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Bemerkungen

Hass und Vorurteil

Wenn diese Ausgabe von Ossietzky erscheint, sind es nur noch drei Tage bis zur Wahl in den USA und damit zur Antwort auf die Frage, ob es Präsident Donald Trump trotz seines »krawalligen Auftretens, seines ständigen Verstoßes gegen Normen und Gepflogenheiten« (stern online am 20. Oktober) oder gerade wegen dieses Auftretens zum zweiten Mal ins Weiße Haus geschafft hat. Wer aber sind die Trump-Wählerinnen und -Wähler, die ihm durch dick und dünn treu zur Seite stehen?

 

Philip Gorski, Professor für Soziologie an der Yale-University in New Haven, Connecticut, lenkt in seinem vor einem Vierteljahr auf Deutsch erschienenen Buch »Am Scheideweg« das Augenmerk auf eine wichtige Unterstützergruppe: die evangelischen Christen, genauer: die Evangelikalen.

 

Er schildert, »wie der amerikanische Protestantismus zunehmend in eine autoritäre Richtung gedrängt wurde – mit dem Resultat, dass heute Evangelikalismus mit Konservatismus gleichgesetzt wird und die christliche Rechte mit der Republikanischen Partei«.

 

Eine der Ursachen: »Evangelikale leben in der Überzeugung, die Kulturkämpfe der letzten Jahrzehnte verloren zu haben. Sie betrachten sich als am stärksten verfolgte Gruppe in den USA.« In Trump erkannten sie ihren Beschützer und damit den Retter der »weißen christlichen Nation«.

 

Im Vorwort schreibt der Sozialphilosoph und Soziologe Hans Joas, Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin: »Seriöse Schätzungen sprechen von über 80 % der Evangelikalen, die sich für Trump entschieden haben.«

 

Gorski ist einer der führenden amerikanischen Religionsphilosophen. Im ersten Teil seines Buches stellt er die »komplexe Beziehung« zwischen Christentum und Demokratie allgemein »im Westen« dar und spürt den »Wahlverwandtschaften« zwischen Christentum und – wie er es nennt – den »vier Schichten der westlichen Demokratie« nach: der republikanischen, repräsentativen und liberalen Demokratie sowie der Sozialdemokratie. Und er untersucht die Frage, ob das Christentum überhaupt demokratisch ist. Seine Antwort dürfte auch vor dem Hintergrund der (deutschen) Geschichte nicht überraschen: »Bestimmte Formen des Christentums haben eine ›Wahlverwandtschaft‹ mit bestimmten Bestandteilen der Demokratie, andere aber mit autoritärer Politik.«

 

Womit wir beim zweiten Teil des Buches und damit in den USA wären. Hier seien »Demokratie und Christentum schon lange Hand in Hand« gegangen. Seit der Wahl Trumps, bei der die weißen Evangelikalen eine wichtige Rolle gespielt haben, stelle sich aber die Frage, »ob sich die Wege des amerikanischen Christentums und der amerikanischen Demokratie nun trennen«. Gorski bejaht die Frage.

 

Der »harte Kern« der Evangelikalen, »selbsternannte Erben der Puritaner«, interpretieren inzwischen sogar die Covid-19-Pandemie als »Urteil Gottes über Amerika«. Gorski nennt beispielhaft den im März dieses Jahres veröffentlichten »Studienführer« des Pfarrers Ralph Drollinger von Capitol Ministries in Washington, DC: »Medienkommentatoren kamen rasch zu dem Schluss, dass Drollinger die Schuld an der Pandemie auf Säkularisten, Umweltschützer, LGBTQ-Leute und Nichtchristen im Allgemeinen schieben wollte.«

 

Die Schnittmenge mit Trumps Äußerungen ist offensichtlich.

 

Fazit: ein aktuelles Buch, das einmal mehr verdeutlicht, dass »Fundamentalismus praktizierte Menschenfeindlichkeit« ist (Heribert Prantl, SZ-Kolumnist, online am 4. Oktober).

