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Titel2410

Bemerkungen

Profitmacherei ohne Risiko
Ein neuer Rettungsschirm: Nach den Griechen sollen nun die Iren vor dem Ruin bewahrt werden, schon wieder ist europäische Solidarität erforderlich und wird die Bürger der Retterländer leider einmal mehr belasten ... So die offizielle Version. Und Bild, das Nationalgefühl pflegend, fragt: »Wie teuer kommen uns die Pleite-Iren?«

»Europa muß als Einheit bewahrt werden und darf nicht kurzfristigen ökonomischen Erwägungen zum Opfer fallen«, sprach Josef Ackermann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, als er der EU-Kommission in Brüssel Entscheidungshilfe in dieser Sache gab.

Die irische Regierung soll nun, um sich der Hilfe würdig zu zeigen, Sozialleistungen kürzen. Die Unternehmenssteuern, auf der Insel besonders niedrig, muß sie nicht anheben.

Bemerkenswert: Die Staatsschulden sind in Irland nicht besonders dramatisch gestiegen, im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt sind sie geringer als zum Beispiel in Italien und Frankreich. Hochverschuldet sind irische Unternehmen und Banken. Britische und deutsche Banken haben ihnen üppige Kredite gegeben. Dafür treiben die Gläubiger nun erhöhte Zinsen ein, eben weil die Kreditnehmer als verschuldet bekannt wurden. Geholfen wird also den britischen und deutschen Banken. Nicht als ob sie »gerettet« werden müßten, aber sie werden befreit von den Risiken ihres Geschäfts, sie müssen nichts abschreiben, im Gegenteil, sie können im Zinsparadies Irland Extraprofite machen auf Kosten der dortigen Steuerzahler, zu Lasten auch der hiesigen Empfänger sozialer Leistungen. Und das alles verdeckt durch die Legende von einer »Gemeinschaft Europa« – so als wären unsere Bedürfnisse identisch mit den Gewinninteressen europaweit agierender Finanzkonzerne.

Arno Klönne


Teurer Dank
»Wir sparen an vielen Stellen...«, schreibt uns die Bundeskanzlerin in einem Brief, den sie als Anzeige in allen großen Zeitungen und Zeitschriften publizieren ließ. An vielen Stellen, das ist wahr, aber nicht überall spart die Regierung, die Anzeigenkampagne kostete immerhin 2.800.000 Euro, obwohl in dem Brief gar nichts Neues steht, nur das Übliche eben: Die christlich-liberale Regierung habe das Beste für die lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger im Sinn. Und Deutschland könne stolz auf sich sein, es habe die weltweite Wirtschaftskrise am besten gemeistert. Das hatte die Kanzlerin vorher schon wiederholt mitgeteilt, über dieselben Medien, kostenlos. Wozu dann jetzt dieser Aufwand? Vielleicht erklärt ihn ein Satz, der regierungsseitig nicht schon zig mal ausgesprochen worden war: »Danke«, sagte die Kanzlerin, danke dafür, daß die lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger »sich trotz Sorgen und Belastungen nicht beirren« ließen. Das ist zwar ein wenig übertrieben, denn manche Unionsanhänger und mehr noch solche der FDP haben sich offenbar, wenn die Demoskopie nicht irrt, beirren lassen, aber es hätten schon mehr sein können, und sie hätten aufsässiger werden können, die lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, der Protest im Wendland und in Stuttgart ist ja noch zu verkraften. Die Kanzlerin hat allen Grund, einen Dankesbrief auszusenden. Die Kosten zahlen wir, die Empfänger.
Peter Söhren


Das Mega-Milliarden-Ding
»Bei rechtmäßig getroffenen Entscheidungen braucht man keine Bürgerbefragung in Stuttgart. Die Landtagswahl im nächsten Jahr wird die Befragung der Bürger sein.« So Angela Merkel in der Bundestagsdebatte zum Projekt »S21«. Rechtmäßig – das heißt in diesem Fall: Die Deutsche Bahn AG hat im Verein mit privaten Großunternehmen den Plan für ein Mega-Milliarden-Ding entworfen, der Rat der Stadt Stuttgart und der baden-württembergische Landtag haben das Vorhaben abgenickt, Begehren nach einer Entscheidung durch die Stuttgarter Bevölkerung wurden abgewehrt. Der Bundestag hat sich, obwohl die Kosten großteils vom Bund zu tragen sind, mit dem Projekt gar nicht befaßt. Das alles ist schon Jahre her, die Bedingungen für »S21« haben sich verändert, Kostensteigerung ist mit Sicherheit zu erwarten. Aber der Deal soll durchgezogen werden, die Bahn AG, auf dem Wege zur Privatisierung, will ihre Bilanz verbessern, private Auftragnehmer und Investoren wollen mit dem Um- und Neubauten unter und über der Erde immense Gewinne machen. Bei der Landtagswahl können, soweit sie wollen, Bürgerinnen und Bürger ihr Kreuzchen machen – bei den Parteien. Über das Stuttgart-Projekt stimmen sie nicht ab, und was die Parteien aus dem Vorhaben machen, nach der Wahl, ist nicht beeinflußbar. So soll es bleiben, meint die Bundeskanzlerin.

Aber diese Rechnung geht nicht auf. Der Protest gegen »Stuttgart 21« hat sich auch durch Geißler’sche Moderation nicht zur Ruhe bringen lassen, und er wirkt über die schwäbische Metropole hinaus ansteckend. Wer sich über die Hintergründe des DB-Deals und die Argumente der Widerständigen informieren will, findet dazu alles Wichtige in einem Sammelband: »Stuttgart 21 – Oder: Wem gehört die Stadt?«
A. K.
Volker Lösch / Gangolf Stocker / Sabine Leidig / Winfried Wolf (Hg.): »Stuttgart 21. Oder: Wem gehört die Stadt?«, PapyRossa Verlag, 198 Seiten, 10 €


Internetseite gesperrt
Sage niemand, unsere Bundesregierung bleibe reserviert, wenn es gilt, die Interessen des Kapitals oder einer mächtigen Lobby zu bedienen, beispielsweise die der Bauern. Erst recht wenn beide zugleich zu bedenken sind, Bauernlobby und Geldaristokraten, ist das Berliner Polit-Personal schneller als die Feuerwehr.

Am 9. November 2010 um 10 Uhr hob der Europäische Gerichtshof in Luxemburg die gerade erst ein Jahr alten Transparenzregeln der Europäischen Union teilweise auf und urteilte, personenbezogene Informationen dürften nicht mehr unterschiedslos über alle Empfänger von Mitteln aus den Landwirtschaftsfonds der EU veröffentlicht werden. Das richterliche Verdikt gilt nur für künftige Veröffentlichungen; bis dato publizierte Informationen betrifft es nicht. Und es schützt nur Privatpersonen, nicht Firmen, die sich aus den Futtertrögen der EU bedienen lassen.

