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Abwarten und Brexit ab-? wählen  (Johann-Günther König)

Im September 2016 schrieb ich in Heft 18 dieser Zweiwochenschrift: »Nix Genaues über den von 52 Prozent der abstimmungsbeteiligten Briten gewünschten Brexit weiß man nicht.« Und fuhr fort: »Als 1989 der große britische Schriftsteller und Übersetzer Julian Barnes seinen Roman ›England, England‹ veröffentlichte (die deutsche Übersetzung von Gertraude Krueger erschien 1999), war das Wort Brexit noch nicht erfunden. Der Abschied des Königreichs beziehungsweise ›Old England‹ von ›Europa‹ wird in dem grotesken Roman jedoch bereits vollzogen. […] Julian Barnes schildert in seinem Roman das immer schwieriger werdende Regierungshandeln im darbenden Old England, nachdem sich die politischen Versprechungen – neues Wirtschaftswachstum, stabile Währung und so weiter – nicht bewahrheiten. Als gar nichts mehr klappt und die Krise unerträglich wird, kommt eine neue Regierung ans Ruder: ›Sie löste‹, schreibt Julian Barnes, ›das Land aus der Europäischen Union – wobei sie die Verhandlungen mit derart verbohrter Irrationalität führte, dass man ihr für den Auszug am Ende noch Geld zahlte …‹ (1999, S. 328)«

 

Die Brexitzwischenbilanz im November 2019 lautet so: Ein Referendum gewonnen, die Premiers Cameron und May aussortiert, ein »Hung Parliament« mit unklaren Mehrheiten seit 2017, zwei Eingriffe des höchsten Gerichts Supreme Court, zwei weder vom Unterhaus noch vom EU-Parlament ratifizierte Deals beziehungsweise Austrittsabkommen mit der EU, drei Fristverlängerungen – neuerdings bis spätestens zum 31. Januar 2020 – und Neuwahlen am 12. Dezember 2019. Aber immer noch kein Brexit, obwohl Boris Alexander de Pfeffel Johnson ihn für den 31. Oktober quasi über seine Leiche fest versprochen hatte. Nicht zu vergessen, einen Nachfolger für den selbstherrlichen Parlamentspräsidenten John Bercow gibt es seit dem 4. November auch: Lindsay Hoyle. Der Labour-Abgeordnete und bisherige Vizepräsident kündigte an, neutral und transparent zu arbeiten – kann das aber erst nach den anstehenden Neuwahlen nachhaltig versuchen, denn am 5. November wurde das von der Daily Mail als »house of fools« (Haus der Narren) gebrandmarkte Unterhaus, in dem der Premier über keine Mehrheit mehr verfügte, aufgelöst. Seitdem herrscht Wahlkampf.

Können die Parlamentswahlen am 12. Dezember das Brexitdilemma lösen, das seit 2016 die Agenda dominiert? Werden die wahlberechtigten Bewohner des Vereinigten Königreichs ein Unterhaus »installieren«, das die notwendige Mehrheit für die Ratifizierung des am 17. Oktober nach einem endlos scheinenden Tauziehen von Premier Johnson mit der EU neu geschlossenen Austrittsabkommens herstellen oder womöglich das Brexit-Votum rückgängig machen kann? Sicher ist: Solange der Brexit-Deal nicht ratifiziert ist, kann das Vereinigte Königreich jederzeit verkünden, Mitglied der EU zu bleiben. Einfach so und sicherlich ohne für die Riesenkosten, die das Brexittheater allein für die EU und die einzelnen Mitgliedstaaten verursacht hat, zur Kasse gebeten zu werden. Für die Neuaufstellung der EU-Kommission unter der trickreich aufs Schild gehobenen Präsidentin Ursula von der Leyen kann und muss London aufgrund der Austrittsverschiebung sogar eine Kommissarin oder einen Kommissar stellen.

 

Als Boris Johnson Mitte Oktober gegen alle Erwartungen die Einigung mit Brüssel auf einen abgewandelten Deal gelang, zerschellte zugleich das bis dahin bestehende Bündnis der Regierung mit der nordirisch-protestantischen und extrem reaktionären Partei DUP. Sie hatte zuvor bereits den Backstop abgelehnt und im Unterhaus entsprechend gegen Mays Deal gestimmt, und sie lehnt auch die neue Variante ab, die Irland gewissermaßen tendenziell vereinigt. Denn laut dem modifizierten Austrittsvertrag soll Nordirland weiter die Regeln des EU-Binnenmarktes anwenden, um Grenzkontrollen zum EU-Mitglied Irland zu vermeiden. Dazu gehören auch Produkt- und Hygienestandards sowie Vorgaben für Tier- und Lebensmittelkontrollen. Zum Ausgleich soll die Provinz Nordirland zwar in einer Zollunion mit Großbritannien bleiben, aber die Irische See als eine Art Außengrenze bekommen, denn bei Gütern von außerhalb Europas, die auch in die EU gelangen könnten, müssten fortan die britischen Behörden EU-Zölle erheben. Vorgesehen ist auch, dass Nordirlands Regionalparlament dann alle vier Jahre darüber entscheiden kann, ob es die Vereinbarung fortführt. Allerdings sollte zu denken geben, dass die Regionalversammlung bereits seit mehr als einem Jahr wegen Korruptionsvorwürfen gegen die DUP suspendiert ist …