 

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Johann und Paul Simon, Verfasser der am 2. Oktober erschienenen »konkret texte 79«, greifen tief in die Geschichte des US-Konservatismus, um aufzuzeigen, dass Trump »kein Betriebsunfall« war: »Er kam aus der Mitte der amerikanischen Gesellschaft und hat viele gesellschaftliche und weltpolitische Tendenzen lediglich auf die Spitze getrieben.« Und: »Die Irrationalität, die Demagogie und die brutalen gesellschaftlichen Verhältnisse, die dafür einen Nährboden bieten, werden nicht einfach aus der amerikanischen Gesellschaft verschwinden, sollte Trump die Wahl verlieren.«

 

Die Autoren datieren den Aufstieg des Konservatismus »als Massenbewegung« auf die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Damals, »als die Nachkriegsidylle implodierte«, wurde er zur »Ideologie der weißen, relativ privilegierten Masse, die ihre Lebenswelt zahlreichen Feinden und Bedrohungen ausgesetzt sieht, gegen die sie sich zur Wehr setzen müsse«.

 

Mit Erfolg hätten sie nach und nach die sozial- und wirtschaftspolitischen Standards weit nach rechts verschoben und die Emanzipation der schwarzen »Unterklasse« eingehegt. Sie scheiterten allerdings im Kampf gegen die Emanzipationsbewegungen und die permissive Massenkultur sowie gegen das Prinzip der Antidiskriminierung. Rechter Populismus, Hass auf Eliten und Irrationalität seien dabei der Antriebsstoff der konservativen Bewegung gewesen, sei aber lange durch eine konservative Politik-Elite kontrolliert worden. Nach der Wahl Barack Obamas zum ersten schwarzen Präsidenten in der Geschichte der USA habe sich Amerikas Rechte radikalisiert und »in der Präsidentschaftswahlkampagne 2015/16 vom Gängelband« der republikanischen Politik-Elite befreit: Trump wurde Präsident. Der »paranoide Basispopulismus« hatte sich einen »soziopathischen Narzisst« (Mary L. Trump, Nichte des Präsidenten, in »Zu viel und nie genug«, einer Abrechnung mit ihrem Onkel) zum Führer und Heilsbringer erkoren.

 

Fazit: Äußerst lesenswert. Erhellend.

 

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Nachbemerkung: »It Can’t Happen Here« lautete der Titel eines 1935 im Exilverlag Querido, Amsterdam, veröffentlichten utopischen Romans des US-amerikanischen Schriftstellers Sinclair Lewis von der Machtergreifung des Faschismus in den USA. Die deutschsprachige Ausgabe »Das ist bei uns nicht möglich« wurde schon 1936 in Deutschland verboten. Es ist an der Zeit, das Buch mal wieder aus dem Bücherregal zu holen.                 

 

K. N.

 

Philip Gorski: »Am Scheideweg«, übersetzt von Philip Gorski und Hella Heydorn, Herder, 223 Seiten, 24 €. – Johannes Simon/Paul Simon: »Eine Welt voller Wut«, konkret texte 79, 194 Seiten, 19,50 €

 

 

 

