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Querdenken (un)erwünscht?  (Martin Küpper)

Seit Herbst 2017 findet an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg einmal im Monat der Gesprächskreis Dialektik & Materialismus statt. Es ist der Initiative der Mitglieder des Gesprächskreises zu verdanken, dass ein Diskussionsforum entstanden ist, in dem aktuelle wissenschaftliche Fragestellungen und Erkenntnisse der Naturwissenschaften, Philosophie und Wissenschaftsgeschichte diskutiert werden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem gesamten Bundesgebiet stellen dort ihre Forschungen und Standpunkte vor. Der Gesprächskreis bietet Interessierten ein interdisziplinäres Bildungsangebot, das jeder Universität gut zu Gesicht stehen würde, die im Rahmen ihres Lehrangebots ein solches Programm nicht aufzustellen vermag. Die Seminare werden immer erfolgreicher, können immer mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer anlocken. Mit zunehmendem Erfolg wird der Gegenwind aber rauer. Der Gesprächskreis hat es gewagt, als Klammer Dialektik und Materialismus zu wählen. Beide werden im hiesigen Wissenschaftsbetrieb nicht nur außer Kurs gehalten, ihnen haftet der Ludergeruch der Revolution an.

 

Wehret den Anfängen, dachte sich die Technische Universität Hamburg. Sie untersagte die Werbung für eine Veranstaltung des Gesprächskreises mit dem renommierten Physiker Christian Jooß aus Göttingen, die am 17. November unter dem Titel »Selbstorganisation der Materie. Zur Rolle der materialistischen Methode und Weltanschauung in der Herausbildung einer Entwicklungstheorie der Materie« stattfindet. Wegen angeblicher Terrorismusgefahr ganz im Stile der Anschläge vom 11. September 2001 könne die Veranstaltung nicht beworben werden, hieß es zunächst aus dem Büro des Kanzlers. Mag die Begründung abwegig klingen, weil sie aus einer wissenschaftlichen Veranstaltung mit einem hochrangigen Wissenschaftler an einer wissenschaftlichen Institution einen Workshop zum Bombenbau macht, so basiert sie auf Erfahrungen. Einige der mutmaßlichen Attentäter, die die Anschläge auf das World Trade Center verübten, waren schließlich an der TU Hamburg eingeschrieben. Diesmal wollte man seiner Rolle bei der Terrorabwehr gerecht werden, rückte damit aber den Gesprächskreis, die Referentinnen und Referenten sowie die Universität Hamburg und die Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg in die Nähe von Terrorismus, denn die anderen wissenschaftlichen Institutionen hatten einer Bewerbung der Veranstaltung bereits zugestimmt. Nach einer Reihe von Eingaben und Protestnoten bedauert der Präsident mittlerweile den Fauxpas. Die Hoffnung, dass die Entscheidung revidiert werden würde, wurde jedoch nicht erfüllt. Vielmehr reagierte die TU Hamburg auf die Nachfrage für die Rechtsgrundlage dieser Entscheidung mit einem altbewährten Mittel aus der Mottenkiste des letzten Jahrhunderts: Antikommunismus.

 

Recherchen hätten ergeben, dass der Koordinator des Gesprächskreises Abgesandter der Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal und der Gesprächskreis somit Teil einer politischen Vereinigung sei. Da man sich jedoch der politischen Neutralität verpflichtet fühle und um Zurückhaltung bei jeglicher Werbung bemüht sei, könne das Werbeverbot nicht zurückgenommen werden. Nicht nur, dass die Zusammenhänge fingiert sind, es wird außerdem der Anschein erweckt, bei dem Gesprächskreis handele es sich um eine kommunistische Frontorganisation, die von der Marx-Engels-Stiftung zum Zwecke der Einflussnahme gesteuert würde. Ihren Verdacht sieht die TU Hamburg darin begründet, dass die wissenschaftlich anerkannte und gemeinnützige Marx-Engels-Stiftung auf ihrer Website auf die Veranstaltungen des Gesprächskreises hinweist. Auf diese Weise wird eine Bedrohung beschworen, gegen die repressiv vorgegangen werden müsste. Dafür ist die TU Hamburg sogar bereit, das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit wie das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit einzuschränken.

 

Es bedarf noch mehr öffentlichen, politischen Drucks, um den Vorfall nicht zu einem Präzedenzfall werden zu lassen. Die Verantwortlichen der TU Hamburg müssen zum Umdenken, besser zum differenzierten Denken bewegt werden. Die TU Hamburg könnte dann ihren selbst gesetzten Ansprüchen gerecht werden, wenn es derzeit auf der Website in großen Lettern heißt: »Querdenken erwünscht«.

 

 

Martin Küpper studierte Philosophie und Geschichte in Potsdam, Berlin und Bergen. Jüngste Publikation: Johannes Oehme/Martin Küpper/Vincent Malmede (Hg.): »Hans Heinz Holz. Die Sinnlichkeit der Vernunft. Letzte Gespräche«, Das Neue Berlin, 336 Seiten, 20 €

 

Die im Artikel angesprochene Veranstaltung findet am 17. November von 10 bis 16 Uhr in der Hochschule für Angewandte Wissenschaft statt, Alexanderstraße 1, Hamburg, Eintritt 10 €, Anmeldung: unsereweltclub@gmail.com.

 

Weitere Informationen unter: http://www.offene-akademie.org/?p=697