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Titel2216

Bemerkungen

Das spanische Trauerspiel

Nach mehr als 300 Tagen gaben Ende Oktober die spanischen Sozialisten ihre politische Blockade auf. Bis zum 31. Oktober musste eine neue Regierung vereidigt sein, um einen dritten Wahlgang zu vermeiden. Die Partido Socialista Obrero Español (PSOE) beschloss auf einer turbulenten Delegiertenversammlung mit 139 gegen 96 Stimmen die Duldung einer konservativen Minderheitsregierung der Partido Popular (PP) von Mariano Rajoy. Journalisten, die der PP nahestehen, kommentierten den Beschluss im Radio Nacional de España als historisch. Damit er zustande kam, wurde der Generalsekretär Pedro Sánchez vom Ex-Ministerpräsidenten Felipe González und der Ministerpräsidentin von Andalusien Susana Díaz – beides rechte Exponenten der Partei – durch Abwahl zur Aufgabe gezwungen. Der geschasste Generalsekretär war Gegner einer Duldung. Auch ist es das erste Mal nach dem Ende des Franquismo, dass die Sozialisten im Parlament nicht gegen die Wahl eines konservativen Ministerpräsidenten stimmten.

 

Mariano Rajoy kommt mit seiner konservativen PP und der bürgerlichen Partei Ciudadanos nur auf 165 der 350 Sitze im Parlament. Inhaltlich ist Rajoy nicht auf die PSOE zugegangen. Es bleibt bei der umstrittenen Arbeitsmarktreform. Auch gibt es von ihm keine versöhnlichen Gesten den Katalanen gegenüber.

 

Beim zweiten Wahlgang am 29. Oktober stimmten 170 Abgeordnete für Rajoy, 111 gegen ihn, 68 enthielten sich.

 

Dass die Sozialisten im zweiten Wahlgang dem Fraktionszwang folgten, dafür sorgte als neuer und starker Mann in der Partei der Präsident von Asturien, Javier Fernández. Auch er zählt zum rechten Flügel der Sozialisten. Die katalanische Sozialistische Regionalpartei (Partido Socialista Catalan – PSC) wollte sich nicht der Parteidisziplin beugen.

 

In den Medien, so in der Tageszeitung El País oder dem Radiosender Cadena SER, war Kritik an den Vorgängen in der PSOE nicht mehr zu lesen oder zu hören. Das war einmal anders. Den von der PSOE Enttäuschten bietet sich als linke Alternative nun Podemos an.

 

Leicht wird es Mariano Rajoy in seiner dritten Amtsperiode nicht haben. In Spanien gibt es derzeit 1500 Korruptionsfälle, von denen seine Partido Popular betroffen ist. Genügend Stolperfallen. Vielleicht geht die Rajoy-Ära schneller dem Ende entgegen, als wir denken.

 

Für November, wenn der Haushaltsentwurf für 2017 im Parlament debattiert und beschlossen wird, haben die Sozialisten angekündigt, diesen nicht zu unterstützen. Dann wird sich zeigen, ob Mariano Rajoy flexibel genug ist, um nicht gleich einen Schiffbruch mit seiner Minderheitsregierung zu erleiden.     

 

Karl-H. Walloch

 

 

Vorbereitung auf die Maßnahme

Zehn Arbeitslose suchen eine Stelle. Es gibt genau eine. Da hat einer der zehn eine Idee: Er spricht mit jedem der neun anderen und verspricht ihnen, ihre Bewerbungen so zu verbessern, dass der jeweilige die Stelle bekommt; dafür verlangt er Geld. (Das Geld für seine Dienstleistung kommt vom Staat beziehungsweise aus der Arbeitslosenversicherung, also auch von den Arbeitslosen). Da waren es nur noch neun Arbeitslose, der zehnte war, jetzt endet die Geschichte, angestellt direkt beim Staat, also bei der »Agentur«, den »Job-Centern« oder in einer von diesen beauftragten Institution, die die neun Arbeitslosen im Kampf gegeneinander und um die Stelle auf Trab bringt. Diese Schulung, ein Bewerbungstraining, nennt man nur kurz »die Maßnahme«.

 

Der Staat erkannte den Nutzen dieses zehnten, der die anderen neun beschäftigt und damit ruhigstellt.      

 

Rosa Wacholder

 

 

Unsere Zustände

In einem käuflichen System gilt nur der etwas, der käuflich ist. Wer nicht käuflich ist, hat keinen Preis.

*

Musik macht froh. Musik vereint. Musik versöhnt. Wie wäre es denn, wenn für alle Politiker der Besuch einer Musikschule zur Pflicht gemacht wird?

*

Künftig können Autos durch das Denken gesteuert werden. Da heißt es nicht mehr: »Pusten Sie mal!« sondern »Denken Sie mal!« Massenweise gäbe es dann Fahrverbote.