Walter Kaufmanns Lektüre

Wer auch nur einen von Susan Sontags brillanten Aufsätzen gelesen hat oder einen ihrer Romane wird kopfschüttelnd abtun, was im Vorfeld die Presse über Sigrid Nunez’ »Sempre Susan« behauptete und prompt auf dem Buchumschlag zitiert wurde: »Das bis heute lebendigste und schillerndste Portrait«; vom »neugierigen Blick« und vom »Besten« war die Rede, »was es über Susan Sontag zu lesen geben wird«. Es ist die Norm, dass solche Sprüche von Verlagen aufgegriffen werden. Die hier wiedergegebenen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass »Sempre Susan« der Schriftstellerin nicht gerecht wird: Nichts findet sich über Inhalt und Stil ihrer Bücher, und es fehlt jegliche Anerkennung ihres Fleißes und ihrer enormen Produktivität. Dafür liefert es Indiskretionen zuhauf. Sigrid Nunez, die als junge Studentin gewonnen worden war, Susan Sontag bei der Beantwortung einer Flut von Briefen zu helfen, hatte sich nach kürzester Zeit derart in den Haushalt eingebracht, dass ihre Arbeitgeberin sie einlud, Mitbewohnerin ihres Penthouses zu werden. Dort hatte sie David, den Sohn des Hauses, kennengelernt und war eine Beziehung mit ihm eingegangen. Nach Susan Sontags Tod hatte sie sich darauf besonnen, was ihr an der Schriftstellerin aufgefallen und, vornehmlich, was an ihr auszusetzen war – Susan Sontags Umgangsart, Manieriertheiten, Hochnäsigkeit, Eitelkeiten, und dass sie total unfähig war, allein zu sein. Ständig überwachte sie ihren längst mündigen Sohn und kettete ihn selbstsüchtig an sich. Und erst die Vergnügungssucht, dieser Drang auf Partys unterwegs zu sein! Und wie süchtig Susan Sontag auf Unterhaltung war. Je mehr Kinobesuche desto besser: Sie schien auf Spielfilme versessen zu sein. Lebensersatz? fragte sich Sigrid Nunez. Begabte Frauen ließ sie nur unwillig neben sich gelten – was auch Sigrid Nunez zu spüren bekam. Hatte Susan Sontag nicht viel Zeit verstreichen lassen, ehe sie sich, auffallend schroff und karg, zu ein paar Seiten von deren literarischen Versuchen äußerte? Für die eigene Arbeit jedoch verlangte sie unverzügliche, ungeteilte Aufmerksamkeit. Kurzum, die beiden Frauen harmonierten nur selten, wurden sich im Grunde nie hold. Am Ende war es, als hätte Sigrid Nunez nur Susan Sontags Ableben abgewartet, um mit ihr abzurechnen: »Sempre Susan«! Sie schreibt, dass Susan Sontag selbst vor Fremden das Fehlen einer ihrer Brüste vorzuzeigen imstande war, sie ihre Krebsoperation ungehemmt herausstellte; auch anderweitig sei sie wenig zurückhaltend gewesen. Da gab es jene sehr späte Nacht, als sie zum Schlafzimmer ihres Sohnes (das Sigrid Nunez mit ihm teilte) Zugang erfleht hatte, nur um sich über Gerede auszulassen, das ihr irgendwann zu Ohren gekommen war: »Hört nur, hört zu!« Sie konnte, betont Sigrid Nunez, »kein Geheimnis, keine Vertraulichkeiten für sich behalten, alles musste sie zwanghaft weitererzählen.« So kulminiert dann auch »Sempre Susan« in einer Aufzählung von Susan Sontags unliebsamsten Eigenschaften – was angesichts des Mangels an Wertung ihrer literarischen Leistungen und ihrer öffentlichen Wirksamkeit maliziös anmutet. Für meine Begriffe ist »Sempre Susan« ein missratenes Buch.             

 

W. K.

 

Sigrid Nunez: »Sempre Susan Erinnerungen an Susan Sontag«, Aufbau Verlag, 141 Seiten, 18 €

 

 

 

