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Titel2410

Der Ganges als Menetekel  (Manfred Uesseler)

Von Gangotri, dem heiligen Ort inmitten des Himalaja, nur noch 20 Kilometer vom Gletscher entfernt, begann ich meine Trekkingtour zur Quelle des Ganges. Alle hier nennen den Fluß ehrfürchtig Ganges, obwohl er bis Devprayag, wo der Aleknanda einmündet, den geographischen Namen Bhagirathi trägt. Bis dort sind es 300 Kilometer.

Die Quelle heißt Gaumukh, ins Deutsche übersetzt »Kuhmaul«. Dorthin führen Pfade, die streckenweise steil und gefährlich sind, zwischendurch aber auch bequeme Wanderwege durch die großartige Flora des Himalaja. Der Fluß ist nur manchmal zu sehen, denn oft muß ich steile Felshänge durchklettern oder Nebenflüsse überqueren, die aus den Bergen kommen. Das ist jedesmal ein eigenes Abenteuer, denn als Brücke dienen nur zwei Baumstämme, die unverbunden nebeneinander liegen. Das Problem ist nicht so sehr der Spalt zwischen den Stämmen, Angst bekommt man, weil die langen rohen Stämme heftig wackeln. Manchmal trifft man Träger, die gegen Bezahlung gern helfen. Oder Mulis und kleine Pferde mit ihren Treibern, die bei Niedrigwasser für einen sicheren Transport ans andere Ufer sorgen. Ich schaffte es ohne Hilfe, doch einmal konnte ich mich nur retten, indem ich mich aufs Gesäß fallen ließ. Was man fürchtet, ist weniger, daß man ertrinkt, sondern daß man stürzt und sich an den Steinen verletzt.

Die Trekkingtour zum Ursprung des Ganges und zurück ist von Gangotri aus in zwei Tagen zu schaffen, wenn man als echter Trekker zu Fuß geht. Auf den Rücken von Mulis geht es schneller.

Ich legte einen Zwischenstop in Bhojbasa ein und übernachtete dort unter primitiven Verhältnissen in einem Ashram, einer religiösen Herberge. Es gibt auch eine Touristenunterkunft mit großen Zelten. Da kassieren die Treiber viel Geld für eine luftige Übernachtung. Am Morgen machte ich mich früh auf den Weg. Beim Gehen und Sehen war ich überwältigt von der umgebenden Landschaft. Das Panorama mit den schneebedeckten riesigen Bergen – man spricht vom »ewigen Eis« – ist unwahrscheinlich schön. Die anfangs noch reiche und dann karger werdende Flora mit exotischen Blumenstauden und Sträuchern, die immer dünner werdende, aber ozonreiche Luft – unvergeßliche Eindrücke. Die Mühen des steilen Aufstiegs bis auf 4000 Meter Höhe werden immer größer, aber daß man sie physisch durchsteht, soll ja bald belohnt werden.

Und auf einmal ist man tatsächlich da, hat es wirklich geschafft.

Doch sogleich folgt Ernüchterung. Die Frage drängt sich auf: Das soll Gaumukh, das Kuhmaul, die Quelle des Ganges sein? Der Ursprung des heiligen Flusses, den über eine Milliarde Inder als heilig betrachten, als Göttin verehren? Die nächste Frage folgt, wenn man sich die Umgebung näher anschaut: Wie lange noch? Schon heute sieht es trostlos aus. Aus der Quelle fließt nur wenig Wasser. Davor stapft man durch Matsch und Geröll. Was die Besucher hier anrichten, ist noch das geringste Übel. Das größte ist: Der Gletscher, aus dem der Baghirathi herausfließt, schmilzt dahin. In 20 Jahren wird er, wenn sich die klimatischen Verhältnisse nicht bessern, restlos geschmolzen sein. Dann dürfte es hier und auch an anderen Hängen des Himalaja kein Quellwasser mehr für den Ganges geben. Nach pessimistischeren Einschätzungen wird es nicht einmal mehr 20 Jahre dauern, sondern nur noch wenig mehr als zehn Jahre.

Die Gletscher hier oben – ich hätte es nicht für möglich gehalten – sind an der Oberfläche schwarz: schwarz von den Staubwolken, die sich über dem indischen Subkontinent bilden und sich hier als Ascheregen niederschlagen. Zwar bedeckt immer wieder neuer Schnee für einige Zeit den geschwärzten, aber dadurch ändert sich nichts an der hoffnungslosen Lage. Die Klimaerwärmung und die zunehmenden CO2-Emissionen tragen dazu bei. Und eine weitere Gefahr droht dem Fluß und allen Flüssen Indiens: Die Monsunniederschläge haben in den letzten Jahren nachgelassen. Was wird aus dem heiligen Ganges? Welchen Segen wird er den Menschen an seinem 3000 Kilometer langen Lauf bis zum Golf von Bengalen noch spenden können?

Von Manfred Uesseler ist im trafo Verlag erschienen: »Erlebtes Indien«, 299 Seiten, 24.80 €