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Ein Wahrheitsproblem in Wolfenbüttel  (Hans Canjé)

Wer auf sich hält, ist heute im Internet präsent. Ein Statussymbol, fast wie das neue Auto. Selbst die Kneipe um die Ecke hat eine Webseite, auf der sie sich von Zeit zu Zeit mit einer neuen Speisekarte oder neuer Bestuhlung als die ideale Stätte zur Kommunikation oder zum Ausspannen empfiehlt. Gefängnisse, auch Justizvollzugsanstalten (JVA) genannt, können verständlicherweise mit derartigen Offerten nicht für »angenehmen Aufenthalt« werben. Gleichwohl wird der interessierte Bürger, was ihn auch immer dazu treiben mag, bei Google alles Mögliche über jeden Knast finden, wenn er etwa die Buchstaben JVA plus Ortsnamen eingibt. Wenn er zum Beispiel die Seite www.justizvollzugsanstalt-wolfenbüttel.niedersachsen.de aufruft, wird ihm neben anderen Hinweisen auch noch der Link »Gedenkstätte« angeboten – lehrreich vor allem für Zeitgenossen, die sich mit Gedenkstättenpolitik im vereinigten Deutschland beschäftigen.

Ähnlich wie die Justizvollzugsanstalten in Brandenburg/Havel oder Halle/Saale (»Roter Ochse«) beherbergt auch die JVA in der niedersächsischen Stadt Wolfenbüttel eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die Verbrechen der faschistischen Justiz. Die hier beheimateten Ausstellungen »NS-Justiz und Todesstrafe« und »NS-Justiz und Strafvollzug« zeichnen sich vor allem dadurch aus, daß sie es nicht bei der Darstellung der Blutjustiz jener Jahre belassen, sondern auch umfassend die skandalöse Weiterbeschäftigung schwerbelasteter NS-Richter in den Nachkriegsjahren darstellen; Niedersachsen tat sich damals durch besondere Skrupellosigkeit hervor.

Alle drei auch heute noch für den Justizvollzug genutzten Haftanstalten waren Hinrichtungsstätten des Nazi-Regimes. Gemeinsam ist ihnen zudem, daß dort in den Jahren nach der Befreiung vom Faschismus Todes- oder Haftstrafen vollstreckt wurden, die die jeweilige Besatzungsmacht wegen faschistischer Verbrechen ausgesprochen hatte. Schließlich wurden sie auch Haftort für Gegner der in Ost- und Westdeutschland entstandenen neuen Regime.

Die Nutzung der Brandenburger und der Hallenser Haftanstalten durch die sowjetische Besetzungsmacht und die Sicherheitsbehörden der DDR wurde seit dem »Beitritt« der DDR zur BRD umfassend erforscht – hauptsächlich zum Zwecke der Delegitimierung der DDR durch Gleichsetzung der »beiden deutschen Diktaturen« als Kern der Gedenkstättenkonzeption des Bundes.

Wie nun wird die Geschichte der JVA Wolfenbüttel dargestellt? Hier wurden in den Jahren zwischen dem 23. September 1937 und dem 15. März 1945 mindestens 700, nach noch nicht abgeschlossen Forschungen des Gedenkstättenleiters Wilfried Knauer wahrscheinlich sogar an die 2000 Menschen – Widerstandskämpfer aus verschiedenen europäischen Ländern, Juden, Sinti und Roma und andere »Volksschädlinge« – durch den Strang oder die Guillotine hingerichtet. Die britischen Besatzungsbehörden vollstreckten in Wolfenbüttel 67 Todesurteile gegen NS-Kriegsverbrecher.

So weit ist die von der Gefängnisleitung zu verantwortende Darstellung korrekt. Aber dann hat die JVA ein Problem beim Schreiben der Wahrheit. In den Hochzeiten des Kalten Krieges verbüßten hier schätzungsweise 100 Mitglieder der 1951 verbotenen Freien Deutschen Jugend und der 1956 verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands Haftstrafen, zu denen sie durch die von einstigen NS-Richtern durchsetzten politischen Sonderstrafkammern wegen ihres Widerstandes gegen die Wiederaufrüstung der BRD, gegen die Ostpolitik der Bundesregierung oder die Wiederindienststellung belasteter Exponenten des »Dritten Reiches« verurteilt worden waren. Bis 1968 wurden in der BRD wegen dieser und ähnlicher »Delikte« annähernd 10.000 Angeklagte zu Zuchthaus- und Gefängnisstrafen verurteilt. »Besonders eifrig war, wie wir heute wissen, die niedersächsische Justiz, die bundesweit die Spitzenposition einnahm« (so im Februar 2002 der damalige Landesjustizminister Christian Pfeiffer).

Diesen Tatbestand verfälschte die JVA Wolfenbüttel über Jahre hinweg auf der offiziellen Internetseite. Die Ausstellung »NS-Justiz und Strafvollzug«, so hieß es dort, befinde sich in den Räumen der ehemaligen Festung Philippsberg, »die in den 1950er Jahren noch als Hafträume für 30 Stalinisten dienten«. Nach Interventionen von Opfern der damaligen politischen Justiz sind nun die »30 Stalinisten« durch die immer noch unkorrekte, den Tatbestand weiter verhüllende Formulierung »30 politische Gefangene« ersetzt worden. Eine Formulierung, die auch Gedenkstättenleiter Knauer als »immer noch nicht richtig« bezeichnet. Im Beirat, so erklärte er auf Nachfrage, werde im Zuge der Neugestaltung der Gedenkstätte darüber diskutiert, auch die Tätigkeit der politischen Justiz bis 1968 am Beispiel der in Wolfenbüttel Inhaftierten, unter ihnen auch antifaschistische Widerstandskämpfer, zu dokumentieren.

Hier allerdings ist Eile geboten: Von den Betroffenen leben nur noch wenige, die Auskunft geben können über das, was ihnen im Rechtsstaat BRD an moralischem und materiellem Unrecht angetan worden ist.