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Mord am Nachtzug-Express  (Winfried Wolf)

Am 7. Oktober veranstalteten die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) und die Deutsche Bahn AG eine gemeinsame Pressekonferenz zum Thema »Nachtzugverkehr«. Symbolträchtiger Ort der Veranstaltung: die Berliner Botschaft der Republik Österreich. Bezeichnend auch, dass die Österreicher ihren Bahnchef sandten, die Deutsche Bahn AG ihre Nummer drei. Für aufmerksame Beobachter wurde bei dieser Gelegenheit das Top-Management der Deutschen Bahn als ignorant, unfähig und demagogisch vorgeführt. Das Alpenland dagegen hatte einen bahnsinnig guten Auftritt.

 

Vor allem war das Event gespenstisch widersprüchlich. Der Bahnchef aus dem Nachbarland, Andreas Matthä, präsentierte selbstbewusst und am Ende fast bahnbrechend optimistisch die ÖBB-Nachtzug-Strategie. Man werde ab dem Fahrplanwechsel am 11. Dezember 2016 das eigene Nachtreisezugangebot massiv ausweiten. Um bis zu 50 Prozent. Dabei übernehme man rund die Hälfte der bisher von der Deutschen Bahn betriebenen Nachtzugverbindungen.

 

Zum gleichen Zeitpunkt stellt die Deutsche Bahn AG den gesamten Nachtzugverkehr ein. Sie gibt damit eine Sparte im Eisenbahnverkehr auf, die eine 134-jährige Tradition aufweist: Am 11. Oktober 1882 verkehrte ein erster Zug mit Schlaf- und Speisewagen der Compagnie Internationale de Wagon-Lits (CIWL) zwischen Paris und Wien; am 5. Juni 1883 fuhr bereits der erste, ebenfalls von CIWL gestellte Orient-Express von Paris nach Konstantinopel.

 

Der österreichische Chef-Bahner machte deutlich, dass sich das Nachtzug-Business auch heute noch »gut rechnet«. Bereits jetzt liege der Anteil des Nachtzugverkehrs am gesamten Umsatz des ÖBB-Fernverkehrs bei rund 17 Prozent. Als Ergebnis der Expansion, zu der es ab Dezember 2016 kommt, könnte dieser Nachtzuganteil am Fernverkehrsumsatz auf gut 25 Prozent steigen.

 

Demgegenüber behauptete auf der Pressekonferenz Berthold Huber, der für den Reiseverkehr und bislang auch für den Nachtzugverkehr der Deutschen Bahn AG verantwortliche Bahnvorstand, die DB AG fahre im Nachtzugsegment seit vielen Jahren »massive Verluste« ein.

 

Die ÖBB übernimmt von der Deutschen Bahn AG Mitte Dezember 15 Liegewagen und alle 42 Schlafwagen. Sie investiert eine vergleichsweise bescheidene Summe von 40 Millionen Euro, unter anderem um die Schlaf- und Liegewagen attraktiver zu gestalten und sie dann in neuem Design als »Nightjet« verkehren zu lassen.

 

Demgegenüber erklärte ein Deutsche-Bahn-Vorstand anlässlich einer Anhörung zum Thema Nachtzugverkehr im Deutschen Bundestag im Januar 2015, die Deutsche Bahn verfüge nur noch über ein »deutlich überaltertes Wagenmaterial im Nachtzugbereich«. Im Juni 2016 war Berthold Huber Gast im Verkehrsausschuss des Bundestags. Dort erklärte er auf Anfrage, die erforderlichen Investitionen, um das Nachtzuggeschäft der DB AG erfolgversprechend zu betreiben, seien »unverantwortlich hoch«.

 

Tatsächlich liegen die Löhne, die der Nachtzugbetreiber Newrest Wagon-Lits Austria GmbH, eine Firma, die als ÖBB-Subunternehmer agiert, dem »Nightjet«-Personal bezahlt, um skandalöse 25 bis 30 Prozent unter den Löhnen, die bisher in deutschen Nachtreisezügen bezahlt werden. Sie liegen möglicherweise sogar unter dem deutschen Mindestlohn.

