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Titel2217

Tod in den Dolomiten  (Marc-Thomas Bock)

Weicht man von einer gewählten Route einmal ab, kann es leicht zu Überraschungen kommen. Das trifft auf das gesamte Leben ebenso zu wie auf banale Abschnitte desselben, nämlich die Urlaubsreiseroute. Eigentlich wollen wir auf unserer Wohnmobiltour durch Südtirol das höchste Bergmassiv der Dolomiten, die Marmolata, links liegen lassen, weil wir hier in der Nähe vor zehn Jahren bereits einmal Wanderungen unternommen hatten. Doch dann zwingen uns meteorologische Widernisse und umgestürzte Bäume auf eine Strecke, die uns auf die andere Seite des Dreitausender-Bergmassivs führt. Wir stoßen auf Serauta, ein kleines Dorf, in dessen Nähe sich ein pittoresker Campingplatz befindet, von dem aus eine Seilbahn direkt auf den Marmolata-Gipfel führt. Hier beschließen wir für zwei Nächte zu bleiben.

 

Was für ein Glück. Denn als wir am nächsten Tag und bei strahlendem Sonnenschein mit mehrheitlich einheimischen Tagesausflüglern, also Italienern, an der Gondel anstehen, entdecken wir einen Hinweis auf das höchstgelegene Museum Europas: Hier, auf der Marmolata, in 3069 Metern Höhe, hatten sich im Jahre 1915 österreichische Gebirgsjäger in einem von ihnen ausgehobenen Grabensystem und Gletschertunneln bei eisigen Temperaturen verschanzt, hatten mit Sprengungen und Felsbegradigungen das gesamte Hochplateau ihren militärischen Erwägungen gefügig gemacht und eine sogenannte Eisstadt erschaffen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte Italien auf seiner Neutralität bestanden, war jedoch 1915 an der Seite der Entente gegen die Mittelmächte, also Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich, in den Krieg eingetreten. Die österreichisch-italienische Grenze verlief genau neben dem Gebirgsmassiv der Marmolata, und so war für die Habsburger-Monarchie dieser Höhenzug von strategischer Bedeutung. Bei wolkenlos blauem Himmel auf dem windigen Gletscher wird uns auch sofort bewusst, weshalb: Von hier oben genießt man einen 360 Grad umfassenden Panoramablick auf die umliegenden Dolomiten, ihre Gipfel, Gebirgsketten und – besonders wichtig für Truppenverlegungen – die Täler, die direkt unter uns an den Berg führen. Mit der Seilbahn am Museumseingang angekommen, fallen einem noch vor dem Betreten des 1995 errichteten Ausstellungscontainers aus frostbeständigem Zink viele Zitate von Kurt Tucholsky, Hannah Arendt oder Georg Trakl in italienischer und deutscher Sprache ins Auge. Es sind pazifistische Gedanken, die – in leuchtender Folie auf die  Pfeiler und Treppenwände aufgebracht – die hier ausgestellten Artefakte aus zeitgenössischer Sicht kommentieren sollen. Die Museumsbetreiber, so in ihrem Leitbild festgeschrieben, möchten dem Besucher anhand dieses kleinen, aber nichts desto weniger grausamen Kriegsschauplatzes verdeutlichen, wie ein von Nationalismus und politischem Geltungsdrang verursachter Krieg in die bis dahin so stabilen Strukturen einer europäischen Kulturlandschaft hineinwirken konnte und welche Verwüstungen er nicht nur topographisch in dieser alpinen Region, sondern gerade auch im Denken und Fühlen ihrerdur Bevölkerungsgruppen hinterließ.

 