Sympathisches Vorbild wird 95

Mit Berufskollegen ist das so eine Sache, das weiß jeder. Man kann sie nicht pauschal beurteilen, da die Art, wie man zu ihnen steht, ganz unterschiedlich sein kann. Mit manchen verbindet einen eine gute Zusammenarbeit, mit anderen geistige und ideologische Übereinstimmung. Wenn man Glück hat, treffen diese Komponenten zusammen. Dann gibt es noch besondere Kollegen, die für einen selbst zur Orientierung und Richtschnur wurden, nicht nur in beruflicher Hinsicht. Davon gibt es meist nur wenige, und sie ragen wie Leuchttürme aus der Masse anderer heraus. Zu diesen seltenen Geschöpfen zählt für mich Heinrich Hannover. Über viele Jahrzehnte hinweg war er vor allem als Strafverteidiger tätig und hat sich mutig für seine Mandanten, darunter viele prominente Namen, eingesetzt. Er tat mehr für sie als manch anderer, denn nur »Dienst nach Vorschrift« war nie seine Sache. Sein Anspruch an sich selbst war stets groß, und so wundert es nicht, dass er sich frühzeitig aus der Schar deutscher Strafverteidiger abhob, viele auf ihn aufmerksam wurden und es auch immer wieder Mitstreiter gab und gibt, die sich an ihm orientieren. Auch für mich wurde er bereits in jungen Jahren zu einem Vorbild, obgleich er zu dieser Zeit noch im anderen Teil Deutschlands praktizierte und für mich nicht erreichbar war. Dennoch wusste ich von ihm, seinem Einsatz in dem Prozess gegen Angehörige der westdeutschen Friedenskomitees 1959/60 in Düsseldorf oder bei der Verteidigung von Ulrike Meinhof. Gänzlich in den Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit geriet Heinrich Hannover, als er nach dem Tode von Friedrich Karl Kaul die weitere Vertretung der Tochter Ernst Thälmanns als Nebenklägerin in dem Prozess gegen Wolfgang Otto übernahm, der der Beteiligung an der Ermordung des früheren KPD-Vorsitzenden beschuldigt wurde. Er setzte erfolgreich ein Klageerzwingungsverfahren durch, was in der Praxis nur selten zu erreichen ist. Für sein Engagement in dem Verfahren verlieh ihm die Humboldt-Universität zu Berlin 1986 die Ehrendoktorwürde. Da ich damals dort Rechtswissenschaft studierte, konnte ich ihn beim Betreten des Saales, in dem der Festakt stattfand, sehen. Leider gehörte ich nicht zum geladenen Publikum. Es sollten dann noch reichlich zehn Jahre vergehen, bis wir uns persönlich kennenlernten und erstmals gegenüber saßen. Einige Zeit später führten wir – eine Gruppe von zeitgeschichtlich Interessierten – in Erfurt mit ihm zwei Lesungen zu seinen Büchern »Die Republik vor Gericht« durch, um deren Moderation ich gebeten wurde. So kam es, dass ich ihn nicht nur vom Bahnhof abholen, sondern ihm auch vor Beginn der Veranstaltungen einige Erfurter Sehenswürdigkeiten zeigen konnte. Die dabei geführten Gespräche und auch die Lesungen beeindruckten mich und haben sicherlich auch meine anwaltliche Tätigkeit beeinflusst.

 

Sympathisch macht ihn auch, dass ihm jegliche Eitelkeit fehlt, die doch in unserem Berufsstand oftmals ausgeprägt ist. Dabei hat er allen Grund, auf sich stolz zu sein. So überrascht es nicht, dass der Kontakt, wenn auch unregelmäßig, bis heute geblieben ist. Jede seiner Veröffentlichungen, unter anderem auch als Ossietzky-Autor, verfolge ich mit regem Interesse. Auch seine Schilderungen über die Kindheitsjahre in Anklam und die Erlebnisse als junger Mensch während des Zweiten Weltkrieges, die ihn zum Pazifisten und Kriegsgegner machten, konnten meinen Respekt vor ihm nur noch erhöhen.

 

Jetzt wird Heinrich Hannover 95 Jahre alt und verfolgt noch immer mit großer Aufmerksamkeit die Ereignisse in der Welt, kommentiert sie und lässt so jüngere Generationen an seinen reichhaltigen Erfahrungen teilhaben. Ich bin gewiss nicht der einzige, der ihm dafür an seinem Ehrentag dankbar ist.            