 

Der neue – überwiegend dem zuvor von Theresa May verhandelten entsprechende – Austrittsvertrag beinhaltet im Wesentlichen die folgenden Regelungen: Nach dem Brexit gibt es eine Übergangsphase, während der das Königreich im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion verbleibt, um einen harten Schnitt für die Wirtschaft zu vermeiden. Dieser Zeitraum endet am 31. Dezember 2020, wenn er nicht bis maximal Ende 2022 verlängert wird. London wird so lange weiter das EU-Regelwerk anerkennen und Mitgliedsbeiträge zahlen, aber kein Stimmrecht haben. Während der Übergangsphase wollen beide Seiten ein großzügiges Freihandelsabkommen aushandeln. Die EU stellt dafür in einer zusätzlichen »politischen Erklärung« zu den künftigen Beziehungen eine Vereinbarung »ohne Zölle und Quoten« in Aussicht. Im Gegenzug werden vom Vereinigten Königreich »Garantien« für faire Wettbewerbsbedingungen verlangt. Die Regierung in London kann bereits »internationale Abkommen« mit Drittstaaten im Handelsbereich schließen, sofern diese allerdings erst nach der Übergangsphase in Kraft treten. Die in Großbritannien lebenden Menschen aus anderen EU-Staaten und die in der EU lebenden Briten behalten am jeweiligen Ort das Recht zu bleiben, zu arbeiten oder zu studieren. Auch Ansprüche auf Krankenversicherung, Renten und sonstige Sozialleistungen bleiben garantiert. Darüber hinaus sollen tausende Pendler aus Spanien weiterhin problemlos in Gibraltar arbeiten können. Da mit dem Brexit auch der Austritt aus der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) erfolgt, soll für den vielfältigen Atommüll dann das Land zuständig sein, in dem das Material erzeugt wurde. Das Vereinigte Königreich verspricht, nach dem Austritt alle Finanzverpflichtungen zu erfüllen, die es während seiner Mitgliedschaft eingegangen ist – selbst wenn sie über die Übergangsphase hinausreichen. Die Berechnungsmethode dafür ist »einvernehmlich« festgelegt. Im Falle von Streitfällen über die Austrittsvereinbarung ist ein Schiedsgremium vorgesehen, dessen Beschlüsse bindend sind. Es kann dabei sogar den von den Brexiteers ungeliebten Europäischen Gerichtshof anrufen und bei Verstößen Geldbußen verhängen. Wenn sich eine Seite nicht an den Schiedsspruch halten sollte, könnte die andere – jedenfalls auf dem Vertragspapier – je nach Ausmaß des Verstoßes sogar Teile des Austrittsabkommens aussetzen.

 

Der vom EU-Rat erneut gewährte Aufschub bis längstens zum 31. Januar 2020 beinhaltet übrigens einige »Auflagen«, darunter die von Emmanuel Macron durchgesetzte, dass die verbleibende Zeit bis zum Brexit nicht für weitere oder neue Verhandlungen genutzt werden darf. Nehmen wir einmal an, die Labour Party würde ab dem 13. Dezember mit Jeremy Corbyn den nächsten Premier stellen. Labours Parteitagsbeschluss sieht vor, erst den Brexit neu zu verhandeln und das Ergebnis dann in einem Referendum zur Annahme oder Ablehnung zu stellen. Wie aber soll das gehen, wenn die EU nicht erneut verhandeln will?

 

