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Titel2318

Zuhause im großen Heim?  (Wolfgang Helfritsch)

 

Einen solchen Besucherstrom wie am 29. September hatte das Kinderheim in der Berliner Königsheide wohl noch nie erlebt, obwohl es einst das größte der DDR war – in seinen 40-jährigen Lebzeiten nicht und danach schon gar nicht. Betreuten doch auf einem 26 Hektar großen Waldpark-Areal am südöstlichen Stadtrand 280 pädagogische, medizinische und technische Mitarbeiter ungefähr 600 Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Altersgruppen und unterschiedlicher sozialer Befindlichkeiten in Wohnhäusern, einer Schule und diversen Funktionsgebäuden. Es war Kinderheim, Vorschuleinrichtung und Hilfsschulheim und damit Hoffnungsträger für verwaiste, vernachlässigte und verlassene Kinder, denen die normale familiäre Behütung aus unterschiedlichen Gründen und auf unterschiedliche Weise abhandengekommen war. Genannt wurde es nach dem sowjetischen Sozialpädagogen Anton Semjonowitsch Makarenko, der sich in den Kriegs- und Bürgerkriegszeiten seines Landes eltern- und heimatloser Jugendlicher angenommen hatte und sich selbstlos darum bemühte, ihnen zu Familienersatz und zu einer neuen Lebensperspektive zu verhelfen und ihnen Verantwortungsgefühl in schweren Zeiten zu vermitteln. Auch die DDR-Erziehungsbehörden hatten Jahrzehnte später nicht an personellen und materiellen Investitionen und künstlerischer Ausgestaltung des Königsheide-Geländes gespart, und das Eingangsportal zieren noch heute fröhliche, buschige Eichhörnchen, die sich einer der Vereine später auch zum Namenssymbol erkor.

 

Apropos Vereine. Der Gründungsinitiative Stiftung Königsheide e. V. und dem besagten Eichhörnchen e. V. ist es in erster Linie zu verdanken, dass der erzieherische Naturpark nach seiner 1992 erfolgten »Abwicklung« nicht im märkischen Sand verschwand, sondern einer neuen Bestimmung zugeführt wurde, die am besagten 29. September »fröhliche Urständ« feierte: Das Internationale Begegnungszentrum Königsheide (IBZ) wurde offiziell eröffnet. Es stellt sich die Aufgabe, zu einer ausgewogenen Bewertung der Heimerziehung in der DDR beizutragen, die Kontakte zwischen Ex-Erziehern und Ex-Heimkindern zu pflegen und letztere gegebenenfalls auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln zu unterstützen. Schon die sachliche Bewertung erforderte viel Wissen und nicht weniger Fingerspitzengefühl, wurde doch die Heimerziehung in der DDR in den Jahren nach der Wende häufig verteufelt und auf die systemnahe Ausrichtung der Kinder und Jugendlichen bis zur Zwangsadaption reduziert. Das Bemühen der Einrichtung Königsheide, Kinder rechtzeitig außerhalb verfahrener Familiensituationen auf eine Wiedereingliederung vorzubereiten und dabei auf die häusliche Situation einzuwirken, wurde häufig ignoriert. Manchmal kam es auch nicht zustande – dann nämlich, wenn Eltern »in den Westen abhauten« und die Kinder sich selbst überließen. Von solchen Tatsachen konnte mancher Erzieher ein Trauerliedchen singen. Gewiss, es gab auch Ungerechtigkeiten im bestehenden Gefüge. Dass sich Erzieher und Heimleiter jedoch darum bemühten, den ihnen Anvertrauten schöne Erlebnisse zu ermöglichen – sei es durch Wanderfahrten in die märkische Umgebung oder in den Harz oder durch die Einladung von Gruppenkindern in die eigene Familie zu den Feiertagen –, wurde in der Erinnerung nicht ausgespart. Und dass selbstlose private Initiativen vor allem in der Wendezeit, unter anderem niederländische Bürger, dazu beitrugen, etwas nachzuholen, was den Kindern im häuslichen Milieu versagt geblieben war, gehört ebenso in die Geschichte wie Freundschaften, die nach der Abwicklung des Heimes bestehen blieben und sich weiter festigten.

 

Auch davon war an dem schönen Herbsttag die Rede, als sich ehemalige Erzieher und ehemalige Heimkinder öffentlich erinnerten und in den Armen lagen, als der Köpenicker Bürgermeister Igel zu den »Eichhörnchen« sprach und ein Sponsor aus dem tiefen Westen davon berichtete, wie er die Immobilie erworben und damit einem Wohnpark und einem pädagogisch-historischen Kleinod zur Geburt verholfen hatte. Abgerundet wurde das freundschaftliche Treffen durch eine liebevoll gestaltete Ausstellung zur Geschichte des Heimes und durch musikalische, literarische und dokumentarische Beiträge. Vor allem aber sprach für die guten Absichten der Vereine und für das Gelingen der Veranstaltung, dass die individuellen Gespräche kein Ende nehmen wollten, dass Ex-Erzieher und Ex-Heimkinder bei Bockwurst und Bier beieinander standen, in ihren Erinnerungen schwelgten und nicht selten das ehemalige Terrain gemeinsam verließen. Ein »Ehemaliger«, der jetzige Möbelverkäufer André, überreichte seiner damaligen Erzieherin – meiner Frau – ein Foto mit sehr persönlichen Dankesworten dafür, dass er in der Königsheide ein neues Zuhause und einen neuen Lebensstart gefunden hatte: »Ihr wart meine Familie!«

 

Möge das Internationale Begegnungszentrum dazu beitragen, Prozesse und Erscheinungen weiterhin sachlich und ausgewogen zu bewerten! Der Start am Septemberende 2018 vermittelt dazu Hoffnungen und ein gutes Gefühl, und den Beteiligten, allen voran den Vorständen der Vereine, ist dafür herzlich zu danken.