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Mit oder gegen Biden?  (Victor Grossman)

Auch nach dem unerträglich spannenden Wahlkampf und dem Sieg darf Joe Biden sich keine Ruhepause gönnen. Die Probleme drängen – von allen Seiten.

 

Die Virus-Pandemie schlägt noch tödlich in den USA zu. Impfstoffe machen zwar Hoffnung, doch Trumps Gegenschläge gelten noch immer vornehmlich Golfbällen, weniger dem Virus. Und Biden muss nicht nur in dieser Angelegenheit dringend tätig werden. Erboste Bürgergruppen, von Trump aufgestachelt und oft schwerbewaffnet, skandieren noch Trumps abwegigen Anspruch, das Weiße Haus weiterhin zu besetzen. Ist ein Putschversuch völlig auszuschließen? Manch ein Europäer könnte sorgenvoll an den Spruch des Baseballers Yogi Berra denken: »It ain’t over‚’til it’s over.« (Es ist nicht vorbei, bis es vorbei ist.)

 

Und noch ein Problem drängt, zunächst nur im Süden. In zehn US-Bundesstaaten gilt die Regel, dass wenn im November keiner der Kandidaten für den US-Senat 50 Prozent der Stimmen erreicht hat, zwei Monate später eine Stichwahl zwischen den zwei stärksten stattfindet. Der Zufall wollte es, dass im Jahr 2020 beide Senatorensitze in Georgia zur Wahl standen. In beiden Fällen erreichte – bei mehreren Kandidaten – keiner die 50 Prozent. Also müssen am 5. Januar die vier Stärksten um die zwei Sitze ringen.

 

Für den neuen Senat stehen derzeit 50 Republikaner und 48 Demokraten fest. Falls in Georgia beide Demokraten siegen, steht es in Washington 50 : 50. Und weil im Senat bei unentschiedenen Abstimmungen der Vizepräsident mitstimmen darf, wird also ab Januar eine Vizepräsidentin, die Demokratin Kamala Harris, dieses Recht haben. Biden und seine Partei hätten dann in beiden Kammern eine dünne Mehrheit und die Chance, ihr Programm durchzusetzen.

 

Ein Kandidat der Demokraten ist der 51-jährige Raphael Warnock. Der charismatische schwarze Pfarrer ist in derselben Kirche tätig, in der Martin Luther King einst predigte. Am 3. November war er der erfolgreichste unter vielen (mit 33 Prozent). Die zweitstärkste, Kelly Loeffler (26 Prozent), die ihren Sitz verteidigen will, besitzt mit ihrem Mann etwa 500 Millionen Dollar, steht hinter Trump und soll Sympathien für die weit rechts stehenden QAnon-Anhänger hegen. Geld spricht laut, auch der Rassismus, doch vielleicht wenden diesmal zahlreiche neu entschlossene schwarze Wahlberechtigte das Blatt.

 

In dem anderen Rennen fehlten dem bisherigen republikanischen Sitzinhaber David Perdue 0,3 Prozent der Stimmen, er bekam 49,7 Prozent, sein junger Herausforderer, der Journalist Jon Ossoff, 48 Prozent. Eine Kandidatin der Grünen, nun ausgeschieden, erhielt 2,3 Prozent. Perdue ist wie Loeffler äußerst reich und äußerst rechtslastig. Ihm wird vorgeworfen, dass er durch vertrauliche Regierungsinformationen vor der Epidemie seinen Aktienbesitz rasch umschichten und so große Gewinne einfahren konnte, gleichzeitig aber das Virus verharmloste, weshalb ihn Jon Ossoff in einer Fernsehdebatte einen »Gauner« nannte. Darauf zog Perdue es vor, auf eine geplante zweite Debatte zu verzichten. Dafür vergrößerten seine Fans auf Wahlplakaten die Nase von Ossoff, der jüdisch ist, in der Manier von Stürmer-Darstellungen und beschimpften ihn, der zum rechten Flügel der Demokraten gehört, als »Kommunist«. Georgia nennt sich der »Pfirsichstaat«; zurzeit geht es dort alles andere als süß zu.

 

Obwohl ganze Regionen der USA trumplastig sind – etwa 73 Millionen stimmten für seine Wiederwahl (circa 48 Prozent der abgegebenen Stimmen) – entschieden sich mehr als 78 Millionen für Biden und Harris (circa 51 Prozent). Beide Zahlen, alle bisherigen Wahlbeteiligungen übertreffend, deuten klar auf die Polarisierung im Lande hin.

 

Dabei fällt auf, wie viele sich zwar für Biden entschieden, jedoch nicht für andere Kandidaten der Demokraten, also die Kandidaten für den Kongress mit seinen zwei Kammern, dem Senat und dem Repräsentantenhaus. Die Verluste bewiesen, dass die Partei so gespalten ist wie das Land. Das wurde schon 2016 und 2020 mehr als deutlich, als es für oder gegen Bernie Sanders ging. Doch Sanders hat Biden bei der Wahl nachdrücklich unterstützt. Wie kam es dann, dass die Demokraten einen Teil ihrer Mehrheit im Unterhaus verloren und gespannt den 5. Januar in Georgia abwarten müssen, ob sie im Senat wenigstens 50 : 50 erreichen?