Demnach dürfte der Steuerzahler weiterhin im Internet Namen und Adressen zumindest jener Bauern nachlesen, die über längere Zeiträume überdurchschnittlich hohe EU-Hilfen und warum wieviel davon erhalten haben; es sind Namen von Bauernverbandsfunktionären darunter, die aus Brüssel mehr als 100.000 Euro jährlich einstreichen, und auch von vielen Bauern, deren jährliche Gesamteinkünfte zu mehr als 50 Prozent aus EU-Fördermitteln bestehen. Informationen könnte er auch über Unternehmen bekommen, die zu den größten Subventionsempfängern in Deutschland gehören: Lebensmittelkonzerne wie Müller-Milch, den Getreidehandel Töpfer, den Molkereikonzern Campina, den Fleischproduzenten Doux Geflügel; nicht zu reden von Profiteuren wie RWE Power und dem Brillenverkäufer Günther Fielmann (ja, auch der gehört dazu).

Doch EU-Recht wird national vollzogen. Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) ließ die im Internet publizierte Datensammlung über die Brüsseler Agrarzahlungen an die deutschen Empfänger sofort und komplett entfernen, nur Minuten, nachdem das Urteil verkündet war. Sage also niemand....
Volker Bräutigam


Der Springinsfeld fehlt
»Wo ist ein deutscher Springinsfeld wie Geert Wilders, der auf einer diffus antiislamischen Welle zu surfen verstünde, ohne gleich vom Brett zu fallen?« fragt Stefan Dietrich, innenpolitischer Redakteur der Frankfurter Allgemeinen. Jetzt sei »das Fenster der Gelegenheit« erst einmal wieder zugeschlagen, das doch über Wochen »sperrangelweit offen« gestanden habe: »Thilo Sarrazin hatte das Volk derart politisiert, daß nur einer hätte auf die Bühne springen müssen ..., dann sähe die politische Landschaft heute ganz anders aus.«

An der erwähnten Politisierung hatten bewährte Medien größten Anteil, vom Hamburger Boulevard- bis zum Frankfurter Intelligenzblatt. Nur ein Bühnenspringer war nicht zur Hand. Aber warum sollte er sich nicht noch finden lassen, wenn man ihn braucht, um den Anti-Islamismus weiter anzuheizen, von den Sozialskandalen abzulenken, Kriegsgegnerschaft aufzubrechen und die Regierenden unter Druck von rechts oben zu setzen, damit sie dem Druck von links unten standhalten?
Marja Winken


Strobls Stöße in Feindes Reihen
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Thomas Strobl – im Wichs und mit Schmiß, denn er ist Mitglied der schlagenden Verbindung Afrania im Coburger Convent zu Heidelberg – gehört zu den Politikern, die sich für höchste Aufgaben ins Gespräch bringen möchten. Dabei ist er schon mit Ämtern überhäuft, zum Beispiel dem des Generalsekretärs der baden-württembergischen CDU.

Zielstrebig legte er seine Karriere als Schüler eines Heilbronner Gymnasiums an, als er sich im Kampf gegen die seiner Meinung nach mit linken Lehrern verseuchte Schule einen Namen machte. Die notwendige Protektion in der Politik erheiratete er nach dem Jura-Studium mit der Tochter des CDU-Spitzenpolitikers Wolfgang Schäuble.

Von Versippung versteht er was: In der Auseinandersetzung um »Stuttgart 21« nahm er kürzlich den Schauspieler Walter Sittler, einen Sprecher der Bürgerinitiative gegen das Bahnhofsprojekt, in Sippenhaft: Weil der Vater des Schauspielers Nazi-Funktionär war, so Strobl in Berlin aktuell, sei Walter Sittler »jemand, der in Wahrheit mit unserer Demokratie nichts am Hut hat«.

Dabei sollte Strobl gerade mit Nazi-Vergleichen vorsichtig sein, hatte er doch im Jahr 2009 Skandal gemacht, als er das aus der Nazi-Zeit stammende »Panzerlied« in das Liederbuch der CDU aufnehmen ließ und trotz Protesten aus den eigenen Reihen an dieser Entscheidung festhielt. Der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger, der den kurz zuvor verstorbenen Hans-Karl Filbinger, diesen »furchtbaren Juristen«, zum »Widerstandskämpfer« stilisieren wollte, hielt es dann doch für klüger, das Liederbuch einzustampfen. Hier ein paar Zeilen des kriegsgeilen »Panzerlieds«: »Bestaubt sind die Gesichter, / Doch froh ist unser Sinn, / Ja unser Sinn; / Es braust unser Panzer / Im Sturmwind dahin. / ... So stoßen wir tief / In die feindlichen Reihn. / Für Deutschland zu sterben / Ist uns höchste Ehr. / Und läßt uns im Stich / Einst das treulose Glück, / Und kehren wir nicht mehr / Zur Heimat zurück, / Trifft uns die Todeskugel, / Ruft uns das Schicksal ab, / Ja Schicksal ab, / Dann ist unser Panzer / Ein ehernes Grab.«

Damit niemand mehr die alte Version singen muß, habe ich eine moderne geschrieben. »Deutschland«, so heißt es da, »träumt von einem Sieg, / Ja einem Sieg: / Denn seit 1870 / verlor es jeden Krieg! / Ob schwarz auch die Hasel, / ob braun auch die Nuß, / Deutschland wird kämpfen / Und weicht keinen Fuß. / Das Erdöl, das muß fließen / Für unser Heimatland, / Ja Heimatland ...«
Erhard Jöst


Rationalisierung
Die Staatstrauertränenvorräte
gehn langsam zur Neige
Es gibt die Schweige-
Minuten im 10er-
Block in der
Mittags-
pause
Zeit
ist

GELD
Hartmut Barth-Engelbart


Befreier? Besatzer!
März 2009, in der kleinen afghanischen Ortschaft Imam Sahib, nur wenige Kilometer von dem deutschen Truppenstandort Kundus entfernt: Bei einem Feuergefecht mit US-Spezialeinheiten und afghanischer Polizei seien fünf Al-Kaida-Terroristen getötet worden. Eine simple Pressemitteilung, wie sie in den letzten Jahren immer wieder in die Redaktionsstuben flatterten. Der Journalist Marc Thörner ist dieser einen nachgegangen und hat an Ort und Stelle recherchiert. Schnell stellte sich heraus, daß es in Imam Sahib nie eine Al-Kaida-Zelle gegeben hatte und auch keine schießwütigen Terroristen, die von den sich tapfer verteidigenden US-Militärs überwältigt worden wären. Was es gab, waren fünf unbewaffnete Hausangestellte, die das Pech hatten, bei der Besetzung der Ortschaft ohne Anruf erschossen zu werden. Eine von vielen Grausamkeiten in einem barbarischen Krieg. Und es war nicht einmal eine der schlimmsten. Den Operationen der ISAF-Besatzer und ihrer Verbündeten fallen fast ausschließlich unbeteiligte Zivilisten zum Opfer wie auch beim Massaker von Kundus, wo unter Verantwortung des Bundeswehrobersten Klein bis zu 142 Afghanen, darunter zahlreiche Kinder und Jugendliche, umgebracht wurden.