Der noch amtierende Premier Johnson wiederum hat nach seinen vielen Niederlagen in den Unterhausabstimmungen zwar mit Ach und Krach eine Mehrheit für Neuwahlen hinter sich bringen können, weil die Labour Party ihren Widerstand überraschend aufgab. Aber ein Selbstläufer zum Brexit wird diese politische Weichenstellung aller Wahrscheinlichkeit nicht. Nun würde ich Boris Johnson zwar nicht unterschätzen, dessen großes Vorbild Winston Churchill auch zunächst als draufgängerischer und ungestümer Fehlstarter bespöttelt wurde, bevor er als ein hochgeachteter Staatsmann und später zudem Literaturnobelpreisträger in die Geschichte einging. Die komplexe Ausgangsposition kann dem »Get Brexit done«-Maulhelden am Wahltag aber sehr wohl ein Ergebnis einspielen, das er politisch kaum überleben dürfte: ein erneutes »Hung Parliament« ohne eindeutige Mehrheit oder gar die Niederlage. Jedenfalls dürfte sich am historisch bereits herausragenden 12. Dezember erweisen, dass das traditionell große Parlamentssitzpotential von Tories und von Labour geschrumpft sein wird, weil andere Parteien erheblich zulegen konnten. Vor allem die Liberaldemokraten (Lib Dems), die Schottische Unabhängigkeitspartei SNP, die walisische Plaid Cymru oder Farages Brexit Party (wohl weniger die bislang kaum wahrnehmbare Green Party beziehungsweise die Grünen) dürften mit ihren eindeutigen Anti- und Pro-Brexit-Profilen mehr Unterhaussitze als 2017 holen. Abgestimmt wird in 650 Wahlkreisen, deren 650 Sitze nach dem relativen Mehrheitswahlrecht beziehungsweise der Regel »first-past-the-post« vergeben werden. Der Kandidat mit den meisten Stimmen zieht ins Unterhaus ein.

 

Schon weil die Stimmung in der Bevölkerung unbeständig scheint und sich Umfragen zufolge die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler stärker auf »Leave« oder »Remain« geeicht als sich mit einer Partei verbunden fühlt, könnten sowohl die gegen den Brexit positionierten Lib Dems, die SNP und Plaid Cymru als auch die für einen harten EU-Austritt ohne Vertrag kämpfende Brexit Party für empfindliche Wahlkreis- und damit Stimmenverluste bei Konservativen und Sozialdemokraten sorgen. Übrigens haben sich Lib Dems, Greens und Plaid Cymru darauf geeinigt, sich bei 60 Sitzen in England und Wales keine Konkurrenz zu machen.

 

Die Labour Party mit Spitzenkandidat Jeremy Corbyn, der jedenfalls mit Worten die »ehrgeizigste und radikalste Kampagne« gestartet hat, wirkt zerrissen, weil sich in ihr Befürworter und Gegner des Brexits mehr oder weniger die Waage halten. Dennoch wirbt sie mit nachgerade überwältigenden Zielen für die kommende fünfjährige Legislaturperiode. Im Falle der Regierungsübernahme will Labour bis zum Juni 2020 die Brexitproblematik aus der Welt schaffen und bis 2025 die Armut von arbeitenden Menschen, die Obdachlosigkeit und die Abhängigkeit stolzer Menschen von Tafeln eliminieren, 1,4 Millionen alten Menschen die notwendige Hilfe gewähren, die (hohen) Studiengebühren abschaffen, durch den Bau neuer bezahlbarer Wohnungen jedem ein Dach über dem Kopf garantieren, die langen Wartezeiten der Patienten erheblich verkürzen, die Schulklassenstärken überall unter 30 drücken, die grüne industrielle Revolution vorantreiben, die CO2-Emissionen drastisch senken und hunderttausende neuer Jobs in der regenerativen Energiebranche und vor allem in notleidenden Kommunen schaffen.

 

Die Conservative Party von Boris Johnson, deren Mitglieder überwiegend den Slogan »Get Brexit done« unterstützen, setzt sich für bessere Krankenhäuser, mehr Geld für Schulen und die vielen verarmten Städte, für mehr Polizisten auf den Straßen und selbstverständlich für die prompte Umsetzung des Brexits ein. Boris Johnsons Attacke gegen Jeremy Corbyn, dem er im Daily Telegraph vorwarf, er verbreite in seiner Partei Hass auf jede Art von Profitstreben, und dies »mit einem Vergnügen und einer Rachsucht, wie es nicht mehr gesehen wurde, seit Stalin die Kulaken verfolgte« zeigt, dass die Nervosität steigt (6.11.; eig. Übers.). Von Trumps Forderung, die Tories unter Boris Johnson und die Brexit Party unter Nigel Farage sollten zusammenarbeiten, ganz zu schweigen. Im Übrigen bleibt abzuwarten, ob sich Nigel Farages Brexit Party tatsächlich vor allem auf Labour-Wahlkreise mit Leave-Mehrheiten konzentriert.

 

Fest steht: Mehr als fünfzig teils namhafte Abgeordnete treten nicht mehr an, einige – vor allem weibliche – auch deswegen, weil sie die Hassmails, die Todesdrohungen, die Angst vor Übergriffen und Anschlägen nicht mehr ertragen können. Bezeichnenderweise gab jüngst Kulturministerin Nicki Morgan ihren Rückzug bekannt – nicht aus politischen Gründen, sondern wegen des permanenten Klimas der Angst, in dem sie lebe und arbeite und das sie ihrer Familie nicht weiter zumuten wolle. Unfreiwillige Abschiede dürften hinzukommen – zahlreiche EU-freundliche Abgeordnete der Tories müssen fürchten, in ihren Wahlkreisen bei der Kandidatenkür durchzufallen. Schaun wir mal …