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Titel2411

Ach Franz, lieber Karratsch  (Klaus Nilius)

… nun hast Du Dich also davon gemacht, still und leise und wenige Wochen vor Deinem 80. Geburtstag, und hast, als diese endgültige Wende schließlich zu Dir kam, die schwarze Tür geöffnet.

Fast 50 Jahre ist es her, daß unsere Wege sich zu nähern begannen, bis sie sich schließlich kreuzten. Du arbeitest seit 1961 als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Europäisches Recht der Universität des Saarlandes, ich unternahm 1963 meine ersten journalistischen Gehversuche in der rheinland-pfälzischen Nachbarschaft, »in der Musterkolonie des Imperialismus«, wie Du später in »Ausdiskutiert« schreiben wirst.

Aus dem Republikanischen Club Saarbrücken drang aufmüpfige Kunde in unsere biedere Provinz. Auf den Schallplattentellern drehten sich die »Baenkel-Songs« Deiner ersten LP (1963). Einige davon trugst Du 1964 beim ersten Burg-Waldeck-Festival vor. Es war das Gründungsjahr der NPD, und August der Schäfer hat Wölfe gehört, mitten im Mai, mehr als zwei. Und keiner glaubte ihm. 1965 erscheint Deine zweite LP mit den beiden »Hits«, auf die in diesen Tagen die meisten Nachruf- und Meldungsschreiber Dich zu reduzieren versuchen: »Spiel nicht mit den Schmuddelkindern« und »Deutscher Sonntag«. In diesem Jahr 1965 beginnen die USA ihren Bombenkrieg gegen Nord-Vietnam.

Ostermarsch 1966: Wir in Rheinland-Pfalz organisieren unsere Sternmärsche. Joan Baez kommt aus den kriegsführenden USA zur zentralen Kundgebung, singt »We shall overcome«. Rudi Dutschke tritt auf den Plan. Mit ihm die APO. Du promovierst und veröffentlichst Deine dritte LP mit einem Titel, der zu einem Deiner lebenslangen Beinamen werden sollte: »Väterchen Franz«. Und mit »Horsti Schmandhoff«, diesem »Wende-Virtuosen, Zeitgeist-Stenz und Image-Wechsler« (F.J.D.), wie sie dann durch die Jahre unter vielen Namen immer wieder auftreten. Aber auch mit »Tonio Schiavo« aus dem Mezzogiorno, einem der ersten Immigranten, die damals Gastarbeiter genannt wurden. Der Polier auf der Baustelle in Herne schimpft ihn »Itaker-Sau«. Was für beide nicht gut ausgeht.

Der Wind hat sich gedreht im Lande und nicht nur da. Die Vorläuferzeit der »68er« beginnt. Kiesinger, der NS-Belastete, ist Bundeskanzler. In Frankfurt sind die Auschwitz-Prozesse zu Ende gegangen. In Griechenland putscht 1967 mit ausländischer Hilfe das Militär, Du schreibst Dein Lied »Für Mikis Theodorakis«. Benno Ohnesorg wird beim Schah-Besuch erschossen. Du singst gegen die Zeitungshetze an: »Da habt ihr es, das Argument der Straße…« (Aus: »2. Juni 1967«). Dann, 1968, das Attentat auf Rudi Dutschke, und Dein »Ostermarschlied« weiß: »Die Hintermänner kennt doch jedes Kind.« Notstandsgesetze mit großen Demonstrationen. Einmarsch von Warschauer Paktstaaten in Prag.

Du verzichtest auf eine mögliche Habilitation, gibst die Universitätslaufbahn auf, gehst nach Hamburg, trittst in das Rechtsanwaltsbüro von Kurt Groenewold ein, stehst als Verteidiger der damaligen Protest- und Antivietnamkriegsbewegung zur Seite.

Es sind bewegte Zeiten und Jahre, die folgen. Du kommentierst die nationalen und internationalen Kämpfe und Manifestationen der Zeit mit Deinen Liedern und Texten, trägst sie auf Songtagen, Solidaritätsveranstaltungen, Konzerten der Friedensbewegung, UZ-Pressefesten, dem DDR-Festival des politischen Liedes vor, gibst mit ihnen »Antworten auf die Widersprüche des Systems« (Thomas Rothschild zu Deinem 75.), erhältst Preise und Auszeichnungen, zuletzt 2008, engagierst Dich in der vormaligen Industriegewerkschaft Druck und Papier, wir begegnen uns als Gewerkschafter, schreibst Deinen ersten Roman »Zündschnüre«, der ebenso wie später »Brandstellen« verfilmt wird.

