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Vom Nutzen der Pressefreiheit  (Georg Rammer)

Die Bundespressekonferenz ist eine demokratische Institution. Hier haben nicht die Bundesregierung oder die Parteien die Deutungshoheit. Hier kriegen nicht ausgewählte regierungsnahe JournalistInnen handverlesene Informationen für die Öffentlichkeit gesteckt. Hier sind die Rollen vertauscht: VertreterInnen der Presse laden ein, bestimmen das Verfahren, und die SprecherInnen der Regierung und der einzelnen Ministerien müssen sich den kritischen Fragen stellen. Und das auch noch öffentlich, denn alles wird protokolliert und vom Journalisten Tilo Jung auf dem youtube-Kanal »Bundesregierung für Desinteressierte« regelmäßig ins Netz gestellt – getreu seinem Ansatz zu informieren, wie die Bundesregierung informiert.

 

Ob sie tatsächlich als demokratisches Instrument funktioniert, die Macht der Exekutive von ihr wirklich kontrolliert wird, hängt einerseits davon ab, wie die Pressevertreter ihre Rolle auslegen, ob sie also ihrer Aufgabe als »vierte Gewalt« gerecht werden. Andererseits besonders davon, dass die RegierungsbeamtInnen wahrheitsgemäß und umfassend Auskunft geben. Schafft der eingetragene Verein Bundespressekonferenz »die Möglichkeit einer umfassenden Unterrichtung der Öffentlichkeit«, wie es laut Satzung angestrebt wird? Besuchen wir im Rahmen der Bundespressekonferenz die »Regierungspressekonferenz«, in der sich der Regierungssprecher – seit zehn Jahren Staatssekretär Steffen Seibert – und SprecherInnen der Ministerien dreimal pro Woche den Fragen stellen und Gelegenheit bekommen, die deutsche Politik darzustellen.

 

Zu Beginn der Konferenz – nehmen wir als Beispiel den 26. Oktober – unterrichtet die Bundesregierung über aktuelle Entwicklungen. Themenwahl, Blickwinkel und Informationswert des Berichts entsprechen in etwa den Nachrichten großer Rundfunk- und Fernsehsender. Aber in der Bundespressekonferenz besteht die Möglichkeit zu kritischen Rückfragen, die das Framing, also den Deutungsrahmen, der Regierungssprecher in Frage stellen können. Und so entwickelt sich in dieser Konferenz eine bemerkenswerte Dramatik:

 

»Frage Warweg [RT Deutsch]: Die deutsche Luftwaffe hat in den letzten Oktoberwochen gemeinsam mit NATO-Alliierten die Übung ›Steadfast Noon‹ durchgeführt, also das Anbringen und Abwerfen von US-Atomwaffen in Deutschland trainiert. Laut Eigendarstellung der NATO geschah dies, ich zitiere, ›zur Verteidigung des Bündnisgebiets‹. [...] Heißt das, dass das Trainieren des Abwurfs von US-Atomwaffen durch deutsche Tornados auf deutschem Staatsgebiet in der NATO-Logik unter Verteidigung des Bündnisgebietes fällt?

 

Collatz, Bundesministerium der Verteidigung: Zu den Fragen der nuklearen Teilhabe habe ich hier schon einiges gesagt. [...] Zu den Details der Umsetzung machen wir keine Angaben, da sich die Informationspolitik der Bundesregierung hinsichtlich der Nuklearstreitkräfte der NATO aus Sicherheitsgründen an den Geheimhaltungsregeln des Bündnisses ausrichtet. [...]

 

Zusatz Warweg: Aber es ist ja auch für das Gesamtverständnis der bundesdeutschen Bevölkerung schon relevant, zu wissen, ob deutsche Tornados Atomwaffenabwürfe auf deutschem Territorium im Verständnis, dass dies der Verteidigung des Bündnisgebietes gilt, testen.

 

Collatz: Hinsichtlich der Details der Übung verweise ich auf die Geheimhaltungsregeln, denen ich hier unterliege. Insgesamt muss natürlich das, was militärisch geplant ist, auch geübt werden [...]« (www.jungundnaiv.de, 26.10.2020)

 

Der Ausschnitt verdeutlicht vor allem die Strategie der Bundesregierung, gerade bei umstrittenen Themen abzublocken, statt durch genaue Information der interessierten Öffentlichkeit ein eigenes Urteil zu ermöglichen. Aufschluss geben die ausweichenden, floskelhaften Antworten immerhin darüber, welche Entscheidungen die Bundesregierung nicht preisgeben will; denn sie weiß, dass sie gegen Mehrheitsmeinungen und Interessen der Bevölkerung verstößt.

 

Erfahrene Presseleute sind gewiss in der Lage, die Taktik der Regierungsseite zu durchschauen. Bei »sensiblen« Themen rennen sie aber gegen eine Wand an. Verfolgen wir einen Wortwechsel, der sich gegen Ende der Konferenz ergibt:

 

»Frage Jung [www.jungundnaiv.de]: Honduras hat als 50. Staat der UN den Vertrag zum Verbot von Atomwaffen ratifiziert. Damit wird das UN-Atomwaffenverbot binnen 90 Tagen in Kraft treten, und Deutschland wird nicht Teil dieses Vertrages sein. [...] Wann planen Sie, diesem Vertrag beizutreten und ihn zu ratifizieren?

