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Titel2220

Die Zweieinhalb-Seiten-Rettung  (Heinrich Peuckmann)

Die Straße meiner Kindheit, Rottstraße Kamen, gibt es schon lange nicht mehr. Fachwerkfassaden, kleine Häuschen, die meisten mehr als hundert Jahre alt, alles abgerissen, flächensaniert. Es war die Straße der Schuhmacher, zu meiner Kindheit gab es noch drei von ihnen, die ihre Arbeit in dunklen Werkstätten verrichteten. Mein Opa, der viel zu früh verstarb, sodass ich ihn nie kennengelernt habe, hatte einen Frisiersalon und zog nebenbei Zähne. Kleinbürgerliches Milieu, aber geprägt von der Solidarität der kleinen Leute. Man zog übereinander her, aber man hielt trotzdem zusammen.

 

Gespräche über Bücher, über Kultur allgemein, fanden so gut wie nie statt. Einer meiner Onkel konnte Goethes Erlkönig auswendig und sagte ihn bei jeder Geburtstagsfeier auf. Ich besaß immerhin das Buch von Storms »Kleinem Häwelmann«, ein Erbstück aus der Elterngeneration. Es ist ein wunderbares Buch, denn Leben, lernte ich, ist mehr als platte Realität. Was sich der kleine Häwelmann pustend erobern konnte, das würde auch ich schaffen.

 

Kam daher meine Lust zu lesen, am Ende sogar die zu schreiben? Wohl kaum. Das wäre eine zu kurze Startbahn für einen langen Flug. Aber ein bisschen, ein kleines Bisschen haben Häwelmann und der verführerische Erlkönig vielleicht doch bewirkt. Es gibt, lernte ich, eine andere, eine geheimnisvolle Welt, die reizvoll war.

 

Aber Kunst, so eine richtige Auseinandersetzung mit Kunst, die fand in unserer Straße nie statt.

 

»Wat willze denn mit all den Büchern, Heinzken? Wat soll dat bringen?«

 

Als Künstler in unserer Straße galt einzig der dicke Becker, der in der Bergmannskapelle die Pauke schlug. Unbarmherzig schlug er auf das Instrument ein, als hätte er mit ihm eine persönliche Rechnung zu begleichen. Wenn bei den Schützenfesten spät am Abend noch mal die Kapelle spielte, hörte man nur noch seine Pauke aus dem Zelt. »So sind sie eben, die Musiker.«

 

Dann aber passierte etwas Merkwürdiges. Nichts ist so, dass es ewig bleibt, es gibt Quantensprünge. Der alte Fritsch, der Hausmeister meiner Schule, die sich auf der anderen Straßenseite hoch vor unserem Haus auftürmte, hatte plötzlich eine neue Leidenschaft. Wenn er die Schule geputzt hatte, lag er gerne hoch über uns im Fenster und rauchte. Und eines Tages begann er, dabei französische Chansons zu hören. Unvorstellbar, woher diese Leidenschaft kam. Die Nachbarn jedenfalls schüttelten den Kopf. »Wat hört der denn da? Ist dat auch Musik?« Das waren doch ganz andere Töne als die von Freddy und Peter Alexander.

 

Der alte Fritsch ließ sich nicht beirren und suchte in mir einen Mitstreiter.

 

»Heinzken, hörst du den Char-les?«, rief er, wenn er mich sah, und meinte damit Charles Aznavour, dessen Vornamen er nicht mal richtig aussprechen konnte und den er in zwei Silben sprach: Char-les. Und damit ich ihn auch wirklich hören konnte, stellte er die Musik lauter.

 

»Was heißt la vie, was heißt l´amour?«, rief er, und ich antwortete so gut ich konnte. Im Grunde waren das meine ersten Gespräche über Kunst in unserer Straße. So wurden wir Verbündete, der alte Hausmeister und ich, Mitstreiter bei einem Fluchtversuch, der beim alten Fritsch zu ein paar Stolperschritten vorwärts reichte, der bei mir aber weiter ging. Viel weiter. Ich las nämlich gern. In der Straße meiner Kindheit las kaum einer Bücher. Der alte Brune tat es, einer der drei Schuster. Er las vor allem Zeitschriftenberichte über ferne Länder, die ihn hinausführten aus der Enge seiner Werkstatt. Aber der alte Brune erblindete schnell. »Siehsse, lesen schadet den Augen.« Als ich mir mal wieder ein Buch in der einzigen Buchhandlung unserer Stadt kaufen wollte, rief die Verkäuferin fast schon erschrocken: »Junge, bist du wieder da? Willst du schon wieder ein neues Buch? Hast du die anderen denn schon durch?«

 

Ja, ich wollte ein neues Buch, und ja, ich hatte die anderen schon durchgelesen. Ein wenig verschüchtert suchte ich mir ein neues aus.

 

Volles Verständnis für meine Lese- und zunehmende Schreiblust fand ich erst am Gymnasium, denn dort traf ich auf einen Deutschlehrer, der selber schrieb. Erzählungen, vor allem Hörspiele, die wir am Abend hörten und über die wir in der nächsten Deutschstunde mit Rudolf Schlabach, so hieß der Lehrer, diskutierten.

