Nachdem die Demonstranten die Bronzestatue vom Sockel gestoßen und ins Hafenbecken gestürzt hatten, wurde sie zwar wieder geborgen – an ihrem angestammten Platz wieder aufgestellt wird die Statue jedoch nicht. Das inzwischen starke Interesse an den Ursprüngen und Auswirkungen des Sklavenhandels lässt das nicht zu.

 

Als Friedrich Engels im November 1842 in Manchester ankam, um seine kaufmännische Ausbildung in der Baumwollspinnerei Ermen & Engels zu vollenden, war die Sklaverei im britischen Empire durch den »Slavery Abolition Act« von 1833 zumindest gesetzlich abgeschafft. Intellektuell beschäftigte sie ihn ab dem Herbst 1876, als er mit der Arbeit an seiner Schrift »Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft« begann. Da heißt es:

 

»Nicht einem jeden ist mit einem Sklaven gedient. Um einen solchen brauchen zu können, muß man über zweierlei verfügen: erstens über die Werkzeuge und Gegenstände für die Arbeit des Sklaven, und zweitens über die Mittel für seinen notdürftigen Unterhalt. Ehe also Sklaverei möglich wird, muß schon eine gewisse Stufe in der Produktion erreicht und ein gewisser Grad von Ungleichheit in der Verteilung eingetreten sein. Und damit die Sklavenarbeit die herrschende Produktionsweise einer ganzen Gesellschaft werde, braucht es eine noch weit höhere Steigerung der Produktion, des Handels und der Reichtumsansammlung.« (Alle Zitate aus MEW Bd. 20, 1962, S. 138 ff.)

 

Laut Engels gab es in den frühen »naturwüchsigen Gemeinwesen mit Gesamteigentum am Boden« wie etwa in der »ursprünglichen Bauernstadt Rom« entweder gar keine Sklaverei, oder sie spielte nur eine geringe Rolle. Als aber Rom zur »Weltstadt« aufstieg und der italienische Grundbesitz immer mehr in die Hände »einer wenig zahlreichen Klasse enorm reicher Eigentümer« geriet, wurde »die Bauernbevölkerung verdrängt durch eine Bevölkerung von Sklaven«. Deutlicher: »Wenn zur Zeit der Perserkriege die Zahl der Sklaven in Korinth auf 460.000, in Aegina auf 470.000 stieg, und auf jeden Kopf der freien Bevölkerung zehn Sklaven kamen, so gehörte dazu noch etwas mehr als ›Gewalt‹, nämlich eine hochentwickelte Kunst- und Handwerksindustrie und ein ausgebreiteter Handel. […] Die Produktion war so weit entwickelt, daß die menschliche Arbeitskraft jetzt mehr erzeugen konnte, als zu ihrem einfachen Unterhalt nötig war; die Mittel, mehr Arbeitskräfte zu unterhalten, waren vorhanden; diejenigen, sie zu beschäftigen, ebenfalls; die Arbeitskraft bekam einen Wert. Aber das eigne Gemeinwesen und der Verband, dem es angehörte, lieferte keine disponiblen, überschüssigen Arbeitskräfte. Der Krieg dagegen lieferte sie, und der Krieg war so alt wie die gleichzeitige Existenz mehrerer Gemeinschaftsgruppen nebeneinander. Bisher hatte man mit den Kriegsgefangnen nichts anzufangen gewußt, sie also einfach erschlagen, noch früher hatte man sie verspeist. Aber auf der jetzt erreichten Stufe der ›Wirtschaftslage‹ erhielten sie einen Wert; man ließ sie also leben und machte sich ihre Arbeit dienstbar. So wurde die Gewalt, statt die Wirtschaftslage zu beherrschen, im Gegenteil in den Dienst der Wirtschaftslage gepreßt. Die Sklaverei war erfunden. Sie wurde bald die herrschende Form der Produktion bei allen, über das alte Gemeinwesen hinaus sich entwickelnden Völkern, schließlich aber auch eine der Haupt-Ursachen ihres Verfalls.«

 

Engels scheut sich nicht, der Sklaverei historisch nüchtern eine Funktion zuzuschreiben, die schier unglaublich wirkt. So hebt er hervor: »Erst die Sklaverei machte die Teilung der Arbeit zwischen Ackerbau und Industrie auf größerm Maßstab möglich, und damit die Blüte der alten Welt, das Griechentum. Ohne Sklaverei kein griechischer Staat, keine griechische Kunst und Wissenschaft; ohne Sklaverei kein Römerreich. Ohne die Grundlage des Griechentums und des Römerreichs aber auch kein modernes Europa. Wir sollten nie vergessen, daß unsere ganze ökonomische, politische und intellektuelle Entwicklung einen Zustand zur Voraussetzung hat, in dem die Sklaverei ebenso notwendig wie allgemein anerkannt war. In diesem Sinne sind wir berechtigt zu sagen: Ohne antike Sklaverei kein moderner Sozialismus.«

 