 

Ralph Dobrawa

 

 

Noch einmal

Wenn die letzten Bäume

längst aus Beton sind

alle Herzen

stahlummantelt

unsere Hirne

vollverglast

und silikonbeschichtet

 

lass uns noch einmal

tief in die Tasche langen

zwischen Murmeln aus Kindertagen

längst vergessen

das Tütchen Samen suchen

und Hoffnung streuen

gegen den Wind

 

Gerd Puls

 

 

Kinder appellieren an die Vernunft

Es ist gerade zwei Jahre her, dass eine fünfzehnjährige schwedische Klimaaktivistin Geschichte schrieb und zum Symbol einer ganzen Welle von Umweltprotesten wurde. Jugendliche und Kinder lehnten sich gegen die Zerstörung ihrer Zukunft auf. Mit der Corona-Pandemie scheint diese Bewegung verebbt – macht es noch Sinn, gegen den umweltzerstörenden Massentourismus zu protestieren, der nun infolge der pandemiebedingten Restriktionen gestoppt ist? Obendrein bremsen die Restriktionen die Straßenproteste von Umweltschützern aus. Aber weitgehend auch die Thematisierung der Umweltzerstörung durch Werke von Kunst und Literatur … So ist es sehr sympathisch und begrüßenswert, dass das Berliner Atze-Musiktheater mit der Produktion »No Planet B – Das Gericht der Kinder zum Klimawandel« an die Klimaproteste vor Einbruch der Pandemie anknüpft.

 

Autor Thomas Sutter hat in seinem Text das Hereinbrechen der Klimakatastrophe samt deren Folgen beschrieben. Regisseur Yüksel Yolcu ist es mittels Schauspielkunst, Musik und Videos gelungen, diese begreifbar für ein sehr junges Publikum auf die Bühne zu stellen. Dabei wird die Rampe immer wieder überwunden, durchbrochen – nicht zuletzt in einer solchen Öffnung der Szene bestehen ästhetischer Reiz und Spaß der Aufführung: Die Zuschauer werden direkt angesprochen, auch angesungen, werden aufgefordert zum Mittun; und am Ende geht das szenische Geschehen jäh über in eine Publikumsdiskussion: Die drei jungen Leute, darunter zwei Kinder, die zu Beginn die weltbedeutenden Bretter stürmten, haben ein Gericht gebildet und wollen nun zu einem Urteil über Klimasünder kommen.

 

Wen aber soll man verurteilen? Einer durchschnittlichen Normalbürgerin wird der Prozess gemacht. Zu Recht – denn schließlich gehört diese Frau Salzmann, die Nachbarin der Kinder, zu der übergroßen Mehrheit derer, die aus Egoismus, aus Gedankenlosigkeit und auch aus schlichter Überforderung zur Umweltzerstörung beigetragen haben. Hat sie durch ihre unvernünftige Lebensweise unsinnig viel Energie verschwendet? Gewiss. Hat sie Unmengen an Plastemüll erzeugt? Gewiss. Hätte sie – statt mit dem Auto zu fahren – manchmal besser das Rad nutzen sollen? Gewiss. Hätte sie auf energiefressende Urlaubsflüge und eine exzessive Internetnutzung lieber verzichten sollen? Gewiss. Frau Salzmann ist schuld, und das kindliche Publikum darf sich Strafen ausdenken.

