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Titel2320

… und wütet der Böse  (Klaus Nilius)

Victor Klemperer, Tagebucheintrag. Dienstag, 11. Februar 1936: »Die Lage immer dunkler. In Davos hat ein jüdischer Student den deutschen Parteiagenten der NSDAP erschossen. Im Augenblick, da hier das Olympiaspiel stattfindet, wird alles totgeschwiegen. Hinterher wird man sich an die Geiseln, an die deutschen Juden halten.«

 

 

Schon für Morgensterns »Palmström« war die Sache klar. Das Geschehene war nicht geschehen, weil, so schloss er »messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf«.

 

Genauso verhalten sich 1936 die nationalsozialistischen Machthaber, als »inmitten der Olympiabegeisterung, die ganz Berlin erfasst hat«, im Olympischen Dorf wenige Tage vor Beginn der vom 1. bis zum 16. August stattfindenden Spiele ein Funktionär aus der US-Delegation im Zentralen Speisenhaus beim Mittagessen tot zusammenbricht. Ursache ist allerdings nicht das rasch attestierte Herzversagen, sondern, wie später im Krankenhaus Westend ein SS-Mann im Arztkittel darlegt, das im Blut festgestellte »Digitalis in immens hoher Konzentration«. Offizielle Darstellung der Todesursache bleibt jedoch der Herzinfarkt.

 

Der Sicherheitsdienst (SD) des Reichsführers SS übernimmt den Fall. Für den leitenden Obersturmbannführer Tornow ist die Sache klar: »Da sind Feinde der nationalsozialistischen Regierung am Werk, die uns die Spiele neiden und sie mit allen Mitteln sabotieren. (Ihnen) ist jedes Mittel recht, unser Land zu diskreditieren, ganz gleich, ob Kommunisten, Juden oder Plutokraten …« Obwohl beim preußischen Kriminalamt angestellt, wird Kriminaloberkommissar Gereon Rath mit der Aufklärung beauftragt und zur Kriminalwache im Olympischen Dorf versetzt. Er soll »den Schuldigen bringen, bevor er noch mehr Unheil anrichtet«. Und dabei keinerlei Aufsehen erregen.

 

Wir befinden uns im achten Rath-Roman des Schriftstellers Volker Kutscher, »Olympia«, am 2. November erschienen. Ein furioser Pageturner; wie immer akribisch aufbereitet und recherchiert. Ich habe ihn zwei Abende lang nicht aus der Hand gelegt, dann war ich durch (für Band 7, »Marlow«, siehe Ossietzky 24/2018, »Am braunen Strand der Spree«).

 

Erst vor kurzem hat sich die dritte Staffel des multimedialen Spektakels »Babylon Berlin« aus dem laufenden ARD-Programm verabschiedet, die auf Gereon Raths zweitem Fall beruht (»Der stumme Tod«) und im Jahr 1929 spielt. Jetzt ist die Handlung sieben Jahre weitergerückt, und die Nationalsozialisten haben ihre Macht konsolidiert.

 

Das bekommen alle Personen zu spüren, die unter den Einfluss oder ins Räderwerk der dunklen Herrscher geraten. Kutscher zieht die Stellschrauben an, und dies vor realem Hintergrund und historischen Abläufen. Gereon Rath sucht noch immer seine Rolle zwischen dem richtigen Weg und dem leichten, ist irritiert von dem »Gemenge« aus SS, Staatspolizei und Kriminalpolizei, wird zum »Spielball in der Hand des SD«, wie ihm seine Frau Charlotte vorhält. Und dennoch: Wenn er »die vielen Touristen aus aller Herren Länder sah, die um ihn herumsaßen und unbeschwert miteinander plauderten und die sportlichen Ereignisse des Tages beredeten, als gebe es nichts Wichtigeres auf der Welt, dann kam ihm das Land, in dem er lebte, ungeheuer falsch und verlogen vor. Alles Fassade, und er war einer von denen, die dafür sorgten, dass diese Fassade aufrechterhalten wurde.«

 

Um ihn herum »brummt« die Stadt. Olympiafahnen wetteifern mit riesigen Hakenkreuzfahnen um die Gunst des Windes. »Überall Menschen in Sommerkleidung … Stimmen aller Herren Länder redeten durcheinander.«

Selbst Obersturmbannführer Tornow ist zufrieden: »Die Spiele … waren ein voller Erfolg für das nationalsozialistische Deutschland. Und das sollten sie gefälligst auch bleiben! Sie hatten alles dafür getan, sie hatten die Berliner Zigeuner an den Stadtrand verfrachtet, sie hatten Streichers dämliches Hetzblatt aus den Stürmerkästen genommen, sie hatten Schilder abgeschraubt, die Juden den Zutritt zu einem Park oder das Benutzen einer Parkbank verboten, sie ließen die Lokale, in denen Negerjazz gespielt wurde, unbehelligt.«