Thörner hat zwei Jahre lang in Afghanistan recherchiert und schildert nun anschaulich seine Erlebnisse. Er hat Besatzungssoldaten interviewt, Warlords, Provinzvorsteher, Dorfälteste und Überlebende von Massakern, hat an Gerichtsverhandlungen teilgenommen, wo noch ganz offen nach den Gesetzen der Scharia geurteilt wird. Er erlebte Kompetenzchaos zwischen afghanischen Regierungsstellen, Provinzmächtigen und den verschiedenen Besatzungstruppen und beschreibt, wie im Zweifelsfall immer einer die Verantwortung für unleugbar begangene Verbrechen dem anderen zuschob. Nach seinen Erkenntnissen bestehen kaum ideologische Differenzen zwischen den im Widerstand kämpfenden Islamisten und denen, die in der afghanischen Regierung vertreten sind – mit der Folge, daß im Krieg und Bürgerkrieg immer wieder einzelne Gruppen die Front wechseln – je nachdem, welcher Warlord in der betreffenden Provinz jeweils das Sagen hat und auf wen er sich stützt. Nach einem Besuch im Büro einer offiziell zugelassenen Partei erfuhr Thörner zufällig, daß er die ganze Zeit neben einem hochrangigen Kommandeur der Taliban gesessen hatte.

Der Autor erlebte zudem die Ineffizienz und Wirkungslosigkeit der offiziell propagierten »Aufbauhilfe«, das allgemeine Klima von Gewalt, Korruption, Hoffnungs- und Trostlosigkeit und die Verzweiflung von Dorfbewohnern, die mißhandelt und ihrer Ländereien beraubt wurden – von Warlords, die unter dem Schutz der Besatzer agierten. Und die Mischung aus Zynismus und Hilflosigkeit, mit der Vertreter der Besatzungsmächte auf dieses Treiben reagierten: Gegen die Provinzmächtigen könne man nichts unternehmen, da man sie für den Kampf gegen die Aufständischen brauche.

Die von der Bevölkerung isolierten ausländischen Truppen unterstützen die einen Warlords gegen die anderen, um selbst möglichst ungeschoren zu bleiben. Daß sie damit den Haß und die Verachtung der ausgeplünderten, unter ständiger Bedrohung lebenden Bevölkerung auf sich ziehen, ist folgerichtig. Die Mehrzahl der Afghanen wünscht inzwischen einen schnellstmöglichen Abzug der Besatzer, auch viele von denen, die sie anfangs noch als vermeintliche Befreier begrüßt hatten.

Im Buch wird ein junger afghanischer Journalist zitiert: »Die ISAF und die Bundeswehr stehen hinter diesen Provinzmachthabern und Gemeindechefs. (...) Erst durch die ISAF können die sich ihre Verbrechen erlauben.« Thörner selbst vergleicht die Politik der Besatzer in Afghanistan mit der der französischen Kolonialmacht in Nordafrika, die sich im Kampf gegen die Unabhängigkeitsbewegung auf überkommene feudale Strukturen stützte. Wie das französische Kolonialabenteuer endete, ist bekannt.

Marc Thörner wurde 2009 mit dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus ausgezeichnet.
Gerd Bedszent
Marc Thörner: »Afghanistan-Code. Eine Reportage über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie«, Edition Nautilus, 156 Seiten, 16 €


Zuschriften an die Lokalpresse
Nach fast zehn Jahren enttäuschender Spurensuche und unabgeschöpfter Kopf-Prämien in Millionenhöhe verkündet der Berliner Kurier, daß »Terrorfürst« Bin Laden, der »meistgesuchte Mann der Welt«, geortet wurde. Er wurde nicht wie Saddam Hussein unrasiert in einer Erdhöhle aufgespürt, sondern soll wie ein unbescholtener Bürger in einem komfortablen Haus in Pakistan leben. Und sein Stellvertreter ist postalisch in derselben Straße erreichbar.

Wenn ich mich recht erinnere, begann 2001 der US-geführte Krieg gegen Afghanistan damit, daß Präsident Bush II. der Weltöffentlichkeit kundtat, Bin Laden halte sich in jenem asiatischen Land auf. Inzwischen wurde der Krieg auf Pakistan ausgedehnt – logisch, wenn Bin Laden dorthin umgezogen ist. Vielleicht sollte jetzt, da man seine Adresse kennt, mal jemand bei ihm anfragen, wohin er, ein Bürger Saudi-Arabiens, das nächste Mal umzuziehen gedenkt, damit Air Force und CIA auch dort schon Bombardements vorbereiten können, die erfahrungsgemäß Tausende Menschen treffen, nur nicht Bin Laden.

Im Laufe der Jahre hätte ich manchmal fast bezweifelt, ob es diesen Mann überhaupt gibt. Aber seitdem ich gelesen habe, daß man seine Adresse kennt, bin ich insofern beruhigt. – Waldemar Piepenbrink (52), Logistiker, 72250 Zuflucht
*
Sie berichteten darüber, daß die Bundeswehr im Kampf gegen die Taliban in Afghanistan neuerdings einen Esel einsetzt. Das einheimische Grautier, das sich in der unwegsamen Landschaft besser zurechtfindet als seine zweibeinigen Kampfgefährten, buckelt friedensstiftende Waffen und freundliche Munition durch die Landschaft. Der Esel, der für 70 Euro aus zweiter Hand erworben wurde, ist laut Aussage des zuständigen Kommandeurs militärtaktisch notwendig und hört auf den Namen »Hermann«. Aus meiner Jugend erinnere ich mich an ein Couplet, das Claire Waldoff als Spottlied auf den Nazi-Luftwaffenchef Hermann Göring sang. Der hatte großspurig verkündet, daß er Meier heißen wolle, falls auch nur ein feindliches Flugzeug den deutschen Himmel überfliegen würde. Zwei Jahre später konnte man die Schäfchenwolken vor lauter ausländischen Flugzeugen nicht mehr sehen, und der dicke Hermann war der Blamierte. Verstehe ich den Einsatz des ersten Bundeswehr-Esels als Eingeständnis, daß die millionenschweren Tornado-Flüge auch nichts gebracht haben? Und jetzt soll ein Langohr namens Hermann die Lage retten? Im übrigen meine ich, daß die Eselei in Afghanistan schon begann, als sich die Bundeswehr in die Kämpfe in Afghanistan einmischte. – Albert Altrichter (78), Rentner, 51147 Wahnheide.
*
Schon wieder deutet sich bei Bahn und Berliner S-Bahn ein Winterchaos an, da die notwendigen, wiederholt versprochenen technischen Wartungen noch immer nicht abgeschlossen sind. Um so mehr begrüße ich die Bemühungen der Bahn, die Kundenfreundlichkeit durch ständige und konkrete Information über Zugausfälle und Verspätungen und durch Erläuterung der technischen Ursachen zu erhöhen.

