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Titel2220

Bemerkungen

Wunderliches aus Dessau-Roßlau

Vom Dessauer Bauhaus Museum kommend, spazierte ich in die Ratsgasse. Rechts tauchten die Menschen in einen der üblichen Einkauftstempel. Links waren Relikte der Vergangenheit auf den Vordächern ehemaliger Geschäfte zu sehen. Verwitterte Leuchtschriften kündeten von früherer Verwendung: DIE CAMERA, HAUS DER HAARPFLEGE, SPORTARTIKEL. Heute mühen sich kleinteilige Geschäfte wie eine Zoohandlung um Kunden. Am Ende der Ratsgasse stieß ich auf ein hohes schmuckloses Stahlgestell mit kleiner Glocke. Einen Teil der Inschrift konnte ich entziffern: KEINE GEWALT. Eine Freiheitsglocke also. Vielleicht mahnt sie heutige Politiker und Militärs, dann wäre sie sogar eine Friedensglocke. Unweit von dem Gestell entdeckte ich auf einem kleinen Steinsockel stehend die Skulptur eines bronzeglänzenden, dynamisch wirkenden Mannes. Bekleidet mit einer modernen kurzen Steppjacke, winkelt er den linken Arm fast napoleonhaft. In seiner rechten Hand hält er einen symbolischen Schlüssel mit zwei Bartteilen. Auf dem einen ist »перестроика« zu lesen (für den, der’s kann). Auf dem anderen Bartteil sah ich einen Mercedesstern. Ich staunte, und um sicherzugehen, fotografierte und vergrößerte ich ihn: Ja, ein dreistrahliger Stern im Kreis! So zu sehen auf den Edelkarossen.

 

Neben dem Sockel ist in den Gehweg einen bronzene Platte eingelassen:

 

»MICHAIL GORBATSCHOW / FRIEDENSNOBELPREISTRÄGER 1990 / ALS GENERALSEKRETÄR DER KOM- / MUNISTISCHEN PARTEI DER SOW- / JETUNION UND ALS STAATSPRÄSIDENT / SCHUF ER DURCH PERESTROIKA UND / GLASNOST WESENTLICHE VORAUS- / SETZUNGEN FÜR DIE EINHEIT / DEUTSCHLANDS. / GESTIFTET VON BÜRGERN ZUM / 30. JAHRESTAG DER DEUTSCHEN/ WIEDERVEREINIGUNG.«

 

Ob der Politiker dafür auch von Mercedes bezahlt wurde? Auf jeden Fall flossen in das von ihm zu dieser Zeit regierte Land deutsche Milliardenkredite. Dass mit einem Denkmal an Gorbatschow so viel Wahrheit verkündet wird, ist schon erstaunlich. Es ist nicht auszuschließen, dass auf dem Schlüsselbart das wohl berühmteste Protestsymbol, das Peace-Zeichen, abgebildet werden sollte – bezugnehmend auf die Erwähnung Gorbatschows als Friedensnobelpreisträger. Aber im Gegensatz zu den drei Strahlen bei Mercedes hat das vom britischen Grafikdesigner und Pazifisten Gerald Holtom 1958 entworfene Zeichen vier Strahlen.

 

So wird aus dem Denkmal für Gorbatschow eines für die, die ihn bezahlten. Vielleicht steckt eine Eulenspiegelei gegenüber den stiftenden ahnungslosen Bürgern dahinter. Ganz sicher ist es ein Beweis für das 2020 erreichte Verständnis von historischen Zusammenhängen.

 

Gerhard Hoffmann

 

 