 

Mein Weg zum Gymnasium, das passt zu mir und meiner kulturfernen Rottstraße, war ebenfalls kein gradliniger. Kinder aus unserer Straße, meinte mein Grundschullehrer, hätten auf dem Gymnasium keine Chance. Unser Deutsch sei schon eingeschränkt, wie sollten wir da noch Englisch und später Latein lernen? So landete ich auf der Realschule, eine Station, die ich aber selber, nach einer weiteren Aufnahmeprüfung, korrigierte. Noch heute staune ich über meinen damaligen Mut als Zwölfjähriger, diesen Schritt zu wagen.

 

Meine ersten Schreibversuche interessierten niemand, meine ersten Veröffentlichungen später in den Büchern des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt, in dem ich, durchaus passend für meine Herkunft, Mitglied wurde, so gut wie keinen. Nur meine Mutter bekam Angst. Ich mischte mich ja ein, war politisch in meinen Erzählungen und Gedichten, und bei der SPD-Betonfraktion, die meine Heimatstadt ohne Unterbrechung bis heute regiert, schnell verhasst. Unfähig zur Diskussion, verleumdeten die regierenden Politiker lieber ihre Kritiker. Ein kluger Gedanke, und schon war man Kommunist. Und ich war hier dauernd Kommunist, wenn ich mal etwas angeben darf. Die Einstellung meiner Mutter änderte sich, als mich der Pfarrer Werner Sanß aus Selm zu einer Lesung in seiner Kirchengemeinde einlud. Ich nahm meine Mutter mit zur Lesung, sie war entschieden aufgeregter als ich, und als ich für die Lesung am Ende auch noch hundert Mark erhielt, die ich meiner Mutter schenkte, war sie baff. Mein Vater bekam gerade mal 590 Mark Rente. So ganz unfruchtbar, erfuhr meine Mutter, war die Sache mit meiner Literatur also doch nicht.

 

Meinen Durchbruch mit meiner Literatur erlebte ich, wenn man so will, im Referendariat als Lehrer. Wieder typisch für mich musste ich bei meinem Studium einen Umweg gehen. Von knapp 600 Mark einen Sohn studieren zu lassen, war eigentlich nicht möglich. Honeffer Modell (später Bafög) bekam ich nicht, weil wir ja das Haus des Friseurmeisters Friedrich Peuckmann hatten, das angerechnet wurde. So hatte ich mit unserem Hausarzt einen Deal geschlossen: Wenn das Ende meines Vaters absehbar ist, soll er mich informieren. Die Witwenrente meiner Mutter würde nur noch 60 Prozent betragen, davon zu studieren wäre unmöglich. Irgendwann traf ich ihn. »Es wird Zeit, dass Sie Ihr Studium beenden«, sagte er. Ich ordnete meine Scheine in Theologie und Germanistik und stellte fest, dass es für ein Realschullehrerexamen reichte. Als solcher würde ich dann arbeiten und die restlichen Scheine für ein Staatsexamen nebenbei machen. So habe ich es auch durchgeführt. Ich wurde Referendar an einer Dortmunder Realschule und studierte nach der Schule weiter in Bochum. An der Schule in Dortmund unterrichtete eine ganze Reihe strenger, weltfremder und vor allem erzkonservativer Lehrerinnen und Lehrer. Damals trug ich lange Haare, was auf Ablehnung stieß. Bei Diskussionen im Lehrerzimmer konnte und wollte ich meine linken Ansichten nicht unterdrücken, und als ich dann auch noch den Fehler machte, zu erzählen, dass ich das Staatsexamen anstrebte, um später zum Gymnasium zu wechseln, war ich untendurch. »Dieser Linke hält sich für was Besseres.« Noch viele Jahre später sagte mir mein Ausbildungslehrer, Außenseiter im Kollegium, von dem ich viel gelernt habe: »Die wollten Sie fertigmachen, Peuckmann.« Und hier nun rettete mich meine Literatur, genauer gesagt eine zweieinhalb Seiten lange Geschichte. Mein Lehrer Schlabach hatte mich informiert, dass in einem neuen Lesebuch des Bagel-Verlags eine Erzählung von mir erschienen sei. Ich bestellte mir mit Schulstempel die sechs Bände und als die Sekretärin mir das Buchpaket auf meinen Platz im Lehrerzimmer legte, wurden alle neugierig. »Wollen Sie nach einem neuen Lesebuch unterrichten?«, wurde ich gefragt, und wahrscheinlich haben sie dabei gedacht: Typisch für den Linken, immer muss alles neu sein.

 

Ich schüttelte den Kopf. Nein, in einem der Bände sei eine Erzählung von mir erschienen, erklärte ich, und die wollte ich mir ansehen. Die Reaktion war unglaublich. Ich kam gar nicht dazu, mir einen der Bände zu greifen, alle anderen griffen danach und wollten sehen, ob das stimmt. Und tatsächlich, im Band für Klasse 7 stand meine kleine Erzählung. Die Wirkung war kolossal. Schon am nächsten Tag sprachen mich Schüler auf dem Schulhof darauf an. Diese oder jene Lehrerin (es waren vor allem Frauen) hätte eine Geschichte vorgelesen und dann gesagt: »Ratet mal, wer die geschrieben hat!« »Böll?«, haben die Schüler geantwortet, »Grass?« »Nein«, haben die Lehrerinnen geschmunzelt, »die ist von unserem Herrn Peuckmann.«

 

Sie ließen mich danach in Ruhe, unglaubliche Wirkung einer kleinen Geschichte, die ich später in keinen meiner Erzählbände aufnahm.

 

Was sollte ich nun davon halten? Erst spielten Kunst und speziell Literatur in meinem Umfeld keine Rolle, und dann rettete mich eine winzig kleine Erzählung.