 

Die Vorwürfe der sogenannten Moderaten kamen sehr rasch: Die Linken seien schuld, meinten sie. Linksradikale Schlagwörter hätten viele abgeschreckt oder verängstigt – Märsche, große Demonstrationen mit den »Black Lives Matter«-Rufen, Forderungen, das Geld für die Polizei zu kürzen oder sogar ganz zu streichen, die Gesundheitsfürsorge zu verstaatlichen, Hochschulen ohne Studiengebühren, radikale Umweltmaßnahmen, etwa gegen Fracking; das konnten viele nicht schlucken, die dann wieder für Trump stimmten oder für den gemütlichen alten Biden, aber keinen anderen Demokraten wählten.

 

Die Abgeordnete Abigail Spanberger aus Virginia, die nur knapp ihren Sitz verteidigte, meinte: »Wir dürfen niemals wieder die Wörter ›Sozialist‹ oder ›Sozialismus‹ gebrauchen. Durch sie verloren wir gute Anhänger …, sonst werden wir 2022 [bei der Zwischenwahl] zerrissen.« Zur Betonung fügte sie ein derbes Fluchwort hinzu. Der führende schwarze Abgeordnete James Clyburn aus Südkarolina meinte, mit »sozialisierter Medizin« und Kürzungen für die Polizei »werden wir nie mehr gewinnen«.

 

Das ist die Linie der Parteiführung – seit der Ära Franklin Roosevelts, der von 1933 bis 1945 Präsident war. Außer einer kurzen misslungenen Rebellion 1972 tut sie alles, um die »Wilden« zu vergraulen oder zu verbannen, und baut auf die »Moderaten«, die in Wahljahren tolle Pläne kundtun, wie sie das Los der Arbeitenden und Unterdrückten verbessern werden. Doch einmal im Amt werden die Versprechen gründlich verwässert oder vergessen. Weil die Republikaner härter und ungeschminkt reden und durchgreifen, wählten die meisten aus der Arbeiterklasse die Demokraten. 2016 war es für viele von ihnen jedoch undenkbar, für Hillary Clinton zu stimmen. Also riskierten sie es mit dem frischen, frechen Trump. Doch 2020 hatten etliche von ihnen Trump schon mehr als satt. Also Biden probieren. Doch keine anderen von seiner Partei!

 

Nun gibt es seit 2018 einen neuen Kern mutiger junger Politikerinnen, die in der Demokratischen Partei einiges verändern wollen. Am bekanntesten ist Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) aus New York. Zu der Gruppe gehören auch die in Somalia geborene Ilhan Omar, die Tochter palästinensischer Flüchtlinge Rashida Tlaib und die schwarze Ayanna Pressley. Einige ältere sind auch dabei, wie Barbara Lee, die 2001 allein gegen den Krieg in Afghanistan stimmte; neue Abgeordnete nehmen im Januar ihre Arbeit auf. Mehrere gehören der kämpferischen Organisation Democratic Socialists of America an und unterstützten Sanders.

 

Sie erklären die Wahlresultate völlig anders. Während die Parteiführung um Biden eine »Graswurzel-Wahlkampagne« verwarf, war es gerade die Linke in der Partei, die direkte Kommunikationsstrategien entwickelte: massive Telefonwerbung und – mit Masken – das Türklopfen bei einer Menge Wählern mit der freundlichen Bitte, per Post oder persönlich ihre Stimmen abzugeben. Bei Latinos in Arizona war das wohl ausschlaggebend, ebenso bei Afro-Amerikanern in Wisconsin, Michigan und Pennsylvania. Unter den Aktiven waren oft GewerkschafterInnen, wie die HotelarbeiterInnen, die wegen Corona keine Arbeit haben.

 

Diese Linke hat keine Angst davor, Forderungen an eine Biden-Regierung zu stellen. Und sie betont, gegen alle Bedenken der »Moderaten«, dass eine Mehrheit im Lande gerade diese Forderungen unterstütze.

 

Es gab und gibt unter Linken in den USA eine heiße Debatte, ob es möglich und überhaupt wünschenswert ist, in einer Partei zu bleiben, die so enge Verbindungen zu den Superreichen unterhält, die sie finanzieren und im Grunde kontrollieren – auch mit »Moderat-Sein«. Viele, wie etwa Bernie Sanders, meinen, dass man es trotz allem versuchen muss, wenn auch ohne Illusionen. Nur mit den Millionen Anhängern der Demokraten könne man ein Bündnis gegen Rassisten und Faschisten bilden. Andere sehen alle Hoffnung auf Kräfte innerhalb der Demokratischen Partei als verfehlt an. Biden sei gleich Trump und in mancher Hinsicht noch gefährlicher. Die Geschichte habe es bewiesen. Wieder andere meinen, eine komplexe Strategie sei klüger. Biden werde sich in manchen Fragen bewegen; so gefährlich die Außenpolitik der Demokratischen Partei auch sei, besonders gegenüber Russland und China, eine Verbesserung der Beziehungen zu Kuba und Iran sei denkbar und dringend nötig. Auch in Fragen der Migration und des Umweltschutzes sowie der Epidemie sei Bewegung denkbar.

 

Also hängt etliches davon ab, denken immer mehr Linke, ob es gelingt, verschiedene fortschrittliche Kräfte weiterhin zu mobilisieren und zusammenzubringen, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Demokratischen Partei, um eine Biden-Regierung unter ständigen Druck zu setzen. Nur dürfen sich diese Kräfte nicht mit kleinen Reformen abspeisen lassen, sich nicht von einer Parteiführung kaufen und korrumpieren lassen, die im Grunde für die Milliardäre steht. Das einzige echte Mittel gegen deren zunehmend weltzerstörerisches und menschenfeindliches Programm bleibt ihre Entmachtung.