 

Es ist sicher sinnvoll, an die Vernunft zu appellieren und auf die Mitverantwortung jedes einzelnen Menschen hinzuweisen. Aber wer ist in welchem Umfang an der bevorstehenden Katastrophe schuld? Haben nicht ökonomische und soziale Verhältnisse – sprich: Wachstumszwang, Konsumismus, profitgeile Ausbeutung von Mensch und Natur – etwas mit der fortschreitenden Katastrophe zu tun? Davon ist nichts, rein gar nichts auf der Bühne zu hören. Bei der Uraufführung am 3. Oktober kam allerdings eine Einrede aus dem Zuschauerraum: Man lebe im Kapitalismus, und große Teile der Umweltzerstörung resultierten doch wohl aus dessen Zwängen ... Auf solche Erkenntnisse aus der Welt der Erwachsenen gibt das Stück für Kinder ab zehn Jahre keine Antwort und kann sie wohl auch nicht geben.

 

Katrin Lange und Gerd Bedszent

 

Thomas Sutter »No Planet B – Das Gericht der Kinder zum Klimawandel«, Atze Musiktheater, www.atzeberlin.de

 

 

 

Ein Großer ist gegangen

Wir trafen uns auf Hiddensee im September. Wenige Wochen vor seinem 91. Geburtstag und Monate vor Corona. Alfred Kosing verließ einmal im Jahr sein Exil in der Türkei, in das er sich in den neunziger Jahren begeben hatte. Vornehmlich wegen des Klimas, das seiner Frau besser bekam als das hiesige. Aber nicht nur deshalb. Er kehrte gelegentlich nach Deutschland zurück, um sich wegen seiner fortschreitenden Augenerkrankung behandeln zu lassen, um Freunde zu treffen, um an vertrauten Orten Urlaub zu machen – und um sein jüngstes Buch vorzustellen. Zwischen 2008 und 2020 waren es neun Publikationen bei der edition ost. Und das bei stetig nachlassender Sehfähigkeit. Inzwischen schrieb er in riesengroßen Lettern, um den eigenen Text lesen zu können.

 

Egon Krenz war mit der Fähre aus Stralsund gekommen, ich ließ mein Auto in Schaprode stehen. In Vitte parlierten wir mehrere Stunden miteinander. Weniger über Gott, mehr über die Welt. Kosing war Philosoph, aber zunehmend in ein Fach gewechselt, das sich heute Politikwissenschaft nennt. (Obgleich Politik kaum etwas mit Wissenschaft zu tun hat.) Er analysierte die Gegenwart, sezierte messerscharf und maß mit marxistischer Elle Entwicklungen und Prozesse. Das tat er auch diesmal. Die Russophobie, die China-Feindlichkeit des Westens, die Entwicklung in den USA, das Weltklima, die Abwesenheit von Theorie und historischem Wissen bei den Linken ... Kein Thema, das ihn nicht beschäftigte. Nicht jedes Urteil teilte der Ex-Politiker Krenz, etwa das über Stalin und Trotzki oder die Gründe unseres Scheiterns. Kosing hatte intensiv Originalquellen in russischen Archiven studiert und Ursprung, Wesen und Wirkung des Stalinismus untersucht. Da kam er auch zu Schlüssen, die sich auf den Nachhall bezogen, welcher bis in die Gegenwart reicht. Diese selbstkritische Haltung zog sich nahezu durch alle seine Arbeiten, etwa zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution mit dem schlichten, wenngleich vieldeutig-polemischen Titel »Aufstieg und Untergang des realen Sozialismus«.

 

Das Gespräch an jenem lauen Spätsommertag auf Hiddensee war, wie immer mit Kosing, anregend, kontrovers und konstruktiv. Kosing bewies mit bemerkenswerter geistiger Frische einmal mehr – so sein soeben verstorbener Weggefährte Herbert Graf zu Kosings 90. –, dass er »zu den produktivsten marxistischen Philosophen der vergangenen sieben Jahrzehnte« gehörte. 1960 hatte der ostpreußische Bauernsohn die erste deutsche grundlegende Arbeit über das Wesen der marxistischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie verfasst, 1962 legte er eine über die Theorie der Nationen vor, es folgten philosophische Wörter- und Lehrbücher, Vorträge, über hundert fundierte wissenschaftliche Veröffentlichungen, die auch internationale Beachtung und Anerkennung fanden. Seit den siebziger Jahren gehörte der DDR-Nationalpreisträger Kosing dem Institut International de Philosophie (IIP), die Weltakademie der Philosophen, in Paris an, in den achtziger Jahren war er Vizepräsident der Fédération Internationale des Sociétés de Philosophie (FISP).