Zweimal zu Decker

Zahlreich sind die Bücher, Romane und Erzählungen, die seit den neunziger Jahren mit der Vokabel Wende bedacht wurden – zuweilen gerechtfertigt, oftmals nicht. Gunnar Deckers »Zwischen den Zeiten – Die späten Jahre der DDR« ist, so scheint es mir, das Wendebuch schlechthin. Zugleich auch ist es weit mehr: ein Rückblick sehr eigener Art, eine gut informierte Zeitbetrachtung, loyal mit dem Land, in dem er aufwuchs, dabei Missstände aufzeigend, wo es sie gab, und so den Untergang der DDR erklärend. Gunnar Decker, von 1985 bis 1990 Philosophiestudent an der Berliner Humboldt-Universität, war bei seiner Zeitreise bedeutenden Menschen auf der Spur, ihn beeindruckte Stephan Hermlin, auch Christa Wolf natürlich, er machte sich mit dem Oeuvre Stefan Heyms vertraut, seinem kritischen Anliegen, Franz Fühmann war ihm wichtig, Heiner Müller, Christoph Hein, Jurek Becker, Klaus Schlesinger und Volker Braun – und zwangsläufig ergab es sich, dass ihn das Werden und Wirken russischer Literaten wie Bulgakow, Aitmatow, Granin, Rasputin mehr als nur aufmerken ließ. Decker erfährt, wie schwer sie es hatten, sich durchzusetzen. Und lang ehe ich sein an die vierhundert Seiten starkes Buch aus der Hand legte, hatte ich es für mich als unentbehrlich eingestuft, eine Fundgrube von Erkenntnissen, die sich mit meinen deckten – nur dass ich in der geschilderten Zeit weit mehr Außenseiter war, viel auf Reisen, auf See und anderswie. Decker, das war unschwer deutlich, steckte stets mittendrin: In der Bücherwelt, der Theaterwelt, dem täglichen DDR-Geschehen, dem Auf und Nieder jener Jahre, er wusste um die Zwistigkeiten der Oberen und den daraus resultierenden wirtschaftlichen Rückschlägen – sie gingen ihn an, er war beteiligt. Dieses Beteiligtsein manifestiert sich durchweg. Das macht seine Texte so plastisch, macht sie nacherlebbar. Die Schriftsteller, Maler, Theaterleute, die Decker hervorhebt, waren auch mir vertraut, ihre Leistungen jedoch nicht so umfassend wie ihm. Das wusste ich seit dem Mauerfall nachzuholen, darum drängte es mich schon während des Lesens von »Zwischen den Zeiten«, an Decker zu schreiben, dass ich sein Buch überzeugend und fair fand, gewinnend auch durch den Schreibstil, seine knappe, präzise Art, dem »schönen Trotz«, der dem Geschriebenen innewohnt. Kurzum, dass sein Buch mich bis zum Schluss zu fesseln vermochte.      

 

Walter Kaufmann

 

*

 

 

Gunnar Decker widerlegt mit seinem Buch die allgemein verbreitete Auffassung, nach der Biermann-Affäre habe es in der DDR-Kunst nichts Nennenswertes mehr gegeben. Er beschreibt im Gegenteil dazu den Hoffnungsgewinn, den Perestroika und Glasnost in den Köpfen vieler Künstler auslöste und – das besonders Gute daran – er sieht den Zusammenhang mit den in den Sowjetunion geschaffenen Werken, beispielsweise von Daniil Granin, Valentin Rasputin, den Strugatzkis und anderen. Da wurden Menschheitsfragen neu und anders gestellt, kritische Positionen bezogen, wie anders als in der Realität Sozialismus durchsetzbar sei. Welch ein Reichtum an Ideen und Vorschlägen, die leider durch die herrschende Kulturpolitik eher unterdrückt als gefördert wurden. Gut, dass Decker daran erinnert!

 

Diese Vorzüge trösten mich ein bisschen darüber hinweg, dass die Auswahl der behandelten Werke sehr subjektiv ausfällt und so manch interessanter sowjetischer Film oder wichtiges DDR-Buch fehlt, während mir anderes vor allem unter dem Aspekt »Was hat es doch alles gegeben!« erscheint.          

 

Christel Berger

 

Gunnar Decker: »Zwischen den Zeiten Die späten Jahre der DDR«, Aufbau Verlag, 432 Seiten, 28 €

 

 

 

Alles wird wie früher?

»Der Lachende / hat die furchtbare Nachricht / nur noch nicht empfangen./ […] Der dort ruhig über die Straße geht / ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde / die in Not sind?« (Bertolt Brecht: »An die Nachgeborenen«)

 

Dem Lachenden wird das Lachen vergehen. Der dort ruhig über die Straße geht, wird sich bald wundern, was für Autos an ihm vorbeifahren. Das sind Modelle ohne Fahrer, zwar dafür gemacht, Menschen von A nach B zu bringen. Aber sie können bei Missbrauch noch mehr: Menschen von A bis Z bespitzeln. Google und Tesla sind dabei, sich auf so etwas zu spezialisieren.

 

Der Datenhunger der Geheimdienste wie der digitalen Netzwerke ist ungeheuer. Das Auto wird Milliarden von Daten transportieren, alles, was erreichbar ist, filmen, die Daten speichern. Was passiert damit?