 

Wolfgang Eckert

 

 

Walter Kaufmanns Lektüre

»Eines schönen Tages« – ein fast zu märchenhafter Titel für ein Erinnerungsbuch, das viel Wahres birgt und so manche aus Lebenserfahrung geschöpfte Weisheit. Dazu diese Fülle von Begegnungen: Freunde, die sich allzeit bewährten, andere, die bitter enttäuschten – mit W. Biermann hat Gisela Steineckert abgerechnet; Kurt Demmlers tragisches Ende bedenkend, ist sie großherzig geblieben, hat dessen Begabung, dessen feinfühlige Liedertexte gewürdigt und die Umstände verschleiert, die zu seinem Selbstmord führten: Hier wurden ihre Erinnerungen zu wahrer Literatur. Auch wie sie über Helga Hahnemann oder Irmtraud Morgner schreibt, die eine ihr wohl vertraut, der anderen nur hin und wieder zufällig begegnend – mit einer Ausnahme! Und doch: Welch ein Frauenporträt ist ihr da gelungen. Wobei sich auch Einsichten in das Amt der Präsidentin eines Künstlerverbands ergaben (das der Steineckert) und in die damaligen Bestimmungen und Normen im Land DDR. Wie einfühlsam, ja liebevoll die Ursula Karusseit dargestellt wird – für Theaterfreunde, die die Karusseit noch auf Ostberliner Bühnen erlebt haben, eine Wiederbegegnung. Sicher werden Gisela Steineckerts Erinnerungen besonders jene Leser ansprechen, die die Zeit mit ihr geteilt haben und ihren Weg gegangen sind – sie alle sollten sich hier wiederfinden, wie ich mich in der Beschreibung des Schriftstellerlebens im Heim am Schwielowsee wiederfand und in jener der schmählichen Minuten im Berliner Roten Rathaus, als Walter Ulbricht Wolfgang Langhoff zu demütigen ansetzte, ihn, den genialen Theatermann, an den bis heute mit Hochachtung erinnert wird. (Wer nun wähnt, es ginge im Buch nur um Vergangenes, dem sei versichert, die Konflikte unserer Zeit: Terror, Kriege, Fluchtwellen, Machtmissbrauch werden auf sehr eigene, Steineckertsche Art, angesprochen und durchdacht – man lese selbst!) Viel schon war in früheren Büchern über Gisela Steineckert zu erfahren; »Eines schönen Tages« offenbart immer wieder Neues über sie – was sie schreibt, besticht durch den Ton, den Rhythmus des frei Erzählten, vor allem aber durch Glaubhaftigkeit. Völlig im Einklang finde ich mich, wenn sie meint, Angela Davis hätte »nicht so und nie abenteuerlich, nie halbkriminell, nicht so absehbar gefährlich« gehandelt wie damals ihre schwarzen Brüder beim bewaffneten Befreiungsversuch politischer Gefangener in Kalifornien, entschieden aber weise ich zurück, dass ein Klaus Steiniger »sie [Angela Davis] während des Prozesses als einziger Journalist aus der DDR beobachten konnte«. Die letzten Verhandlungswochen im Gerichtssaal von San José wurden nicht von Klaus Steiniger erlebt (er war längst ausgeschieden oder ausgeschieden worden), sondern von Horst Schäfer (ADN) und mir (Junge Welt). Ich veröffentlichte nach langem Aufenthalt in den USA in Ost- wie Westdeutschland meine Reportage »Unterwegs zu Angela« als Buch. Im Kapitel »Die Zeit der Entscheidung« sind die dramatischen Augenblicke des Freispruchs durch Richter Arnason festgehalten. »... Ich sah Angela in den Armen ihrer Mutter, ihres Vaters, ihrer Brüder, ihrer Schwester. Sie war frei!«

 

Doch zurück zum Buch der Gisela Steineckert. Gegen Ende, im Kapitel »Was ich noch möchte«, lässt sie uns den Orgelklängen in einer Kirche lauschen, die Vorfreude auf eine Neuerscheinung eines Buches teilen, einen Augenblick der Stille in der Natur genießen und den Wunsch nachempfinden, im Alter weiterhin empfangsfreudig zu sein. »Ich möchte noch …«, schreibt sie, »… die Welt verändern. Das kann ich nicht, aber versuchen, versuchen werde ich es immer wieder.«                                              

W. K.

 

Gisela Steineckert: »Eines schönen Tages. Erinnerungen«, Verlag Neues Leben, 222 Seiten, 14,99 €

 

Lehrer des Stamokap

 

Ossietzky, von mir immer gern gelesen, oft mit Verzögerung, neulich auch mit einem heftigen Stolpern, gleich über den ersten Satz: »In den 1970er Jahren zählte Herbert Schui mit den sozialdemokratischen Professoren Zinn, Tjaden, Paech, Albers und Hickel zu den ›wissenschaftlichen Paten‹ des Sozialdemokratischen Hochschulbundes und des Stamokap-Flügels bei den Jungsozialisten.« (So Diether Dehm in seinem Nachruf auf Schui »Pate der linken Studenten«, Ossietzky 18/16).