»Werte Reisende«, sprach mich und andere Wartende eine charmante Stimme am Berliner Hauptbahnhof durch den Lautsprecher der Regionalbahn nach Brandenburg an, »unser Zug hat neun Minuten Verspätung. Die Ursache: Hohes Verkehrsaufkommen. Wir bitten um Verständnis.«

»Werte Reisende«, ergänzte die Stimme am Bahnhof Zoo, »unsere Verspätung erhöht sich um circa fünf Minuten. Der Grund: Der Zug auf dem Nachbargleis fährt zuerst ab. Wir bitten um Verständnis.« Aber selbstverständlich, wenn das so warm und gefühlvoll rübergebracht wird.

Um das Bemühen der Bahn um radikale Offenlegung der Gründe für die vom regulären Fahrplan abweichenden Erlebnisfahrten zu unterstützen, biete ich folgende Formulierungen an: unerwartet hohes Reisendenaufkommen, ungünstiges Streckenprofil, verschlanktes Schienenpanorama, fortgeschrittene Tageszeit, ungeahnte Streckenverlangsamung, wetterabhängige Beschleunigungsverdichtung, jahreszeitgemäße Schienenverwerfung, unpäßliches Bordpersonal, unpräzise Radstandsanalyse, ungerechtfertigte Vergütungsansprüche, fahrzeugspezifische Radkranzverwichtungen, plötzlicher Wechsel in die Sommer- oder Winterzeit.

Die Unfähigkeit des Bahnmanagements sollte man dabei jedoch ausblenden. Dafür bittet es um Verständnis. – Werner Draufschläger (71), Reichsbahn-Oberinspektor i. R., 07806 Eisenhammer.
Wolfgang Helfritsch


Ruhestörung
Ein sonniger Sonntag. Auf der Zeil, der Einkaufsmeile Frankfurts, machen Indios Andenmusik. Sie klingt trotz des Tonverstärkers, den sie angeschlossen haben, sanft und beruhigend. Etwa 50 Menschen hören zu. Plötzlich kommt ein Polizist in martialischer Montur auf einem schweren Motorrad angefahren und fordert ultimativ zum Abbruch auf. Ich frage ihn, was die Musiker denn falsch gemacht hätten. Das könne er nicht sagen, Datenschutz. Ich bitte ihn, mir die Bedingungen zu nennen, unter denen man hier musizieren darf. Ohne Verstärker würde es vielleicht geduldet, sagt er – aber eigentlich nur nebenan auf der Hauptwache, angemeldet und mit ordentlicher Miete. Dort findet, seitdem der Platz verkehrsberuhigt ist, alle Nase lang irgendein Event mit Verkaufsständen und nervender Beschallung statt.

Ich verwickele den Polizisten ins Gespräch, und da tritt er aus seiner Rolle als barscher Ordnungshüter heraus und verrät mir, was vorgefallen ist. Jemand hat bei der Polizei angerufen und sich beschwert. Ein in seiner Sonntagsruhe gestörter Anwohner kann es kaum gewesen sein, denn rundum stehen nur menschenleere Kaufhäuser. Und die Musik war, wie gesagt, sanft und beruhigend, einfach schön. Der Uniformierte nennt ein anderes Beispiel für mißgünstige Anzeigenerstatter. Dann bricht es aus ihm heraus: »Heute zählt nur das Recht des Einzelnen, nicht das der Gemeinschaft. Das wird so lange gehen, wie das Volk es sich gefallen läßt.« Wie er das wohl meint?
Reiner Diederich


Walter Kaufmanns Lektüre
Was sind das für Menschen, die zur thüringischen »Tafel« kommen, womit eine Essensausgabe für Bedürftige gemeint ist. Welche Schicksalsschläge haben jeden Stolz besiegt und bewirkt, daß man sich früh morgens schon in eine Schlange einreiht, die erst gegen Mittag bedient wird. Landolf Scherzer war eine Woche lang als Helfer der »Tafel« vor Ort und hat die Bedürftigen und ihre Notlage hautnah erfahren. Und da er Geduld, Ausdauer und eine besondere Art im Umgang mit Menschen hat, wird auch seine Suche nach jenen »Helden der Arbeit«, die sich einst mit Selbstverpflichtungen an den DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker gewandt hatten, zu einem Augenöffner auf unser Hier und Heute: Was wurde aus den sechs preisgekrönten Männern und Frauen, die Scherzer aufspüren konnte, was alles erfuhr er über sie und von ihnen selbst, was hatten sie zu berichten über den Kahlschlag nach dem Mauerfall, dem Untergang von DDR-Betrieben, in denen sie gearbeitet haben. Und wie beredt ist das Schweigen derjenigen, die sich über Vergangenes und Gegenwärtiges nicht äußern wollten. In diesem Buch zeigt sich Scherzer wieder einmal auf der Höhe seines Könnens – nicht zuletzt in seiner Reportage über Menschen im Umkreis von Tschernobyl. Sie ist zuvor in einem kleinen thüringischen Verlag erschienen und sogleich von Eckart Spoo in Ossietzky 2/10 gewürdigt worden. Den jetzt vom Aufbau Verlag herausgegebenen Texten – alle drei brisant und aktuell – ist größte Verbreitung zu wünschen. Sie wird kommen.
W. K.
Landolf Scherzer: »Letzte Helden«, Aufbau Verlag, 253 Seiten, 9.90 €
*
In Frankreich wurden Claude Lanzmanns Erinnerungen zum Buch des Jahres gekürt, in Deutschland vermißt man sie auf den Bestsellerlisten. Offenbar hat sich noch nicht herumgesprochen, was für ein Jahrhundertwerk dieser französische Philosoph, Buchautor, Journalist und Dokumentarfilmer zustande gebracht hat. Er will die nahezu siebenhundert Seiten einer Mitarbeiterin in den Computer diktiert haben – bewundernswert, wenn dem so war: diese Konzentration, Dichte, Gestaltungskraft, dieses Erinnerungsvermögen, dieser so eigene Blick auf seine Zeit.