 

Bekommt derjenige, der da ruhig über die Straße geht, demnächst Ärger, wenn er bei Rot geht, weil ein Auto das Fehlverhalten gefilmt hat? Bekommen die Menschen künftig ständig Straßenverkehrsnoten erteilt?

 

Der Lachende, der die furchtbare Nachricht noch nicht erhielt, wird bald mit Werbenachrichten überschüttet werden. Die Gesichtserkennung funktioniert schon. Plattformen haben das Passende für ihn zum Anziehen. Das bessere Fahrrad, das bessere Smartphone. Kommen sie zum Zuge mit ihren Belästigungen?

 

Unsere Kanzlerin mahnt zu »AHA plus L«– Abstand halten, Hygienevorschriften beachten, Alltagsmasken tragen, Lüften.. Sie verspricht, es werde irgendwann wieder wie früher sein. AHAL ist gut und richtig und vernünftig, Aber Kontrolletti unerträglich. Die Listen in Gaststätten, so verbreiten die Behörden in ehrlichen Momenten, haben so gut wie gar nichts gegen die Pandemie ausgerichtet; in Bayern oder Nordrhein-Westfalen zum Beispiel sind sie willkommene Hilfsmittel für polizeiliche Ermittlungen. Sich durch Tests Sicherheit über seinen Gesundheitszustand zu verschaffen, das ist gut und richtig. Aber was passiert mit den Testergebnissen oder den in Telefongesprächen erhobenen Daten bei Patientenbefragungen?

 

Die Kanzlerin sagte nur allgemein in ihren wöchentlichen Ansprachen: Es wird wieder wie früher. Als gefragt wurde, ob auch die Grundrechtsbeschränkungen aufgehoben werden, da blieb sie ganz allgemein: Das will ich doch hoffen. Ja, Frau Merkel – so in einem Interview im März 2020 – sie hoffe, dass nach dem Ende der Krise, das heißt, wenn der Impfstoff da ist, die Rechte der Bürger wieder hergestellt werden. Sie hofft! Nicht: Sie ist sicher. Es erinnert an 9/11, da wurden die Gesetze zum Demokratieabbau hinterher auch nicht wieder aufgehoben.    

 

Ulrich Sander

 

 

Tucholsky und das Kabarett

»Wir leben in einer merkwürdigen Zeitung«, behauptete einst Tucholsky. Ob er damit seine eigene Lebens- und Schaffensperiode ins Visier rücken oder bereits prophetisch auf die coronabelastete Jahrestagung 2020 der Kurt Tucholsky-Gesellschaft »Tucholsky und das Kabarett gestern und heute« zielen wollte, mag dahingestellt bleiben. Zutreffend wäre beides.

 

Nicht zum ersten Male widmete sich unser Verein dem Kabarett, einer laut Tucholsky »unglücklichen Liebe«. Unter dem Motto »Tucholsky und das Kabarett gestern und heute« sollte diesmal die Kabarett-Historie in West und Ost den Konferenzinhalt bilden. Und dazu hätte der Vorstand keinen würdigeren Ort auswählen können als das altehrwürdige Mainz am Rhein. Hier entstand im »Alten Proviantmagazin« einst das Deutsche Kabarett-Archiv, das den Versuch wagte, sich an die inzwischen 100-jährige Geschichte des deutschen Kabaretts seit Ernst von Wolzogen und seinem »Überbrettl« heranzutasten, Materialien zur Kabarettgeschichte zu sammeln und zu archivieren und die Geschichte dieser eigenwilligen theatralischen Gattung für die Mit- und Nachwelt zu dokumentieren. Reinhard Hippen und seinen Amtsfolgern kommt damit das Verdienst zu, etwas Einmaliges geschaffen und ausgestaltet zu haben und Kabarett-Formationen wie der »Lach- und Schieß-Gesellschaft«, der »Schaubühne«, den »Stachelschweinen«, den »Wühlmäusen« oder den »Insulanern« sowie Persönlichkeiten wie Hanns Dieter Hüsch, Friedrich Hollaender, Blandine Ebinger, Dietrich Kittner, Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Georg Kreisler, Claire Waldoff, Rudolf Platte, Ursula Herking, Wolfgang Neuss, Dieter Hildebrandt, Volker Kühn, dem Ehepaar Lorentz, Wolfgang Gruner, Harald Juhnke, Günter Neumann, Dieter Hallervorden, Dieter Süverkrup und vielen anderen eine anregende Plattform sowie eine bleibende Erinnerung geschaffen zu haben.