 

Stop! Von einem der Genannten weiß ich es genau: In den 70er Jahren war Kay Tjaden weder Mitglied der SPD noch von sozialdemokratischer Gesinnung.

 

Über die frühe sozialdemokratische Episode Tjadens im Zusammenhang mit der Entwicklungsgeschichte des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und dem Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD lässt sich Richtiges bei Tilman Fichter (»SDS und SPD«, 1988) nachlesen. Der Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB) ist als Konkurrenz zum unbotmäßigen SDS gegründet worden und verstand sich auch so. Und dieser SHB soll sich Leute zu Paten gesucht haben, die zu bekämpfen er seine Existenz verdankt?

 

Überhaupt das Wort »Pate«! Da Dehm in seinem Nachruf wohl nicht die mafiöse Interpretation verwendet und die religiöse hier außer Acht gelassen werden kann, gehört zur Patenschaft unbestreitbar, dass der Pate in vollem Bewusstsein Verantwortung für den Entwicklungsweg des Patenkindes übernimmt. Über die paternalistische Konnotation des Wortes Pate hinwegsehend bezweifle ich nicht, dass Kay Tjaden seine Verantwortung für den wissenschaftlichen Entwicklungs- und Erkenntnisweg derjenigen, die bei ihm studierten, ernst genommen hat. Dass er aber, wie die Überschrift zum Nachruf vorgibt, die »linken Studenten« vorrangig beim SHB angesiedelt hat, ist falsch, vielleicht Wunschdenken des Autors – oder einfach nur Unkenntnis.

Jutta von Freyberg

 

 

»Hauptstadt der Galle«?

Neben seinem Roman »89/90« sind mittlerweile drei Essaybände auf dem Markt, in denen sich der 1973 in Dresden geborene Peter Richter als genauer, origineller und zuweilen frecher Beobachter und Kenner deutscher Gegenwart beweist. In »Dresden revisited« denkt er nach über eine »Heimat, die einen nicht fortlässt«, obwohl er sich bereits seit einiger Zeit als Korrespondent in Brooklyn aufhält. Gerade diese Sicht ist nützlich. Richter erinnert eigene Kindheits- und Jugenderlebnisse, argumentiert mit historischen Besonderheiten (Wenn nun die Sachsen 1482 gegen die Preußen gewonnen hätten?) und beobachtet von »draußen«. Auch da ist der bipolare Charakter der Stadt nicht zu verleugnen – schon lange zeigte sich Dresden teils harmoniesüchtig teils engherzig. Dabei relativiert die Außensicht: Was, wenn die Dresdner gar Vorboten einer allgemeinen Entwicklung sind? US-amerikanische Erfahrungen mit Immigration weisen auf die vielfältigen Möglichkeiten der Integration und widersprechen deutschen Bestrebungen, alles zu regeln und fanatisch zu reagieren.     

                    Christel Berger

Peter Richter: »Dresden revisited. Von einer Heimat, die einen nicht fortlässt«, Luchterhand, 159 Seiten, 18 €

 

 

Alles Ticket oder was?

Man will es einfach nicht glauben …, aber mitunter komme ich über die heutige Verwendung von Begriffen ins Rätseln. Neulich hatten wir ein Problem mit unserem Telefonanschluss. Das soll keine Seltenheit sein – auch nicht, dass sich dessen Behebung schon eine Woche hinzog. Bei einem erneuten Anruf bei der Störungsstelle wurde ich am Hörer etwas ungehalten (nachträglich pardon!), so dass man mich in die sogenannte Eskalationsabteilung vermittelte.

 

Meine Verwunderung über diese Bezeichnung wurde allerdings noch gesteigert, als man mir dort für mein Problem ein »Ticket« ausstellte – und zwar mit »höchster Priorität«. Ein Ticket? Ich wollte doch nicht mit der Eisenbahn fahren – unser Anschluss sollte einfach nur wieder anständig funktionieren. Na gut, dachte ich, dann lass den Telekom-Prioritäten-Schnellzug mal ins Rollen kommen. Der entpuppte sich allerdings als Bummelzug, denn nach einer weiteren Woche hatte sich noch immer nichts getan. Bei einem nochmaligen Anruf bekam ich schließlich ein »Ticket allerhöchster Priorität«, und tatsächlich setzte sich jetzt irgendein Telekom-Zug langsam in Bewegung. Nach einigen Tagen war die Sache aus der Welt geschafft. Offenbar eine Sache des richtigen Tickets.

 

Damit war mein »Ticket«-Erlebnis aber noch nicht beendet. Ein paar Tage später stand ich in der Schalterhalle unseres Postamtes. Da die Kundenschlange immer länger wurde, öffnete man einen zusätzlichen Schalter. »Kommen Sie bitte zu meinem Ticket«, forderte die Mitarbeiterin die ungeduldig Wartenden auf. Als ich schließlich an der Reihe war, sagte ich etwas unsicher: »Pardon, ich will keine Fahrkarte, nur ein paar Briefmarken!«        

     

Manfred Orlick