Eine Welt tritt hier zutage: die Welt des Sohnes jüdischer Einwanderer, der früh schon sein Leben in der Resistance einsetzte, sich als Jungkommunist im Kampf gegen die deutschen Okkupanten bewährte und zum Chronisten des Schicksals der europäischen Juden wurde.

Mit seinem Dokumentarfilm »Shoah« wurde das herbräische Wort weltweit zum Inbegriff für Völkermord. Die Abschnitte, die der Entstehung von »Shoah« gewidmet sind, gehören zu den eindringlichsten im Buch. Für das, was er in zwölf Jahren auf sich nahm, um den Film zu vollenden, gebührt ihm alle Achtung. Da spürt er, der französische Jude, im Nachkriegsdeutschland ehemalige SS-Schergen auf, stellt sie zur Rede und filmt sie mit versteckter Kamera – gewagte Einsätze allesamt. Die von ihm zitierten Zeugenberichte von Juden, die die »Shoah« überlebten, schnüren einem die Kehle zu. Es überkommt einen die kalte Wut, wenn man von den Greueltaten der Nazis und ihrer polnischen und ukrainischen Mordgehilfen liest.

Zwölf Arbeitsjahre an »Shoah«, welch eine Ausdauer! Doch diese Zeit summiert sich nur zu einem kleinen Teil seiner vierundachtzig prallen Lebensjahre. Er hat die Frauen geliebt, die Simone de Beauvoir in Paris und die Angelika Schrobsdorff in Jerusalem, und etliche schöne und kluge Frauen mehr haben seine Liebe erwidert. Er hat die Welt bereist, Reportageaufträge in fernen Ländern erfüllt, in China, Korea, Chile, Algerien und immer wieder in Israel, dem Land, das ihm ans Herz wächst. Davon zeugt sein Dokumentarfilm »Warum Israel?« wie auch sein Streifen über israelische Soldaten im Sinai-Einsatz, mit denen er sich identifiziert – ohne auch nur ein Wort über die Verbrechen dieser Armee in palästinensischen Gebieten zu verlieren. Dabei offenbaren ihn seine Erinnerungen mit dem geheimnisvollen Titel »Der patagonische Hase« als einen stets Beteiligten, dem, wie er selber sagt, hundert Jahre nicht genügen, um die Neugier auf das Leben zu stillen.
W. K.
Claude Lanzmann: »Der patagonische Hase. Erinnerungen«, Deutsch von Barbara Heber-Schärer, Erich Wolfgang Skwara, Claudia Steinitz, Rowohlt Verlag, 679 Seiten, 24.95 €


Wie wird einer zum Mörder-Nazi?
Josef Bierbichlers »Holzschlachten. Ein Stück Arbeit« in der Berliner Schaubühne: ein Auschwitz-Mediziner. Allein. Gespenstische, sehr präzise Texte aus den Erinnerungen des Arztes Hans Münch, nach Interviews des Journalisten Bruno Schirra.

Münch hatte im KZ an Gefangenen experimentiert: der Wissenschaft zuliebe – in der Gaskammer wären sie ja ohnehin gelandet, also!? Bierbichler spricht solo, knüpft daran Gedanken des Theater-Autors Florian List, der in der Arbeit – gleich welcher Arbeit und wie und warum – die Hölle für die Menschen sieht (Holzhacken auch). So kommt man auf das »ingenieurale Denken«, das zum industriellen Massenmord befähigt: nur von A bis B denken, nicht von Anfang bis Ende, wie Helgard Kramer, Ulrich Oevermann und andere es in »Die Gegenwart der NS-Vergangenheit« dargestellt haben. Der einsame, jede Schuld von sich weisende Münch wurde weder im polnischen noch im deutschen Auschwitz-Prozeß abgeurteilt. Hier zuzuhören, ergibt einen exzellent peinigenden Theaterabend, der schwer zu vergessen ist. Nächstes Mal: 17. Dezember.
Richard Herding


Eine notwendige Streitschrift
Es kann einem schon der Kragen platzen, nimmt man zur Kenntnis oder gar unter die Lupe, was seit Jahr und Tag an Un- und Halbwahrheiten über die DDR verbreitet wird, getreu der Order, den verschwundenen, aber unvergessenen Staat zu delegitimieren. Es gibt wohl kaum etwas Schauriges, das die Geschichten- und Legendenverbreiter nicht schon als »aufgearbeitet«, so ihr eigener Sprachgebrauch, unter die Leute gebracht haben.

Dem Verfasser des Textes, über den hier berichtet werden soll, ging solches bereits vor drei Jahren beim Besuch einer Ausstellung mit dem provozierenden Titel »Das hat’s in der DDR nicht gegeben – Antisemitismus in der DDR« gegen den Strich. Diese Schau wandert seither von Stadt zu Stadt und versucht die wider besseres Wissen in die Welt gesetzte Behauptung zu beweisen, der »Unrechtsstaat DDR« sei auch ein Staat des Antisemitismus gewesen. Kurt Pätzold bezeichnete sie 2007 als einen »Teil der anhaltenden Propaganda, deren Ziel die Verteufelung der DDR ist«. Drei Jahre danach meint er nun, es sei eine »weitere Stufe dieser Propagandarakete gezündet« worden. Dazu veranlaßt sah er sich jüngst durch den zu dieser Ausstellung erschienenen Begleitband.

In der sachlich-kritischen Auseinandersetzung mit den sechs Aufsätzen der neuen Publikation schlägt er einen scharfen Ton an, was völlig verständlich, ja angesichts der veröffentlichten Banalitäten, Mißdeutungen und Bösartigkeiten nahezu selbstverständlich ist. Scharf ist auch sein Blick für sachliche und sprachliche Fehler. Zu diesen zählt er die üblich gewordene Verwendung des unzulänglichen Begriffes »Aufarbeitung«; nach seiner Auffassung sollte eher von »Durcharbeitung« gesprochen werden.

Die Liste seiner begründeten und fundierten Vorwürfe ist lang: Bisher in der Wissenschaft Gefundenes passe nicht in den Kram jener Autoren, die absichtsvoll vergessen, was in den frühen 1990er Jahren repräsentative Umfrageergebnisse belegt haben: Auf dem einstigen Gebiet der DDR waren vier Prozent, in der BRD hingegen 16 Prozent der Befragten antisemitisch zuzuordnen.