 

In der DDR hatte sich parallel Bernburg an der Saale zu einem Kabarettzentrum entwickelt, in dem sich Profis und Amateure der Ost-Szene zu Workshops mit Fachleuten trafen, gegenseitig berieten und Erfahrungen und Texte austauschten. Gisela Oechelhaeuser, Rainer Otto, Peter Ensikat, Wolfgang Hübner, Wolfgang Schaller, Fritz Decho und Edgar Külow waren begehrte Gesprächspartner, und die Fachzeitschrift Pointe mit Texten von Frank Kleinke und anderen bot manche Anregung. In Bernburg trafen Fachleute der »Distel«, der »Pfeffermühle«, der »Akademixer« und der »Herkuleskeule« auf Amateure der unterschiedlichsten Berufsbereiche.

 

Nach der Vereinigung entwickelte sich das Schloss Bernburg an der Saale zu einer Dependance der Mainzer Zentrale. Und das war gut so, denn eine Zentrale hat ja immer so recht. Aber auch das hatten wir einst schon von Tucholsky gehört. In Mainz also sollte die Tagung stattfinden, und dass die Stadt der Geburtsort von Anna Seghers war, machte die Sache noch politischer und attraktiver.

 

So jedenfalls war es vorgesehen, aber das Leben ist, wie derselbe Tucholsky feststellte, gar nicht so, sondern halt ganz anders. Die Mainzer Zentrale sagte kurzfristig ab, da sie die notwendigen coronageschuldeten Regelungen nicht gewährleisten konnte, und brachte Vorstand und Verein in eine arg bedrängte Situation. Wenn es die Musikbrennerei Rheinsberg da nicht geben würde, die just zum vorgesehenen Tagungszeitpunkt stolz ihrem fünfjährigen Bestehen entgegenfieberte, hätte die Konferenz wohl auf den St.-Nimmerleinstag verschoben werden müssen. Ihre Betreiber, der Komponist Hans Karsten Raecke und die Kabarettistin Jane Zahn boten der minimierten Teilnehmerzahl nicht nur ein atmosphärisches und freundschaftliches Domizil, sondern durch ein Solo-Konzert von Hans Karsten mit eigenen Kompositionen und das neue Kabarett-Programm von Jane »Am Arsch vorbei gibt‘s auch kein Leben« einen künstlerischen Rahmen, mit dem nicht einmal das Mainzer Archiv hätte aufwarten können. Und darüber hinaus hatte der veränderte Tagungsort ja auch ein wenig mit dem jugendlichen Tucholsky und seinen Eskapaden zu tun. Da konnte »die Milch der guten Denkungsart« beileibe nicht sauer werden (vgl. Kurt Tucholsky, Schnipsel, Rowohlt Taschenbuch, Auflage 1995, S. 54).

 

Der Bericht wäre unvollständig, würde er nicht den samstäglichen Auftakt mit den von Jo Faß übermittelten »Ratschlägen für einen schlechten Redner«, den von Frank-Burkhard Habel vorgetragenen Tagungsbeitrag des an der Reise gehinderten Londoner Vorsitzenden Ian King sowie den Vortrag von Kabarett-Historiker Jürgen Klammer über das Kabarett in der DDR als besondere Highlights der Tagung bewerten.

 

Dass die Veranstaltung überhaupt und gerade noch stattfinden konnte, war der Terminierung der neu beschlossenen Corona-Beschränkungen zu verdanken, deren Gültigkeit just an dem Tage einsetzte, der auf die Konferenztage folgte.

 

So viel Einfühlungsvermögen hätte ich unseren Behörden in unserer so merkwürdigen Zeit(ung) gar nicht zugetraut.                         

 

Wolfgang Helfritsch

 

 

Und am Ende wieder Leben

Wäre es nicht dieses besondere Haus, dann hätte das Buch wahrscheinlich einen anderen Titel erhalten, einen Titel, der näher bei den Bewohnerinnen und Bewohnern und ihrem Schicksal wäre.