 

Seibert, Bundespresseamt: [...] Wir haben hier häufig unsere Haltung zur Situation nuklearer Bewaffnung dargestellt. [...] Die Bundesregierung steht unverändert und in vollem Umfang zur defensiv ausgerichteten Nuklearstrategie der NATO. Vor diesem Hintergrund ist Deutschland dem Atomwaffenverbotsvertrag nicht beigetreten.

 

Frage Jung: Setzt sich die Regierung immer noch für eine atomwaffenfreie Welt ein? Habe ich Sie richtig verstanden, Herr Seibert, dass auch Deutschland immer noch Atomwaffen als Mittel militärischer Auseinandersetzung sieht? [...]

 

Seibert: Sie möchten jetzt, dass wir etwas wiederholen, was wir hier wirklich viele Male dargelegt haben, nämlich unsere Überzeugung, dass wir uns natürlich eine atomwaffenfreie Welt wünschen, wir aber auch die Realitäten sehen. [...]«

 

Gegen die beharrliche Verweigerung einer »umfassenden Unterrichtung« ist der Journalist machtlos. Selbstverständlich wäre es böse Unterstellung zu behaupten, dass Regierungssprecher Steffen Seibert genau für diese Leistung des Ausweichens und der Nicht-Antwort mit einem monatlichen Grundgehalt von 14.157,33 Euro belohnt wird. Respekt und Anerkennung verdienen dagegen zwei Journalisten, die es mit beharrlichem Nachfragen immer wieder schaffen, den Routineablauf zu durchkreuzen. Tilo Jung als Gründer des Formats Jung & Naiv und Florian Warweg als Leiter der Online-Redaktion bei RT Deutsch nutzen ihr Recht und machen sich mit ihrem unbequemen Nachhaken um die Pressefreiheit verdient.

 

Verdient gemacht hatte sich auch ein anderer Journalist, der seit zehn Jahren von staatlichen Organen – Polizei, Justiz, Geheimdiensten – verfolgt wird in der Absicht, seine berufliche, psychische und auch physische Existenz zu vernichten. Nicht von Diktatoren, sondern von Staaten der demokratischen »Wertegemeinschaft«. Immer noch steht Julian Assange wie ein Verbrecher vor Gericht, weil er Staatsverbrechen aufgedeckt hat. Die Bundesregierung verweigert aber jegliche Kritik an den Menschenrechtsverletzungen; entsprechend zynisch fallen die Antworten in der Bundespressekonferenz aus.

 

»Frage Jung: Die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierung hat die Situation von Julian Assange als rechtswidrige Festsetzung bewertet. Schließt sich die Bundesregierung dieser Einschätzung an? [...]

 

Dr. Schäfer, Auswärtiges Amt: Wir haben das sehr aufmerksam verfolgt, was da passiert.

 

Frage Jung: Das ist ja nicht die Frage. [...] In der Regel widersetzen sich Diktaturen solchen UN-Bewertungen, und diesmal sind es Großbritannien und Schweden. Da wär‘s gut zu wissen, wie eine deutsche Regierung dazu steht. Sagen Sie auch, es ist uns egal, was die UN sagt?

 

Dr. Schäfer: [...] Ganz sicher nicht. Aber wir haben volles Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit in den beiden Ländern, die Sie erwähnt haben.« (»Wie steht die Bundesregierung zum Fall Julian Assange?«, 8.2.2016, https://www.youtube.com/watch?v=R57ha4s6szs. Vgl. dazu auch eine Aufnahme neueren Datums: »Regierungssprecher zu Appellen zur Freilassung von Assange: Unsere Haltung wird sich nicht ändern« vom 3.2.2020)

 

Hunderte von Aufnahmen bei RT Deutsch und Videos plus Wortprotokolle bei Jung & Naiv zeigen ein ähnliches Muster. Bei Themen, die die Bevölkerung nicht durchschauen soll, blockiert die Regierung; da geht es beispielsweise um die Kluft zwischen Arm und Reich, Hartz IV, die Organisation für das Verbot chemischer Waffen, Venezuela, Nawalny oder Waffenexport. Es ist aufschlussreich, Ausschnitte aus Bundespressekonferenzen auf Video anzuschauen und bei den Floskeln der Regierungsvertreter die Gesichter zu beobachten. Es sind Zeugnisse einer heuchlerischen politischen Haltung und der Korrumpierung ihrer Vertreter. Solche Dokumente der Aufklärung werden etwa in der Tagesschau der Öffentlichkeit vorenthalten; sie übernimmt zu unkritisch die Statements von Regierung, Parlament und Parteien. Zwar vermag die Bundespressekonferenz dem demokratischen Anspruch einer »umfassenden Unterrichtung« nur zum Teil gerecht zu werden; wenn es ihr gelingt, das beredte Beschweigen der Regierungsseite zu demonstrieren, verdient sie Respekt.