 

Damit allein lässt sich allerdings die Diskrepanz zwischen der ÖBB-Nachtzug-Offensive und dem DB-AG-Nachtzugmord nicht erklären. Der Lohnkostenanteil an den Betriebskosten der Züge macht nur rund zehn Prozent aus. Erklären lässt sich damit allerdings, warum die Deutsche Bahn AG die noch rund 350 Beschäftigten bei ihrer Nachtzugtochter ERS ohne akzeptable Arbeitsplatzperspektive lässt. Erklären lässt sich damit auch, warum die ÖBB dieses ausgebildete, hoch motivierte Personal nicht übernimmt – bei Garantie des gegebenen Einkommensniveaus. Wenn nun ÖBB-Chef Matthä davon spricht, das ÖBB-Nachtzugpersonal werde die Nachtzuggäste ausgesprochen bevorzugt behandeln, hinterlässt dies einen bitteren Nachgeschmack: Mieser Lohn und Buckeln bei den Fahrgästen versprechen eine gewisse Aufstockung des unzureichenden Lohns durch Trinkgeld. Klingt wie k. u. k.

 

Ausgesprochen verwirrend wird die Angelegenheit, wenn man weiß: Die Deutsche Bahn AG wird die Trassenpreise speziell für Nachtzüge bald deutlich senken. Die entsprechenden bahninternen Unterlagen für das Trassenpreis-System liegen mir vor. Doch diese niedrigeren Nachtzug-Trassentarife treten erst ab dem 1. Januar 2018 in Kraft – 12,5 Monate nach dem Mord am Patienten Nachtzug-Express.

 

Nun machen diese Kosten, die für die Nutzung der Schienentrassen von den Eisenbahnverkehrsunternehmen zu bezahlen sind, bis zu 40 Prozent der betriebswirtschaftlichen Kosten der Nachtzüge aus. Und es war immer wieder die unverhältnismäßig hohe Trassen-Maut, die bei den Nachtzug-Debatten von den Verteidigern der Nachtzüge kritisiert und deren Senkung gefordert wurde. Würde man die geplante Reduzierung der Trassenmaut um ein Jahr vorziehen, dann stünden die Nachtzüge der Deutschen Bahn AG auch auf Basis der manipulierten und fragwürdigen Fahrgastzahlen, die die Deutsche Bahn AG präsentiert, bereits wesentlich besser da. Nach den Fahrgastzahlen, die den ERS-Belegschaftsvertretern vorliegen, würden die Nachtzüge damit auch gewinnbringend betrieben. Schließlich konnte im Detail belegt werden: Es gibt, trotz der erheblichen, unverantwortlichen Verschlechterung des Angebots im Nachtzugverkehr, zu der es bei der Deutschen Bahn AG in den vergangenen fünf Jahren gab, keinen Rückgang der Fahrgastzahlen.

 

Die Preisfrage lautet somit: Warum stellt die Deutsche Bahn AG dann den Nachtzugverkehr zum Fahrplanwechsel Mitte Dezember komplett ein? Warum senkt sie die Trassenpreise genau dann, wenn es keine deutschen klassischen Nachtzüge mehr gibt? Warum soll diese Begünstigung für die ÖBB-Nachtzüge im deutschen Schienennetz gelten, während sie den DB-AG-ERS-Zügen vorenthalten wurde?

 

All diese Fragen wurden am Rande der erwähnten Pressekonferenz am 7. Oktober immer wieder den Beschäftigtenvertretern der betroffenen DB-AG-Tochter, ERS, gestellt. Deren Antwort lautet: »Unsere Chefs wollen den Nachtzugverkehr schlicht nicht.« Was ja im Januar 2015 am Rande der bereits angeführten Anhörung des Verkehrsausschusses des Bundestags zum Thema Nachtzugverkehr auch dokumentiert wurde: Der damals noch im Bahnkonzern für den Fernverkehr und damit für die Nachtzüge verantwortliche Vorstand Ulrich Homburg erklärte schlicht: »Ich bin noch nie mit einem Nachtzug gefahren.« Verblüffend bei dieser Anhörung war auch: Sechs der sieben Sachverständigen, die vor dem Verkehrsausschuss vortrugen, argumentierten: Nachtzüge haben ein erhebliches Wachstumspotential. Der siebte war entgegengesetzter Meinung. Dies war just besagter Herr Homburg, also der Vertreter des Bahnkonzerns.