 

So aber heißt es »Das Haus am Waldsängerpfad«. Erst in zweiter Reihe steht, um was es in dem Buch geht: »Wie Fritz Wistens Familie in Berlin die NS-Zeit überlebte«. Autor ist der 1967 in Basel geborene promovierte Theaterwissenschaftler Thomas Blubacher, der unter anderem 2011 eine Monographie über Gustav Gründgens veröffentlichte.

 

Über das Haus erfahren wir aus der Datenbank des Landesdenkmalamtes Berlin Genaueres: Haus Lewin, Bezirk: Steglitz-Zehlendorf, Ortsteil: Nikolassee, Straße: Waldsängerpfad, Hausnummer: 3, Wohnhaus & Zweifamilienhaus, Baudenkmal, 1929/30 erbaut.

 

»Konsequent in der sachlichen Formensprache des Neuen Bauens« (Blubacher) vom Werkbunddesigner Peter Behrens entworfen, sollte der asymmetrisch proportionierte, weiß verputzte Bau zum neuen Heim des Ehepaars Gertrud und Kurt Lewin werden. Kurt Lewin lehrte als nichtbeamteter außerordentlicher Professor für Psychologie und Philosophie an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Aber für »den neuen Lebensstil eines liberal eingestellten jüdischen Bürgertums« (Blubacher), den der Bauhaus-Kubus verkörpern sollte, war die Zeit abgelaufen. Lewin erkannte frühzeitig »die Aussichtslosigkeit seiner Zukunft in Deutschland« und emigrierte schon im Herbst 1933 mit seiner Familie in die USA.

 

Am 30. Januar 1933 war Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden, am 27. Februar hatte der Reichstag gebrannt, am 15. März war im Württemberger Landtag Gauleiter Wilhelm Murr zum Staatspräsidenten gewählt worden, und am 27. März klingelte das Telefon in der Wohnung des am Württembergischen Landestheater in Stuttgart seit 21 Jahren engagierten Schauspielers Fritz Wisten: Entlassung und sofortiges Auftrittsverbot.

 

Da von dem Tag an jüdische Künstlerinnen und Künstler nicht mehr an Theatern in städtischer oder staatlicher Trägerschaft beschäftigt werden durften, gab es für Wisten in Württemberg keine Perspektive als Schauspieler. Als er von dem »Plan zur Errichtung eines deutsch-jüdischen Kulturbundes mit eigenem Theater, eigenen Konzerten & Vorträgen« in Berlin erfuhr, bot er seine Mitwirkung an. Und wurde engagiert.

 

Nachdem Wisten sich am neuen Kulturbundtheater etabliert hatte, beschloss er, seine Familie aus Stuttgart nachzuholen: seine Frau Gertrud, die nicht zum Judentum konvertiert war, sowie die Töchter Susanne und Eva, die im August 1933 evangelisch getauft worden waren.

 

Gertrud Wisten machte sich in Berlin zusammen mit einem Makler auf die Suche nach einem geeigneten Objekt. Dieser erwähnte das leerstehende Haus am heutigen Waldsängerpfad, der damals noch Dianastraße und zwischen 1939 und 1947 Betazeile hieß, benannt nach dem antisemitischen Publizisten Ottomar Beta (1845–1913). Am 1. Juli 1935 geht das Haus in den Besitz der »Arierin« Gertrud Wisten über. Die vierköpfige Familie und Großvater Isidor Weinstein ziehen ein.

 

Während Fritz Wisten am Theater des Kulturbundes probt und spielt und immer mehr zentrale Aufgaben übernimmt und sich dabei über die aktuelle Situation Täuschungen hingibt, organisiert Gertrud den immer schwierigen Alltag. Blubacher schildert in der Folge akribisch, wie sich nach und nach das Umfeld in der »bevorzugten Wohngegend des wirtschaftlich gutsituierten Berliner Bildungsbürgertums« verändert. Mehr und mehr siedelt sich NS-Prominenz an.

 

»Tür an Tür lebten in Nikolassee Spitzen des NS-Staates und von ihnen Verfolgte, stille Helfer und ›brave Nationalsozialisten‹.« »Schräg gegenüber residierte Walter Gross, der Begründer und Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP.« Reinhard Heydrich lebte »ab 1937 quasi ums Eck im heutigen Reifträgerweg«. »Er war ein auffallend gutaussehender Mann«, beschrieb ihn Susanne Wisten 2016 im Gespräch mit dem Autor. Heydrich begegnete den Wisten-Töchtern, wenn er »blond und blauäugig, 1,85 Meter groß, von sportlicher Statur« seine Schäferhunde ausführte. »Wir haben uns gesehen, aber nicht gegrüßt« (Susanne Wisten). 150 Meter vom Haus der Wistens entfernt wohnte Wilhelm Canaris, »Wegbereiter und Gegner Hitlers zugleich«, der als »gläubiger Christ zahlreichen Juden das Leben gerettet« hat und 1942 auch Fritz Wisten vor der Deportation in ein Konzentrationslager bewahrte. Seine Frau musizierte mit Heydrich.