Pätzold führt zahlreiche politik- und kulturhistorische sowie biografiegeschichtliche Fakten an, die jeder für sich eindeutig gegen bevorzugt verwendete Klischees und Stereotype sprechen. Mit dem Hinweis auf die Publikationen von Renate Kirchner und Detlef Joseph bietet er den Lesern seiner Streitschrift weitere Möglichkeiten, sich kundig zu machen und sich dem Einfluß verlogener Propaganda zu entziehen. Daß die Autoren des Begleitbandes solche Arbeiten schlicht ignorieren, sollte nachdenklich machen, schreibt Pätzold. Indessen wird wohl auch seine neue Schrift den künftigen Ausstellungsbesuchern vorenthalten werden …

Gründlich belegt Pätzold zudem, daß zumindest zwei Autorinnen es besser gewußt haben – darunter die an der Berliner Humboldt-Universität ausgebildete und promovierte Historikerin Annette Leo, die jetzt folgenden Satz zu Papier bringt: »Wir finden es äußerst problematisch, daß sich bisher nur der Westen Deutschlands leidlich einer Auseinandersetzung mit Holocaust und Antisemitismus gestellt hat, im Osten jedoch eher großes Schweigen darüber herrschte.« Da bleibt jedem, der auch nur einigermaßen zeitgeschichtlich bewandert ist, lediglich – vornehm formuliert – das Staunen ob solcher »Wissenschaftlichkeit« im Umgang mit der Geschichte. Lakonisch schreibt Pätzold hierzu: »Wo Emotionen den Verstand regieren, ist die objektive Analyse verabschiedet.«

Wer mehr zu den Mutmaßungen und Spekulationen über die als antisemitisch beschimpfte DDR erfahren will, der greife zur vorliegenden Publikation. Im Interesse historischer Wahrheit ist ihr eine große Verbreitung zu wünsche
Manfred Weißbecker
Kurt Pätzold: »Die Mär vom Antisemitismus«, edition ost im Verlag Das Neue Berlin, 96 Seiten, 5.95 €


Die Kirche gegen den Staat

»Die Veränderungen von 1989 in der DDR und Polen wären ohne die Kirchen nicht zustande gekommen.« Festgestellt hat das einer, der es wissen muß: der evangelische Bischof und langjährige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber.

Nachzulesen ist diese Würdigung der Rolle der Kirche an der »friedlichen Revolution« im Osten Deutschlands in dem bemerkenswerten Buch »Unter dem Dach der Kirche. ›Bürgerrechtler in der DDR‹« von Horst Schneider. Der emeritierte Dresdner Professor für allgemeine Geschichte der neuesten Zeit erinnert auch an andere Zeitzeugen, unter anderem an den Altbundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der in seinem Buch »Der Weg in die Einheit« festhielt: »Für uns im Westen, die wir die innerkirchlichen Verbindungen brauchten und suchten, blieben die Kirchen in der DDR von unersetzlichem Wert.«

Wie wertvoll manche (nicht alle) Kirchenleute für den »Weg in die Einheit« waren, zeigt Horst Schneider am Beispiel von 20 prominenten »Bürgerrechtlern«, darunter Horst Eggert, Christian Führer, Joachim Gauck, Steffen Heitmann, Markus Meckel, Richard Schröder, von denen der weitaus größte Teil Pfarrer oder zumindest Vikare waren. Der Buchautor stellt sie dem Leser vor – mit betont sachlich gehaltenen Biographien, kritischen Anmerkungen und aufschlußreichen Originalzitaten. Eines davon ist der Wortlaut eines Schreibens von Rainer Eppelmann, der darin auf ein briefliche Erinnerung an seine Lieblingslosung »Schwerter zu Pflugscharen« antwortet. Der mittlerweile zum Chef der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur aufgestiegene Eppelmann teilt mit, daß er »nach der Wiedervereinigung Deutschlands viel dazugelernt« habe und »heute viele Dinge anders« sehe. Er stellt fest, daß die Zeit noch nicht reif dafür sei, Schwerter zu Pflugscharen zu machen, und führt dazu zahlreiche, auch putzige Argumente an. Dazu gehört seine Erkenntnis, daß »die Bundeswehr auch ein Wirtschaftsfaktor (ist) und ihre Abschaffung ... viele Arbeitsplätze kosten« würde. So erfährt man aus diesem Buch einiges mehr, über die, die »unter dem Dach der Kirche« halfen, das Fundament der DDR zu untergraben.
Ralph Hartmann
Horst Schneider: »Unter dem Dach der Kirche. ›Bürgerrechtler in der DDR‹«, Verlag Wiljo Heinen, 174 Seiten, 6 €


Max Watts (1929–2010)
Vor einigen Jahren las ein betagter, doch sehr aktiver Mann in Sydney Erinnerungen von einem, der lange vorher aus der US Army desertiert war. Das interessierte ihn sehr, weil er einmal im Zentrum des Widerstands von US-Soldaten gegen den Vietnamkrieg gestanden, Deserteuren geholfen, aber mehr noch jenen GIs beigestanden hatte, die in Uniform aufmuckten und in den USA und Europa mehr als 400 Anti-Armee-Zeitungen herausgaben. Aber auf einmal las er in dem Buch (der Autor war ich) etwas über meinen Schwarm Nina, die feurige Kleine, die ursprünglich aus Berlin stammte und 1944 unsere linke Jugendgruppe in New York leitete. Mein Gott, für Nina hatte auch er geschwärmt, genau so erfolglos.

Max schrieb mir, und wir wurden trotz der Entfernung gute Freunde, übrigens auch mit Nina in Vermont.

Geboren in Wien, war er 1938 nach Paris geflüchtet, weiter nach England und dann nach New York, wo ich (und Nina) ihn kennenlernten. Er studierte, fuhr per Motorrad durchs Land, wollte aber partout nicht in Korea kämpfen. Also reiste er nach Israel, wofür er keinen Paß brauchte. Dann sollte er dort in die Armee eingezogen werden. Aber für das Schießen auf angebliche Feinde war er niemals und nirgends zu gewinnen, also ging er wieder nach Paris, wo er Geophysiker wurde, um später in Algerien und auch in Kuba nach unterirdischen Schätzen zu suchen. Als nun der Krieg in Vietnam aufloderte, engagierte sich Max führend in der Bewegung der Widerständler und traf dabei auf Menschen wie Jean-Paul Sartre, Vanessa Redgrave, Jane Fonda. Er blieb immer ein Linker, ja, er sah sich seit seiner Jugend immer als Kommunist – wenn auch ein eigenwilliger, trotziger, wie es seinem fröhlich-widerspenstigen Charakter entsprach.

Die Behörden in Paris verbannten ihn nach Korsika; er entkam, versteckt auf einem Segelboot, und gelangte nach Heidelberg, in die Nähe des europäischen Hauptquartiers der US Army, mit der er sich weiter auseinandersetzte; es gelang ihm, ihr manches Schnippchen zu schlagen. Schließlich landete er in den 1970er Jahren in Sydney und setzte sich fortan besonders für die hart gegen Ausbeutung kämpfenden Menschen in Papua-Neuguinea und im Südpazifik ein. Das war auch sein Hauptthema in Ossietzky.