Ist das starker Tobak? Nach dem Sturz der Colston-Bronzestatue bemerkte Bristols afrokaribischstämmiger Bürgermeister Marvin Rees, als gewählter Politiker könne er Sachbeschädigung und Unruhen nicht unterstützen, wobei die Statue eines Sklavenhändlers mitten in der Stadt für ihn nichts als ein »persönlicher Affront« sei. Und der Labour-Abgeordnete Clive Lewis betonte: »Wir werden den strukturellen Rassismus nie lösen, solange wir unsere Geschichte in ihrer ganzen Komplexität nicht in den Griff bekommen.« Die Frage, wie Friedrich Engels das Geschehen wohl kommentiert hätte, erübrigt sich. Und zwar schon deshalb, weil er in der letzten durchgesehenen und vermehrten Auflage des Anti-Dühring von 1894 unmissverständlich darlegt:

 

»Es ist sehr wohlfeil, über Sklaverei und dergleichen in allgemeinen Redensarten loszuziehn und einen hohen sittlichen Zorn über dergleichen Schändlichkeit auszugießen. Leider spricht man damit weiter nichts aus als das, was jedermann weiß, nämlich daß diese antiken Einrichtungen unsern heutigen Zuständen und unsern durch diese Zustände bestimmten Gefühlen nicht mehr entsprechen. Wir erfahren damit aber kein Wort darüber, wie diese Einrichtungen entstanden sind, warum sie bestanden und welche Rolle sie in der Geschichte gespielt haben. Und wenn wir hierauf eingehn, so müssen wir sagen, so widerspruchsvoll und so ketzerisch das auch klingen mag, daß die Einführung der Sklaverei unter den damaligen Umständen ein großer Fortschritt war. […] Es ist klar: solange die menschliche Arbeit noch so wenig produktiv war, daß sie nur wenig Überschuß über die notwendigen Lebensmittel hinaus lieferte, war Steigerung der Produktivkräfte, Ausdehnung des Verkehrs, Entwicklung von Staat und Recht, Begründung von Kunst und Wissenschaft nur möglich vermittelst einer gesteigerten Arbeitsteilung, die zu ihrer Grundlage haben mußte die große Arbeitsteilung zwischen den die einfache Handarbeit besorgenden Massen und den die Leitung der Arbeit, den Handel, die Staatsgeschäfte, und späterhin die Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft betreibenden wenigen Bevorrechteten. Die einfachste, naturwüchsigste Form dieser Arbeitsteilung war eben die Sklaverei. Bei den geschichtlichen Voraussetzungen der alten, speziell der griechischen Welt konnte der Fortschritt zu einer auf Klassengegensätzen gegründeten Gesellschaft sich nur vollziehn in der Form der Sklaverei. Selbst für die Sklaven war dies ein Fortschritt; die Kriegsgefangnen, aus denen die Masse der Sklaven sich rekrutierte, behielten jetzt wenigstens das Leben, statt daß sie früher gemordet oder noch früher gar gebraten wurden.

 

Fügen wir bei dieser Gelegenheit hinzu, daß alle bisherigen geschichtlichen Gegensätze von ausbeutenden und ausgebeuteten, herrschenden und unterdrückten Klassen ihre Erklärung finden in derselben verhältnismäßig unentwickelten Produktivität der menschlichen Arbeit. Solange die wirklich arbeitende Bevölkerung von ihrer notwendigen Arbeit so sehr in Anspruch genommen wird, daß ihr keine Zeit zur Besorgung der gemeinsamen Geschäfte der Gesellschaft – Arbeitsleitung, Staatsgeschäfte, Rechtsangelegenheiten, Kunst, Wissenschaft etc. – übrigbleibt, solange mußte stets eine besondre Klasse bestehn, die, von der wirklichen Arbeit befreit, diese Angelegenheiten besorgte; wobei sie denn nie verfehlte, den arbeitenden Massen zu ihrem eignen Vorteil mehr und mehr Arbeitslast aufzubürden. Erst die durch die große Industrie erreichte ungeheure Steigerung der Produktivkräfte erlaubt, die Arbeit auf alle Gesellschaftsglieder ohne Ausnahme zu verteilen und dadurch die Arbeitszeit eines jeden so zu beschränken, daß für alle hinreichend freie Zeit bleibt, um sich an den allgemeinen Angelegenheiten der Gesellschaft – theoretischen wie praktischen – zu beteiligen. Erst jetzt also ist jede herrschende und ausbeutende Klasse überflüssig, ja ein Hindernis der gesellschaftlichen Entwicklung geworden, und erst jetzt auch wird sie unerbittlich beseitigt werden, mag sie auch noch sosehr im Besitz der ›unmittelbaren Gewalt‹ sein.«

 

Apropos ausbeutende Klasse: Der Slavery Abolition Act von 1833 sah Entschädigungen von insgesamt 20 Millionen Pfund beziehungsweise in Höhe von fast 40 Prozent des britischen Staatshaushalts vor (heute wären das circa 20 Milliarden Pfund). Sie bescherten auf den von Großbritannien kolonialisierten Westindischen Inseln bezeichnenderweise nicht den befreiten Versklavten, sondern ihren ehemaligen Sklavenhaltern ein sorgenfreies Leben.