 

Wie die Verfolgten überlebten, welche Zufälle lebensrettend eingriffen, welche hilfreichen Nachbarn Solidarität bewiesen, davon berichtet Thomas Blubacher. Und all das Geschehen konzentriert sich im und um das Haus am Waldsängerpfad. Obwohl selbst gefährdet, riskierten Gertrud und Fritz Wisten ihr Leben, um andere zu retten. Heute erinnert eine Gedenktafel am Treppenaufgang des Hauses an ihre Mitmenschlichkeit.

 

Das faktenreiche Buch endet mit einem Epilog, der Fritz Wistens Wirken in der DDR beschreibt, von seinen Erfolgen und seinen Schwierigkeiten. Er starb 1962 in seinem Haus am Waldsängerpfad, Gertrud Wisten starb 1986. Sie wurde 1994 posthum als »Gerechte unter den Völkern« von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem anerkannt.

 

Schlussbemerkung: Erinnern Sie sich an den berühmten Schlusssatz »Nobody’s perfect« in Billy Wilders Filmkomödie »Manche mögen’s heiß« aus dem Jahr 1959? Die deutsche Synchronstimme mit dem »Na und? Niemand ist vollkommen!« stammt von Alfred Balthoff (1905–1989). Der Schauspieler, als Jude und Homosexueller doppelt in Gefahr, verdankt sein Überleben ebenfalls den Wistens; sie versteckten ihn zeitweise im Haus am Waldsängerpfad, so dass seine Geschichte mit einem Happy End endete. Wie der Film.                      

 

Klaus Nilius

 

 

Thomas Blubacher: »Das Haus am Waldsängerpfad«, Berenberg, 192 Seiten, 22 €

 

 

Portugal im Wandel

Portugal ist kein Bollwerk mehr gegen Rechtsextreme. Gegründet wurde die Rechtspartei Chega! (Jetzt reicht´s!) 2017 vom ehemaligen Spitzenkandidaten der Partido Social Democrata, dem Juristen André Ventura. Zur Europawahl 2019 schloss sich Chega mit der Partido Popular Monárquico zum Bündnis Basta zusammen. 1,49 Prozent der Stimmen reichten nicht für ein Mandat, das Zweckbündnis wurde aufgelöst. Bei den Portugiesischen Parlamentswahlen am 8. Oktober 2019 erhielt Chega mit 1,3 Prozent der Stimmen ein Mandat. Der Parteivorsitzende André Ventura zog als Abgeordneter ins Parlament ein.

 

Damit hat sich Portugal verändert, mit der Partei ein rechtes Sprachrohr erhalten. Anfang des Jahres sorgte Ventura bereits für Aufregung. Er forderte die Deportation der schwarzen Parlamentarierin Joacine Katar Moreira von der Linkspartei Livre (Frei). Deren Partei wurde am 10. Mai 2017 vom portugiesischen Verfassungsgericht anerkannt und bekam bei den Parlamentswahlen 2019 1,09 Prozent der Stimmen, die Historikerin Moreira, geboren in Guinea-Bissau, zog ins Parlament ein.

 

André Ventura stört es, dass Joacine Katar Moreira auf die blutige portugiesische Kolonialgeschichte hinweist und die Rückgabe der geraubten Kulturgüter fordert. Die Abgeordnete ist ständigen rassistischen Angriffen von Ventura ausgesetzt. Die linken Parteien Partido Socialista, Partido Comunista Português und Bloco de Esquerda haben sich mit Moreira solidarisiert.

