erstellt mit easyCMS
Titel2218

Please hold the line  (Reiner Diederich)

Unsere schnelllebige Zeit bedarf dringend der Entschleunigung. Eine der besten Gelegenheiten, Geduld und Gelassenheit zu trainieren, ist der Aufenthalt in einer telefonischen Warteschleife. Früher bekam man einfach keine Verbindung, oder das Besetztzeichen signalisierte, dass man es später noch einmal versuchen oder ganz sein lassen sollte. »Kein Anschluss unter dieser Nummer« – das war eine ultimative Auskunft, auf die man sich verlassen konnte. Jetzt aber gibt es Fälle, in denen kein Anschluss möglich zu sein scheint, obwohl die Nummer richtig ist. Um dies zu kaschieren, die Fiktion der Erreichbarkeit aufrechtzuerhalten und einen guten Service zu simulieren, wird der ahnungslose Anrufer dringend aufgefordert, nicht aufzulegen, sondern einen Moment zu warten, bis eine der Leitungen frei sei, auf denen leider gerade gesprochen werde. So geschehen beim Versuch, ein Arztzentrum in Frankfurt am Main zu kontaktieren. Hier das Protokoll dieses Versuchs, der gefühlt mindestens eine halbe Stunde dauerte. Zu Test- und Beweiszwecken wurde er nicht früher abgebrochen, sondern erst, als jegliche Hoffnung schwand, dass vor dem Ende der »Sprechstunde« noch eine Terminabsprache für den Arztbesuch zustande kommen würde.

 

Anschwellende, muntermachende Musik, dann eine Frauenstimme: »Bitte warten Sie einen Augenblick, es geht gleich weiter.« Es folgen mehrere Minuten Musik, worauf es mit einer anderen Frauenstimme weitergeht: »Leider wird noch auf allen Leitungen gesprochen, bitte haben Sie ein wenig Geduld.« Der Anrufer versucht, sich in Geduld zu üben und der Musik hinzugeben, obwohl sie nicht sein Geschmack ist. Plötzlich eine Männerstimme: »Bitte bleiben Sie am Apparat. Please hold the line.« Interessant, dass es erst jetzt international wird. Vermutlich schätzen die Designer dieser Warteschleife es so ein, dass ausländische Kunden wesentlich gelassener sind als deutschsprachige. Oder dass sie sich einfach hinten anzustellen haben. Schließlich sind wir in Deutschland. Die Musik wechselt zu einem getragenen, fast schon etwas meditativen Rhythmus. Kaum hat der Anrufer versucht, sich von ihm in Trance versetzen zu lassen, wird er durch eine weitere Männerstimme herausgerissen: »Einen Moment bitte. One moment please.« Darauf folgt – nichts. Außer Musik selbstverständlich. Nach einer Weile dann wieder die erste Frauenstimme, diesmal mit einer geringfügigen Variation im Text: »Bitte warten Sie einen kleinen Augenblick, es geht gleich weiter.« Dieses erneute Versprechen, garniert mit einer geradezu philosophischen Wendung – der kleine Augenblick, in dem sich die Ewigkeit spiegelt – bewegt den Anrufer, die Verbindung noch länger aufrechtzuerhalten, obwohl er schon sicher ist, dass die Leitung an diesem Vormittag nicht mehr »frei« werden wird. Es geht weiter wie gehabt. Die Stimmen wechseln sich ab, manchmal folgen sie dicht aufeinander, überschneiden sich sogar ein wenig, wie um die Beschwörungsformeln zu potenzieren.

 

Die Erklärung für all das ist ganz prosaisch: Zeit ist Geld, und wenn es die Zeit des Kunden ist, kann sie ihm ruhig gestohlen werden, solange er auf den Service angewiesen ist. Mehr Personal einzustellen wäre zu teuer und würde den Gewinn schmälern. Nur wenn es eine Extraleitung für Privatpatienten gibt, lohnt sich der Aufwand. Vielleicht soll der normalsterbliche Anrufer auch nur abgeschreckt und auf die Möglichkeit verwiesen werden, Arzttermine per E-Mail zu vereinbaren. Das spart auch Kosten, weil diese von den medizinisch-technischen Assistentinnen in den Minuten beantwortet werden können, wo sie etwas weniger zu tun haben, oder außerhalb der Sprechzeiten.

 

Das Grundübel unseres Gesundheitswesens aber bleibt von all dem unberührt. Im alten China, heißt es, bekamen die Ärzte nur Geld, wenn ihre Patienten gesund wurden. Bei uns bekommen die pillenverkaufenden Pharmakonzerne und alle anderen Mitverdiener auch und gerade Geld, wenn die Patienten krank bleiben.