 

Nach dem stundenlangen Gespräch in Vitte, von dem keiner der Beteiligten ahnte, dass es unser letztes sein würde, brachten wir Krenz zur Fähre. Einige, die den Ex-Staatsratsvorsitzenden und Ex-Generalsekretär erkannten, baten darum, sich mit ihm fotografieren zu lassen. Kosing erkannte niemand, der Prophet gilt nichts im eigenen Land. Das wissen wir. Alfred Kosing konnte damit leben wie eben auch damit, dass es seine Bücher nie in Bestsellerlisten schafften. Es betrübte ihn lediglich, dass selbst die wenigen Medien, denen er noch eine gewisse Nähe zum Marxismus unterstellte, seine Arbeiten ignorierten. Die intellektuelle Weite, die doch dem Marxismus innewohnt, hatte man dort offenkundig doch nicht begriffen oder eben dem Zeitgeist Tribut gezollt.

 

Vor Jahrzehnten schon hatten DDR-Ärzte bei ihm Neuropathie diagnostiziert, die sich mit den Jahren verstärkte. Im Sommer hatten Mediziner ihn in einer aufwendigen Bein-Operation, für die er sich finanziell verschulden musste, zu helfen versucht. Der Unternehmung blieb der Erfolg versagt. Am 21. Oktober ist Alfred Kosing in der Türkei gestorben. Er wird auch dort bestattet werden. Deutschland hat einen großen Denker verloren. Und der Verleger einen Freund. 

 

Frank Schumann

 

 

 

Hundert

So viele Gedichte, eine Auswahl von 1988 bis jetzt, hat Michael Mäde in diesem jüngsten Band veröffentlicht. »100« ist auch dessen Titel. Zur Buchpremiere am 30. September im Karl-Liebknecht-Haus lasen die Schauspielerin Anja Panse und der Autor unter Corona-Bedingungen daraus. Von Wiljo Heinen hervorragend gestaltet, wendet sich das Buch an anspruchsvolle Leser. Politisch motiviert und immer sehr persönlich offenbart sich Michael Mäde in dem Bändchen in einer für ihn schweren Zeit. Es steckt voller Lebensweisheit und setzt die bei Wiljo Heinen bisher erschienenen Gedichtbände »Vor dem großen Krieg« (2013) und »Foto ohne Retusche« (2017) logisch fort. Ich empfehle die »100« unseren Lesern.

 

Maria Michel

 

Michael Mäde: »100«, Verlag Wiljo Heinen, 176 Seiten, 20 €, erhältlich im Buchhandel oder unter hallo@gutes-lesen.de, 030-47380259

 

 

 

Und jetzt noch der Abspann

Man will es einfach nicht glauben …, aber Kurt Tucholsky dichtete einst: »Es wird nach einem happy end / im Film jewöhnlich abjeblendt. / Man sieht bloß noch in ihre Lippen / den Helden seinen Schnurrbart stippen -- / da hat sie nu den Schentelmen. Na, un denn --?« Schluss, Aus, Fine, The End. Weit gefehlt, denn jetzt kommt noch der Filmabspann, wo man kurz vor Ultimo endlich erfährt, welche SchauspielerInnen sich gerade in den Armen lagen und welcher Regisseur den ganzen Blödsinn verzapft hat. Auch werden wir nun aufgeklärt, wer bei dem Schmarren für die Beleuchtung und den Ton verantwortlich war und wer als Kabelhilfe die Strippen gehalten hat.