Und schaffst mit Rudi Schulte, Natascha Speckenbach, Mutter Mathilde, Tante Th’rese, dem Pastor Klaus, den Edelweißpiraten, mit Joß Fritz und PT aus Arizona, einem meiner Lieblinge, nicht nur wegen der Pfalz, Symbolfiguren für Leiden und Solidarität.

Als Du 1971 in Schleswig-Holstein zur Wahl der DKP aufriefst, Deiner späteren politischen Heimat bis zum Tod, trifft Dich der Unvereinbarkeitsbeschluß der SPD. Ausschluß nach zehn Jahren Mitgliedschaft.

Als 1972 Deine »Befragung eines Kriegsdienstverweigerers« in der WDR-Hitparade den ersten Platz belegt, ist das öffentlich-rechtliche Rundfunkimperium päpstlicher als der Papst und nimmt ab sofort Deine neuen Lieder und die Tourneen so gut wie nicht wahr. Obwohl Du noch bis 2004 die Säle füllst, Generationen überspannend. (Daher hatten diese Medien jetzt, als sie Dir einige Sendeminuten in Bild und Ton widmen wollten, immerhin, große Mühe bei ihrer Suche nach Material. An ihnen war vorbeigegangen, daß Du in »West- wie Ostdeutschland als einer der wichtigsten Künstler linker Kultur rezipiert« worden warst (junge Welt).

In seiner Laudatio zur Verleihung des Kulturpreises des Kreises Pinneberg (bei Hamburg) sagte der Musiker Gerhard Folkerts vor zehn Jahren: »Bis zum heutigen Tag hat Franz Josef Degenhardt sich unheilvollen Entwicklungen nicht entzogen, hat mit seiner radikalen Ehrlichkeit Stellung genommen. Die Ursachen von Kriegen, Unterdrückung, Arbeitslosigkeit, Armut und Not genannt… (Seine) Lieder sind die Summe geschichtlicher oder zeitgenössischer Ereignisse, in denen wir uns wieder erkennen. Seine Lieder gehören zu den allgemeinen Fragestellungen von Menschen, die um ihr Leben und ihre Freiheit kämpfen.«

Ja, Franz, lieber Karratsch, so vieles könnte ich noch von Dir erzählen. Und von uns beiden. In Hamburg gingen wir Anfang der 1970er Jahre nebeneinander auf einer der vielen Demos, unsere Wege hatten sich wieder gekreuzt, und wir verloren uns seitdem nicht mehr aus den Augen, wurden Kumpane.

Auf der CD »Dreizehnbogen«, die ich im Juli 2008 in Ossietzky vorstellte, führt der Weg der Letzten vom Gonsbachtal in einem Nachen »Den Fluß hinunter«: »Sie fahren, und irgendwo mündet der Fluß in die grenzenlosen Fluten«. Was ich damals nicht wußte: Es war der Acheron.

Konzert 80 Jahre Franz Josef Degenhardt 19.12.2011, Berliner Ensemble, mit: Konstantin Wecker, Hannes Wader, Frank Viehweg, Wiglaf Droste, Danny Dziuk, Frank Spilker (Die Sterne), Barbara Thalheim, Joana, Dota Kehr – Die Kleingeldprinzessin, Daniel Kahn (The Painted Birds), Kai Degenhardt und Götz Steeger, Jan Degenhardt, Prinz Chaos II., Götz Widmann. Moderation: Konstantin Wecker, Prinz Chaos II. Veranstaltet von junge Welt, Berliner Ensemble und melodie & rhythmus. – Im Kulturmaschinen-Verlag, Berlin, erscheint eine Werksausgabe der belletristischen Arbeiten zum ersten Mal als geschlossene Reihe. Der Verlag kündigt auf seiner Homepage eine Gedenkveranstaltung an, Titel: »Komm‘ an den Tisch unter Pflaumenbäumen – Ein Tribut«, 3.12.2011, 19–23 Uhr, Ort: Ladengalerie der jungen Welt. – Bei »Universal« soll am 2.12. die Box »Gehen unsere Träume durch mein Lied« (ausgewählte Lieder 1963 bis 2008) mit vier CDs erscheinen.