 

Angriffsziele der Chega sind Antifaschisten, Flüchtlinge, Schwarze und Transsexuelle. Das Europäische Netzwerk gegen Rassismus hat die portugiesische Regierung zum Handeln aufgefordert. Inzwischen gibt es gegen Parlamentarier Morddrohungen. Drohschreiben haben erhalten Joacine Katar Moreira von Livre und vom Bloco de Esquerda die Abgeordneten Mariana Mortágua und Beatriz Gomes. Auch der Gewerkschafter und Aktivist in der antirassistischen und antifaschistischen Bewegung Danilo Moreira. Absender der Briefe sind die »Neue Ordnung von Avis« und der »Nationale Widerstand«. Sie fordern von den Empfängern, das »nationale Territorium« binnen 48 Stunden zu verlassen und von allen politischen Ämtern zurückzutreten. Ist das Ultimatum abgelaufen, werden »wir Maßnahmen gegen Sie und Ihre Familie ergreifen, um die Sicherheit des portugiesischen Volkes zu garantieren«, heißt es in den Drohbriefen weiter.

 

Dass der Parteivorsitzende der Chega, Ventura, gute Kontakte in die gewalttätige Szene hat, ist in Portugal bekannt. Für den Politologen António Costa Pinto von der Universität Lissabon ist der Rassismus Treibstoff für Chega, die nun verschiedene rechte Gruppen vereinigt. Die Partei spreche das aus, was viele in Portugal denken, da die blutige Kolonialgeschichte des Landes bisher nicht aufgearbeitet wurde. Pinto: »In Portugal gab es immer Grüppchen der extremen Rechten, die aber bei Wahlen nie relevant wurden. Das ist jetzt vorbei.«     

 

 Karl-H. Walloch

 

 

Fragen Sie nicht Doktor Internet!

In diesen merkwürdigen Corona-Zeiten wird man hellhörig für jedes Anzeichen von Unwohlsein. Wir horchen in unseren Körper hinein. Ein Rumoren im Darm oder ein Brummschädel – gleich fragen wir uns, ob da nicht etwas Ernsthaftes dahintersteckt. Ein Kratzen im Hals ist momentan besonders verdächtig. Manche fühlen sich bereits krank, wenn sie die Krankengeschichte von anderen hören. Aus Mitleid oder Eifersucht? Besonders wir wehleidigen Männer sind dafür anfällig.

 

Neulich plagte mich eine gewisse Übelkeit, gepaart mit Müdigkeit und Antriebslosigkeit. War es der abgelaufene Frühstücksjoghurt gewesen? Also ab zum Arzt. Doch zunächst vertiefte ich mich zu Hause ins Studium etlicher Hefte der Apotheken Umschau. Mit dem Erfolg, dass sich meine Symptome als erste Anzeichen für eine schlimme Erkrankung deuten lassen könnten. Derart sensibilisiert konsultierte ich zur Bestätigung der alarmierenden Diagnose Doktor Internet. Bei Übelkeit bot mir Google jedoch über eine Million Treffer. Mit schreckgeweiteten Augen las ich von Herzinfarktrisiko und Gehirntumor. Ich glaubte sofort alle dort beschriebenen Symptome zu spüren. Ängstlich fragte ich mich: Hat der Online-Doktor überhaupt Medizin studiert? Kann er überhaupt eine harmlose Erkältung von einer mittelschweren Katastrophe unterscheiden? Dafür ist seine Praxis aber rund um die Uhr ohne Termin geöffnet.

 

Schließlich sprach meine Frau ein medizinisches Machtwort: Deine Müdigkeit ist ein eindeutiges Faulenzer-Symptom, um sich vor der Gartenarbeit zu drücken. Und morgen wird auf deinem Laptop eine Männersicherung für medizinische Webseiten installiert.      

 

Ekkehard Arnim

 

 

 

Uiuiui

»Trump war kein Betriebsunfall: Er kam aus der Mitte der amerikanischen Gesellschaft.« (Ossietzky 21/2020, S. 750)

 

So was hätt fast ein zweites Mal

Das Land regiert!

Die Menschen wurden seiner Herr, jedoch

Dass keiner uns zu früh da triumphiert –

Der Schoß ist fruchtbar noch,

Aus dem das kroch!

 

Klaus Nilius, nach B.B.

 

 

 

Kurz notiert

Reue ist das Gnadengesuch der Schuld.

 

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Kunst ist die einzige Existenzform des Unmöglichen.

 

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Viele Leute halten sich für Realisten, wenn sie das Leben am Schwanz packen.

 

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Der Exorzist will bei anderen austreiben, wovon er selbst besessen ist.

 

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Charakter überschreit das Schicksal.

 

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Ironie ist die Unsicherheit der Arroganz.

 

Norbert Büttner