Man betritt also die beidseitig von gläsernen Vitrinen flankierten Gänge, um die dort ausgestellten Gegenstände zu betrachten. Nun handelt es sich zwar – wie bei jedem anderen konventionellen Militärmuseum – um eine Ansammlung von Ausrüstungsgegenständen und Waffen der sich hier einst bekämpfenden Kriegsparteien, doch das Besondere liegt in einem makabren Umstand, der die Kampfhandlungen vor einhundert Jahren mit den Begleitumständen der heutigen Globalisierung in direkten Zusammenhang bringt: Durch die Klimaveränderungen und das damit verbundene Abschmelzen der Gletscher gibt die Marmolata  seit bereits mehr als 30 Jahren immer wieder frei, was bis dahin als Zeugenschaft des Krieges konserviert im Eise lag: Archäologen der Universität Bozen und regionale Historiker bergen – neben den Gebeinen von Gefallenen – seitdem alles, was hier oben zu besichtigen ist: Kochgeschirre, Feldstecher, Pistolen und Karabiner, Stahlhelme, Schanzwerkzeuge, Zigarettenetuis, Verbandskästen und sogar noch lesbare Tagebücher und Feldpostkarten. Nicht alle diese Exponate sind die Überbleibsel von im Kampfe gestorbenen Soldaten. Den höchsten Blutzoll an einem Tag entrichteten die hier Eingegrabenen im Dezember 1916 nicht durch kriegerische Handlungen, sondern als, durch eine anomal hohe Luftfeuchtigkeit bedingt, der Schnee auf dem Gletscher zu nass und schwer wurde und in der Form eines gewaltigen Bretts mehr als 300 österreichische Gebirgsjäger unter sich erschlug. Nach dieser Katastrophe verstärkten die Italiener ihre Bemühungen, an die Stellungen der Österreicher heranzukommen.

 

Verlässt man das Museumsgebäude und erklettert das unmittelbar daneben befindliche, komplett erhaltene Graben- und Bunkersystem der habsburgischen Truppen, wird die ganze Grausamkeit des hier geführten Stellungskrieges so deutlich wie vielleicht nirgendwo anders in Europa. Die eisige Kälte und die trockene Höhenluft haben dem Stacheldraht, den hölzernen Verschalungen der Unterstände nichts anhaben können. Man blickt in die kleine Gefechtskapelle, in die Mannschaftsküche oder durch die ausgemeißelten Scharten der Scharfschützen, die von hier aus auf die sich von unten nähernden Italiener zielten. Im September 1917 wurden die österreichischen Soldaten hier oben von italienischen Alpini überrannt, und das letzte Gemetzel auf dem Hochplateau fand sein Ende, indem die Italiener von nun an das Kriegsgeschehen im Dolomitenraum bestimmen konnten.

 

Für Besucher wie uns, die ein weiteres Mal die Schönheit und die kulturellen Eigenheiten Südtirols erkunden wollen, stellt sich angesichts des hier zugänglich gemachten Kriegsschauplatzes einmal mehr die Frage, welche Triebkräfte der europäische Nationalismus zu entfalten in der Lage ist, wenn er eben nicht auf eine den Völkern dienende und Friedfertigkeit und individuelle Freiheitsrechte garantierende Souveränität abzielt, sondern die Interessen monarchistischer Potentaten, politischer Demagogen oder militanter Nationalisten vertritt. Die europäische Geschichte der vergangenen fünfundzwanzig Jahre hat gezeigt, dass ein auf vorgeblichem Nationalstolz gründendes Selbstverständnis keinerlei tragfähige und dauerhaft friedliche Perspektive für die Völker und Volksgruppen unseres Kontinents bieten kann. Denn es gibt wohl kaum einen europäischen Staat, der – in der jüngeren Vergangenheit wie in der Gegenwart – vor dem Gift nationalistischer Akteure gefeit gewesen wäre. Das Aufkommen nationalistischer und neuer völkisch-rassistischer Bewegungen in Europa – vom Britischen Königreich über Frankreich und Deutschland, Ungarn, Polen und das Baltikum bis hin zur Ukraine –  gibt beredtes Zeugnis darüber, wie schmerzhaft die Abwesenheit einer starken und geeinten europäischen Linken in so brandgefährlichen Epochen wie der heutigen empfunden werden muss. Neoliberale Schulterschlüsse über alle kontinentalen Grenzen hinweg und globale Bündnisse zur Profitoptimierung und Ausschlachtung regionaler Industrien und Infrastrukturen sind die politischen und wirtschaftlichen Motivationen einer selbsterklärten Elite, die sich in ihrer Solidarität der Milliardäre und Global Players internationalistischer verhalten, als es die sozial und ethnisch Unterdrückten dieser Welt jemals hätten tun können. Warum ausgerechnet der von den international vernetzten Wirtschafts- und Finanzmächtigen und ihren politischen Sprachrohren gepredigte Nationalismus bei den Benachteiligten und Beraubten unseres Kontinents immer wieder einen Resonanzboden findet, muss die zentrale Fragestellung der europäischen Linken bleiben, um in Zukunft nicht als moralisch zwar integre, staatspolitische jedoch völlig einflusslose Bewegung dazustehen.