 

Victor Klemperer, Donnerstag, 13. August 1936: »Die Olympiade geht nächsten Sonntag zu Ende, der Parteitag der NSDAP kündigt sich an, eine Explosion steht vor der Tür, und es ist natürlich, daß man sich zuerst gegen die Juden abreagieren wird. So vieles ist aufgehäuft.«

 

Es bleibt nicht bei dem einen Mord. Und die These von der kommunistischen Verschwörung wird immer haltloser. Der bisherige Hauptverdächtigte, ein Kellner, der ebenfalls den Zwischenfall im Speisesaal beobachtet hatte, kommt nicht mehr als Täter in Frage. Ihn hatte noch nicht einmal die Mitgliedschaft in der SA seit 1933 vor Verhaftung und Folter geschützt, war er doch vorher drei Jahre Mitglied im Rotfrontkämpferbund gewesen. Als die weiteren Morde geschahen, war er zusammen mit anderen Inhaftierten damit beschäftigt, das Konzentrationslager Sachsenhausen aufzubauen.

 

Raths Frau Charly lebt derweil in einer Gegenwelt. Sie hat gezwungenermaßen den Polizeidienst quittiert, weil Frauen nicht mehr bei der Kripo arbeiten dürfen. Sie ist jetzt in einem privaten Detektivbüro tätig, das nach und nach zur Fluchthelferagentur wird, und fühlt sich »wie Sisyphos, der gerade am Gipfel angekommen war und dem Stein hinterherschaute«. Dabei kommt sie auf Gedanken, »die Gereon bislang nicht zu denken gewagt hatte: Das Land verlassen. Auf Dauer ins Ausland gehen.«

 

Und da ist noch der ehemalige Ziehsohn Fritze, jetzt Pflegesohn bei einem Abteilungsleiter der Reichsjugendführung. Dieser hatte schon bald die von Fritze geliebten Bücher Kästners einkassiert und stattdessen Schriften über den 1930 ermordeten SA-Sturmführer Horst Wessel oder die Hitlerjugend auf den Nachttisch gelegt. Fritze gehört zum Jugendehrendienst, der zur Betreuung im Olympischen Dorf eingesetzt wurde. Hier lernt er auch die schwarzen Olympioniken Jesse Owens und David Albritton kennen, und einmal läuft er sogar Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl bei Filmaufnahmen quer durch den Set. Fatal für ihn ist, dass er Augenzeuge zweier Morde wird, die aber, siehe Palmström, nicht sein konnten, weil sie nicht sein durften. Er gerät ins Visier der SS und damit in Lebensgefahr.

 

Fulminant treibt die Handlung ihrem Showdown entgegen, wie bei »Vergil«: »Ringsum herrscht Mord und wütet der Böse.« (Übers. Rudolph Borchardt)

 

Gereon Rath muss erkennen, dass auch er auf der Abschussliste steht, in wahrstem Sinne des Wortes, und so kommt es zu jenen Situationen, in denen eigentlich »nichts mehr geht«, die aber von Kutscher schlüssig aufgelöst werden – bis auf den Schluss. Mit ihm ist Kutscher ein veritabler Cliffhanger gelungen. Meine Empfehlung in Anbetracht der momentan geschlossenen Kinos: Machen Sie sich ein paar spannende Stunden, lesen Sie das Buch.

 

 

Victor Klemperer, Donnerstag, 31. Dezember 1936: »Ständige Vereinsamung … sehr geringe (Hoffnung) auf das Ende des dritten Reichs.«

 

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Die Faszination der historischen Krimis Kutschers ist nach wie vor groß. Bis zum 21. Oktober wurden laut ARD 10,2 Millionen Videoabrufe für »Babylon Berlin« registriert. Rund neun Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer haben mindestens eine Folge im Ersten gesehen. Die durchschnittliche Reichweite der zwölf Folgen lag bei 3,342 Millionen. Alle drei Staffeln stehen noch bis zum 21. Januar 2021 in der ARD-Mediathek zum Abruf bereit. Die Dreharbeiten für die vierte Staffel sollen im Frühjahr 2021 in Berlin beginnen.

 

 

Volker Kutscher: »Olympia«, Piper Verlag, 544 Seiten, 24 € – Die Tagebucheintragungen Victor Klemperers wurden dem Band »Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, Tagebücher 1933-1941« entnommen, und zwar der Lizenzausgabe für die Büchergilde Gutenberg, mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlages, 1995.