Nun aber werde ich, wird Ossietzky und werden viele Menschen in aller Welt keine eigenartigen E-Mails mehr bekommen, in denen er seine Antwortzeilen in Großbuchstaben zwischen unsere eigenen zwängte. Und nachts, wenn in Australien Tag ist, keine langen witzigen Telefonplaudereien mehr.

Am 23. November, umringt von vielen alten Freundinnen, von denen er schon immer schwer eine einzige wählen konnte, hörte sein sonst so kämpferisches Herz auf zu schlagen.
Victor Grossman


Anatole France
Vor 100 Jahren schreckte das literarische und auch das politische Frankreich auf. Der berühmte Schriftsteller Anatole France bekannte sich öffentlich in einem kämpferischen Artikel zum Sozialismus. Er sah und sagte voraus, daß es einen jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertelangen Kampf zwischen Arbeit und Kapital geben werde, in dem die Arbeiterschaft manche schwere, aber auch selbstverschuldete Niederlage erleiden werde. Aber seien die Sozialisten nach den Niederlagen auch noch so geschwächt und die Herrschenden fast übermächtig, und dauere der Klassenkampf auch noch so lange, die Idee des Sozialismus könne nicht zerstört werden.

Anatole France prophezeite »blutige Massaker der Herrschenden an den Schwachen«. Die Kämpfer für eine bessere Welt würden – auch wegen ihrer Gespaltenheit, ihrer Uneinigkeit in Fragen der Taktik – viele Opfer zu bringen haben. Doch zugleich verhieß er: »Oh ihr Generationen der Zukunft. Ihr Kinder der Tage, die da kommen werden. Ihr werdet kämpfen. Und wenn Rückschläge euch am Erfolg eurer Sache zweifeln lassen, werdet ihr wieder Mut fassen.« Und er zitierte den großen US-amerikanischen Autor Jack London, einen entschiedenen Sozialisten: »Für diesmal verloren, aber nicht für immer. Wir haben viel gelernt. Morgen wird unsere Sache, stärker in Wissen und Zucht, neu entstehen.«

Anatole France, war kein Träumer, er war vielmehr davon überzeugt, daß am Ende der Sozialismus siegen werde, sollten die Kämpfe zwischen triumphierendem Kapital und einfacher Arbeiterschaft auch noch viele Jahre dauern. Selbst aus Trümmern werde sich der Sozialismus neu bilden.

Der Dichter war 1844 in einem gutbürgerlichen Haushalt geboren worden und aufgewachsen. Er neigte anfänglich den Bürgerlich-Liberalen zu. Dies zeigen viele seiner Romane, die ihm bald Ruhm einbrachten. So schildert sein bis heute bekanntester Roman »Les Dieux ont soif« an Szenen aus der französischen Revolution die Zwecklosigkeit und zerstörende Wirkung von politischem Fanatismus. Doch angesichts der Hungersnot vieler seiner Landsleute, der furchtbaren Wirklichkeit in den Kohle-, Erz- und Kaligruben, den Stahlwerken, Webereien, des Elends der Tagelöhner auf dem Lande rückte er bald mehr und mehr von seiner herrschenden Klasse ab und wandte sich den Linken zu. Seine Standes- und ehemaligen Klassengenossen befehdeten ihn und schlossen ihn aus ihrer Gesellschaft aus. Das störte ihn nicht. Seine Werke waren weiter erfolgreich, und er blieb als wirklicher Poet anerkannt, auch bei den bürgerlich-liberalen Literaten und den konservativen Lesern. Und obwohl er inzwischen offen Vorkämpfer des Sozialismus geworden war, freute sich Frankreich über den ihm 1924 verliehenen Nobelpreis für sein Gesamtwerk. Auch in Zeitungsartikeln und in Reden prangerte er die gesellschaftlichen Verhältnisse an. Die härteste Anklage aber erschien vor 100 Jahren in seiner Einleitung zu Jack Londons Roman »Die Eiserne Ferse«, über dessen klare politische Haltung Feuilletonisten und Literaturwissenschaftler auch heute noch sprachlos hinweggehen. Anatole France begründete seinen Weg weg von Monarchisten, Plutokraten und Militaristen mit den Worten, er selbst würde die Morde und Grausamkeiten, die die herrschende Klasse begangen hat, begeht und begehen wird, nicht für möglich halten, »ständen mir nicht jene Junitage des Jahres 1871 mit der Unterdrückung der Kommune vor Augen und erinnerten mich daran, daß gegen die Armen alles erlaubt ist«.

In den inzwischen vergangenen 100 Jahren haben sich seine und Jack Londons Vorhersagen, zu welchen Verbrechen das Kapital fähig ist, wieder und wieder bestätigt. Es wird auch in Zukunft, um seine Herrschaft zu sichern und maximale Profite zu erzielen, vor Massenmord nicht zurückschrecken. Es wäre gefährlich naiv, ihm das nicht mehr zuzutrauen. Aber der Gedanke an Gleichheit und Würde der Menschen – auch das haben die hundert Jahre bestätigt – lebt weiter.
Werner René Schwab


Dr. med. Else Weil-Tucholsky

»Ihr Deutsch war ein wenig aus der Art geschlagen. Sie hatte sich da eine Sprache zurechtgemacht, die im Prinzip an das Idiom erinnerte, in dem kleine Kinder ihre ersten lautlichen Verbindungen mit der Außenwelt herzustellen suchen; sie wirbelte die Worte so lange herum, bis sie halb unkenntlich geworden waren, ließ hier ein ›T‹ aus, fügte da ein ›S‹ ein, vertauschte alle Artikel, und man wußte nie, ob es ihr beliebte, sich über die Unzulänglichkeit einer Phrase oder über die andern lustig zu machen. Daß sie Medizinerin war, wie sie zu sein vorgab, war kaum glaubhaft, jedoch mit der Wahrheit übereinstimmend.«

So charakterisierte Kurt Tucholsky Claire, die Hauptfigur in seinem ersten großen Erfolg »Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte«. Die junge Frau war ebenso wenig erfunden wie der Ausflug des jungen verliebten Paares von Berlin nach Rheinsberg. Im kommenden Sommer ist es 100 Jahre her, daß der Jurastudent Kurt Tucholsky mit der Medizinstudentin Else Weil ein Liebeswochenende in Rheinsberg verlebte. Dort, wo sie im Ratskeller wohnten, wurde vor ein paar Tagen eine Erinnerungstafel enthüllt. Und mehr noch: Im Tucholsky-Literaturmuseum Schloß Rheinsberg erinnert eine sehenswerte Ausstellung an Else Weil (1889–1942), Tucholskys heute zu Unrecht vergessene erste Ehefrau.

