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Titel2317

Mayday, Mayday – kein Kompromiss in Sicht  (Johann-Günther König)

»Die Engländer wissen es selbst sehr wohl, in wie hohem Grade sie eine eigene Inselwelt für sich bilden und in wie vielfacher Hinsicht sie nicht bloß Frankreich und Deutschland allein, sondern überhaupt dem ganzen Continente gegenüber treten. Sie brauchen längst das Wort ›continental‹ von gewissen Dingen, die sie nur auf dem europäischen Continente und hier überall, nirgends aber auf ihren Inseln finden. So sprechen sie von ›continental manners‹ (Festland-Sitten), von ›continental governments‹ (Festland-Regierungen), sogar von ›continental celebrities‹ (Festland-Berühmtheiten), die also in ganz Europa als Autoritäten berühmt und betrachtet sind, nicht aber auf ihren Inseln. Und wenn ein Engländer seine große ›continental tour‹ (Festland-Reise) antritt, so macht er sich darauf gefaßt, so viele in seinem Lande unerhörte continentale Dinge zu schauen, als nur möglich. Wir haben daher ein volles Recht, in ihnen Insulaner zu erblicken und bei ihnen alle diejenigen Dinge aufzusuchen, die sie vermöge ihres Insulaner-Charakters besitzen, und welche sie vor den deutsch-französisch-spanisch-italienischen Continentalen auszeichnet.«

 

Nein, dies ist kein Bericht aus dem fernen Jahr 2045. Diese Zeilen des einst berühmten Reiseschriftstellers Johann Georg Kohl und seiner Schwester Ida finden sich in den 1845 von ihnen veröffentlichten »Englischen Skizzen«. Der Brexit, soviel steht fest, wird im Frühjahr 2019 vollzogen und der »Continent« aus britischer Sicht wieder voller »unerhörter Dinge« sein. Fragt sich nur, wie der Abschied des Vereinigten Königreichs nach über 40-jähriger EU- beziehungsweise EG-Mitgliedschaft konkret erfolgt. Wird es der in den laufenden Verhandlungen von der britischen Regierung als Drohwaffe eingesetzte »harte Brexit«, also ein Abschied ohne jegliche Vereinbarungen, dann würden ab März 2019 keine Zahlungen aus London bei der EU mehr eingehen und nicht zuletzt die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) gelten, der Handel mit Agrarerzeugnissen mit bis zu 40 und mit Autos mit zehn Prozent besteuert werden et cetera. Wird es ein »weicher Brexit«, dann womöglich einer, bei dem die Briten einen guten finanziellen Abschluss-»Deal«, die weitere Teilhabe am EU-Binnenmarkt zu den bisherigen Bedingungen, eine Steuerungsmöglichkeit der Zuwanderung aus EU-Mitgliedstaaten sowie die Befreiung vom »Joch« des Europäischen Gerichtshof sicherstellen können.

 

Der Brexit ist ein Präzedenzfall von ebenso beispielloser wie beispielgebender juristischer und politischer Bedeutung. Schon deshalb müssen sowohl die Unterhändler der EU als auch die der Briten darauf achten, mit ihrem jeweiligen Drohpotential nicht gleichsam das Kind mit dem Bade, also die gemeinsamen politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Interessen mit dem Ärmelkanal auszuschütten. Nach inzwischen sechs ergebnislosen Verhandlungsrunden besteht die EU nach wie vor darauf, dass London für alle während der EU-Mitgliedschaft eingegangenen finanziellen Verpflichtungen aufkommt. Bislang ist sie bei den von Chefunterhändler David Davis geführten Briten jedoch auf heftigen Widerstand gestoßen, zumal der innenpolitische Druck im Königreich, möglichst wenig Geld nach Brüssel zu überweisen, traditionell hoch ist. In welcher Höhe sich die britischen Schulden bei der EU bewegen, ist ein Thema für sich. Nichts Genaues weiß man nicht – die Kalkulationen über die Höhe der Austrittszahlungen bewegen sich im Rahmen von 15 bis 109 Milliarden Euro; während in Brüssel die Rede von mindestens 60 Milliarden Euro ist, wird in London von 20 bis 40 Milliarden Euro als äußerstes Kompromissangebot gesprochen. Schlimmer noch: Bislang gibt es keine unumstrittene Methode zur Berechnung der Abschlussrechnung der britischen EU-Mitgliedschaft. Übrigens vertritt das Oberhaus die Auffassung, eine rechtliche Zahlungsverpflichtung des Königreichs an die EU bestehe nach dem Brexit nicht.

 

Die Frage der Austrittszahlungen ist bei Licht betrachtet denn auch keine rechtliche, sondern eine eminent politische. Wie sie im Dezember auf dem EU-Gipfeltreffen beantwortet wird, dürfte nicht zuletzt über den Grad der Turbulenzen beim Fortgang der Verhandlungen im Jahr 2018 entscheiden. Jedenfalls ist in Brüssel der Ton rauer geworden, hat nach den bislang so gut wie ergebnislosen Brexit-Verhandlungsrunden der EU-Chefunterhändler Michael Barnier dem Vereinigten Königreich eine Frist für Zugeständnisse beziehungsweise »ausreichende Fortschritte« bis Ende November gesetzt. Sie gilt für die drei Problembereiche, die aus Sicht der EU vor weitergehenden Verhandlungen im nächsten Jahr unbedingt geklärt sein sollten: die Höhe der britischen Finanzverpflichtungen, die Garantien für in Großbritannien lebende EU-Bürger sowie in EU-Ländern lebende Briten und der künftige Status der irisch-nordirischen Grenze (sie soll auch künftig Handel und Bewegungsfreiheit nicht hemmen).

 

Fatalerweise geht es zurzeit in Großbritannien politisch drunter und drüber, kommt die Regierung von Theresa May und zumal die Premierministerin selbst partout nicht aus diversen selbstverschuldeten Krisenherden heraus. So mussten kürzlich und innerhalb einer Woche gleich zwei Kabinettsmitglieder zurücktreten – Verteidigungsminister Sir Michael Fallon aufgrund von Sexismus-Vorwürfen, Entwicklungshilfeministerin Priti Patel wegen diplomatischer Alleingänge. Die zum Brexiteer-Lager gehörige Patel war vor ihrem Ausscheiden übrigens als chancenreiche Kandidatin für den Vorsitz der Conservative Party gehandelt worden. Während Theresa May immer mehr unter Druck auch in der eigenen Partei gerät – »rebellische« konservative Abgeordnete bereiten offenbar ein Misstrauensvotum gegen sie vor –, nehmen die innerparteilichen Streitigkeiten über die Art des EU-Austritts kein Ende, drängen die führenden Brexiteers um Außenminister Boris Johnson und Umweltminister Michael Gove auf eine weiterhin massiv mit dem »harten Brexit« drohende Verhandlungsführung gegenüber der EU-Kommission. Im Unterhaus wiederum geht es hoch her um die »EU Withdrawal Bill«, sprich um das komplexe Gesetz, mit dem die Geltung von EU-Recht beendet und alle EU-Regulierungen in (dann änderbare) nationale Vorschriften übertragen werden sollen. Mitte November lagen bereits knapp 400 Änderungsanträge vor …