 

Heutzutage ist der Abspann bei Fernsehsendungen mitunter länger als die eigentliche Sendung. Nach vielen Danksagungen an irgendwelche Unterstützer wird uns am Ende minutenlang kundgetan, wer die Moderatorin oder den Showmaster aufgestylt und welche Firma die Klamotten gesponsert hat. Du meine Güte, was man da alles verpasst, wenn man voreilig auf die Fernbedienung drückt. Vielleicht sollte man wirklich einmal länger sitzen bleiben.

 

Aber so ein informativer Kehraus wäre vielleicht auch eine Anregung für meine Glossen. Hier also der Abspann für die aktuelle Glosse:

Idee: bei einem Glas Hasseröder Pils – Maske: ziemlich zerknautscht – Kostüm: bequemer Homedress – Beleuchtung: Schreibtischfunzel – Ton: irgendeine Jazz-CD im Hintergrund – Skript: mein Uralt-Rechner von Aldi – Software: heute mal nicht widerspenstig – Catering: treusorgende

Ehefrau!            

 

Manfred Orlick

 

 

Zuschriften an die Lokalpresse

Nachdem in der Presse die Maßnahmen erläutert wurden, die wegen der weiteren Ausbreitung der Corona-Pandemie in den Großstädten angeordnet werden mussten (s. »In der Party-Metropole gehen die Lichter aus«, neues deutschland, 12.10.20), freut man sich über jede positive Nachricht, die sich in die hauptstädtischen Blätter verirrt. Unter der Überschrift »Der sicherste Flughafen, den wir in Berlin haben« wird ein Interview mit BER-Chef Engelbert Lütke Daldrup zur vorgesehenen Eröffnung am 31. Oktober angeboten, das uns alle mit Genugtuung erfüllt, ob wir nun fliegen oder nicht. Denn in Schönefeld hat es, von den üblichen Bombendrohungen abgesehen, jahrelang keinerlei Katastrophen gegeben! Dazu ist in der Tat in den vergangenen zehn Jahren eine sehr gute Vorarbeit geleistet worden! Wenn von Crashs auf Flugplätzen die Rede oder die Schreibe war, lag Schönefeld in der Statistik immer ganz weit hinten! Ich finde, schon damit ist die Verlängerung der Bauzeit und die Verdreifachung der ursprünglich veranlagten Kosten nicht zu teuer bezahlt, und das sollte uns als Hauptstädter stolz machen! – Hilger v. Hoffmannsthal (54), Koordinator für Sicherheit, 13587 Berlin-Hakenfelde

 

*

 

Endlich bietet die lokale Presse mal ein Event an, das einen die Coronakrise wenigstens zeitweilig vergessen lässt! Die Berliner Woche wirbt in ihrer Ausgabe für die Ortsteile Lichtenberg, Fennpfuhl und Rummelsburg mit Grusel-Erlebnissen zu Halloween! Im Berliner Dungeon am Hackeschen Markt kann man für die Extra-Show »Triff Jack the Ripper in der Hölle« am »schaurigsten Wochenende des Jahres«, dem 31. Oktober und 1. November, »das Grauen« kennenlernen! Eine gute Idee, die endlich mal vom Ansteigen der Infiziertenzahlen ablenkt! Ob es »in der Folterkammer nach Verwesung müffelt« oder »ob Pestbeulen wirklich faulig riechen« (Berliner Woche, 10.10.20), können alle prüfen, die sich erfolgreich um Gratis-Tickets bemühen oder online dabei sind. Diejenigen, die diesmal noch leer ausgehen, müssen ihre Schauergelüste vorerst weiter mit Geduld und Spucke und mit Corona-Vermummungen befriedigen. Aber es wird schon noch mal klappen. – Ingelore-Angelique Mackenstein (37), Freizeitberaterin, 72074 Bebenhausen

 

Wolfgang Helfritsch