Else Weil war eine emanzipierte Frau. Sie gehörte zu einer verschwindend geringen Zahl, die im Weltkrieg Medizin studierten und approbiert wurden. Die engagierte Ärztin veröffentlichte auf ihrem Fachgebiet auch in der Weltbühne. Der als Jüdin Verfolgten gelang es nicht, der Vernichtungsmaschinerie der Nazis zu entgehen. Deshalb sind Erinnerungsstücke an ihr Leben heute so rar, und deshalb ist es um so verdienstvoller, daß die junge Wissenschaftlerin Alexandra Brach (auf die Arbeit von Peter Böthig und Sunhild Pflug aufbauend) so viele erstaunliche Dokumente über Else Weil und ihre Familie zusammentragen konnte. Einige davon sind Geschenke der in London lebenden Nichte Gabriele Weil. Dazu gehört auch ein äußerst seltenes Exemplar der Naturalisierungsurkunde von Else Weils Großvater Carl, der damit 1845 in Potsdam in den »Preußischen Untertanen-Verband« aufgenommen wurde. Ein weiteres Prunkstück der Ausstellung ist das Widmungsexemplar der »Rheinsberg«-Erstausgabe, in das Tucho seiner »Claire« ein Gedicht schrieb. Schwerer als der Schauwert wiegt aber in dieser Ausstellung das Gefühl, einer außergewöhnlichen Frau nahezukommen.
F.-B. Habel
»Else Weil – Fragmente eines deutsch-jüdischen Lebensweges«, Kurt Tucholsky-Literaturmuseum Schloß Rheinsberg, bis 13. Februar täglich außer montags


Ferdinand May
Viele ältere Leipziger, die in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im kulturellen Leben ihrer Stadt zu Hause waren, haben ihn mit Sicherheit heute noch vor Augen, den Schriftsteller und Chefdramaturgen Ferdinand May. Begegnungen mit ihm waren stets besondere Erlebnisse. Ich erinnere mich an seine Einführungen in Schauspiel- und Operninszenierungen, an Rezitationsabende (oft mit seiner Frau, der Schauspielerin Käte May), nicht zuletzt an die Präsentation seiner eigenen Bücher auf »Schriftstellerbasaren«, wie damals die persönlichen Begegnungen der Autoren mit ihren Lesern genannt wurden. Ferdinand May war in jenen Jahren eine Instanz. Auf seine Stimme wurde gehört, sein Rat war gefragt. Von Ossietzky-Autor Harald Kretzschmar stammt eine Karikatur, die May vor einer Bühne und mit einem Buch in der Hand zeigt. Bühne und Buch – das war die Welt des Ferdinand May. Dabei hatte er, der so klug und einfühlsam über Schiller und Büchner, Mozart und Verdi sprechen konnte, nie eine Universität besucht. Er war Autodidakt im besten Sinne des Wortes: ein Mann, der sich sein enormes historisches Wissen mit großem Fleiß selbst erarbeitet hatte.

»Ferdi«, wie ihn seine Freunde nannten, stammte aus dem Hessischen, wo er 1896 in Pfungstadt in einfachen Verhältnissen geboren wurde. Er stand der Wandervogelbewegung nahe, wurde durch das Kriegserlebnis zum Pazifisten, schließlich SPD-Mitglied. In Oberhessen gründete er ein Heim für verwahrloste Kinder und Jugendliche. In Wetzlar engagierte er sich als Stadtverordneter für die Ärmsten der Armen, was ihm zur Zeit des Kapp-Putschs, wie er berichtete, eine Festnahme durch die Reichswehr einbrachte. Über allem aber stand seine Leidenschaft fürs Theater, dem er sich in unterschiedlichen Funktionen – so als Geschäftsführer eines »Kollektivs Junger Schauspieler« in Leipzig – widmete. Als er 1951 zum Chefdramaturgen der Städtischen Theater berufen wurde, erfüllte sich für ihn ein Lebenstraum. Neben dem Schauspielhaus und den Kammerspielen in der Gottschedstraße gehörten auch Oper und Operette sowie das »Theater der jungen Welt« (ein Kindertheater nach sowjetischem Vorbild) zu seinem Verantwortungsbereich. Der Spielplan, den er mit den Intendanten Max Burghardt und später Johannes Arpe zu verantworten hatte, war von beeindruckender Vielfalt. Unter den skeptischen Augen Johannes R. Bechers kam es in Leipzig zur deutschen Erstaufführung von Bechers Drama »Winterschlacht«. Aufsehen erregten Aufführungen von Sartres »Ehrbarer Dirne«, von Jean Anouilhs »Jeanne oder Die Lerche« und von Dramen Friedrich Wolfs.

Seine Uraufführungen setzten Akzente: Alan Bushs Oper »Wat Tyler«, Hedda Zinners Schauspiel um den Reichstagsbrandprozeß »Der Teufelskreis« und besonders Romain Rollands »Robespierre«. Rollands letztes Drama stellte an das Leipziger Ensemble große Anforderungen, waren doch nicht weniger als 40 Rollen zu besetzen und 24 Bühnenbilder zu gestalten – und die Leipziger Schauspielbühne war damals relativ klein. Daß die Premiere am 8. Februar 1952 unter der Regie von Arthur Jopp mit Martin Flörchinger, Maria Wendt, Manfred Zetzsche und Fred Delmare ein großer, international beachteter Erfolg wurde, war nicht zuletzt Mays Verdienst.

In dieser Zeit wurde er auch mit ersten eigenen schriftstellerischen Arbeiten bekannt. Die Französische Revolution, die ihn seit seiner Jugend immer wieder gefesselt hatte, fand im Drama »Der Aufstand des Babeuf« Gestaltung, dem bald ein Roman folgte, in dem Zeit und Person dieses utopischen Kommunisten differenzierter gestaltet waren. In den Romanen »Ein Drechslergeselle namens Bebel« und »Der Freund der Sansculotten« über Jean Paul Marat versuchte er sich an Stoffen, die schon damals – auch in der DDR – in Vergessenheit zu fallen drohten.

May war ein durch und durch politischer Künstler, ein Antifaschist und Sozialist, der aus seiner Einstellung keinen Hehl machte. Seine Memoiren »Die bösen und die guten Dinge«, die erst nach seinem Tod 1977 erschienen, enthalten auch interessante Details zur Entwicklung Gisela Mays, der Tochter, die unter dem kritischen Blick des Vaters zu einer der besten Brecht-Interpretinnen reifte.
Dieter Götze


Press-Kohl
»Baumeister Karl Friedrich Schinkel«, wußte der Berliner Kurier zu berichten, »wurde 1869 von Friedrich Drake mit Skizzenbuch und Stift in Bronze gegossen.« – Diese Methode des Bronzegusses hat sich wegen ihrer komplizierten Technik später nicht durchsetzen können.
Felix Mantel