 

Man sollte die Feststellung »[Die] wollen den Nachtzugverkehr schlicht nicht« ergänzen um die Feststellung: In Wirklichkeit gilt beim Thema Nachtzüge für das Top-Management der Deutschen Bahn AG der Dreiklang: offenkundiges Nichtwollen plus ersichtliches Nichtkönnen plus impertinente Demagogie.

 

Das Nichtkönnen wurde durch den Kontrast Matthä-Huber deutlich. Das Nichtwollen drängt sich als einzige nachvollziehbare Erklärung für die Politik des Vorstands der Deutschen Bahn AG auf, zumal vor dem Hintergrund der ab 2018 deutlich niedrigeren Trassenpreise für Nachtzüge. Die Demagogie wird wie folgt deutlich: Die Deutsche Bahn AG veröffentlichte am 7. Oktober anlässlich der erwähnten Pressekonferenz eine Presseerklärung mit der Überschrift: »Deutsche Bahn und Österreichische Bundesbahnen sichern attraktives Nachtreiseangebot in Deutschland«. Darin heißt es: »Die DB konzentriert sich künftig auf nachts fahrende IC- und ICE-Züge und weitet ihr Angebot in diesem Bereich aus.« Allein der Vergleich von Nachtzügen mit Schlaf- und Liegewagen mit normalen Zügen mit Sitzwagen ist grotesk. Wenn die Deutsche Bahn AG dann noch erklärt, man biete in den nachts verkehrenden IC- und ICE-Zügen Ohrenstöpsel und Kissen (zum Verkauf) an, und man werde »die Durchsagen nachts auf das Nötigste reduzieren« und sogar »teilweise das Licht dimmen«, dann wirkt das lächerlich. Die »überwölbende« Behauptung, die DB AG und die ÖBB würden das Nachtzugverkehrsangebot erhalten oder gar »ausweiten«, erinnert an George Orwells Beschreibung der Propagandasprache autoritärer Regime.

 

Nochmals: Jahr für Jahr zählt der Nachtzugverkehr der Deutschen Bahn AG rund drei Millionen Reisende; 1,5 Millionen von ihnen reisen mit reservierten Tickets in den klassischen Liege- und Schlafwagen. Weitere rund 1,5 Million in den mitgeführten Sitzwagen – ihre Zahl konnte um sagenhafte 30 Prozent gesteigert werden, seit die DB das Angebot der Nachfrage angepasst hat, die Sitzwagen nicht nur mehr morgens und abends als »Pendlerwagen«, sondern durchgehend betreibt und sie als Intercity ohne Reservierungspflicht vermarktet.

 

Die Nachtzüge der Deutschen Bahn sind überproportional gut belegt. Vielfach sind sie mehrere Wochen, bevor sie verkehren, ausgebucht. Die Österreichischen Bundesbahnen schreiben in diesem Segment deutlich schwarze Zahlen. Sie weiten ihren klassischen Nachtzugverkehr ab Mitte Dezember um sagenhafte 50 Prozent aus. Die Deutsche Bahn AG verabschiedet sich aus dem Segment mit fadenscheinigen Argumenten. Die Bundesregierung als Vertreterin des Eigentümers der Deutschen Bahn schweigt – obgleich das Grundgesetz in Artikel 87e dazu verpflichtet, die »Angebote« im Schienenverkehr am »Allgemeinwohl« und den »Verkehrsbedürfnissen« zu orientieren.

 

Während ÖBB und DB AG behaupten, es gebe eine Offensive im Nachtzugverkehr, entfallen ab dem 11. Dezember, die ÖBB-Expansion bereits berücksichtigend, die Hälfte aller Nachtzug-Angebote, die es bislang für deutsche Bahnreisende gab.

 

Winfried Wolf veröffentlichte 2014 gemeinsam mit Bernhard Knierim »Bitte umsteigen! 20 Jahre Bahnreform« (Schmetterling-Verlag, 240 Seiten, 22,90 €). Am Abend des 10. Dezember findet am Berliner Hauptbahnhof eine Demo gegen das DB-Nachtzug-Aus statt, weitere Informationen unter www.nachtzug-bleibt.eu.