erstellt mit easyCMS
Titel2417

Wacher werden  (Rüdiger Göbel)

In Deutschland leben 12,5 Millionen Menschen in Armut, im Ruhrgebiet trifft es mittlerweile jedes dritte Kind. Fast 15 Millionen Menschen »durften« bereits persönlich die entwürdigende Realität des Hartz-IV-Systems erleben. Billigjobs und prekäre Beschäftigung boomen und programmieren damit noch mehr Altersarmut in der nahen Zukunft. Von den politisch für das Verelendungsprogramm Verantwortlichen tönt es mantragleich: »Deutschland geht es so gut wie nie zuvor« (Bundeskanzlerin Angela Merkel). Die »Börse vor acht« wiederholt das Mantra börsentäglich vor der Hauptnachrichtensendung der ARD. Wer anderes sagt, wird mittlerweile in die Ecke der »Verschwörungstheoretiker« gestellt. So ist es etwa im Bundestagswahlkampf der Linke-Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht im ARD-Polittalk »Anne Will« widerfahren. Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz, berüchtigt als »Scholzomat der SPD«, konnte seine dreiste Diffamierung gleich dreimal wiederholen, ohne ernsthaftes kritisches Nachhaken der Moderatorin fürchten zu müssen.

 

Doch solch dumpfe Parolen und Einschüchterungsversuche verfangen immer weniger. Immer mehr Menschen erkennen: Eine von Konzerninteressen und Hochglanzwerbung geprägte Berichterstattung hat mit ihrer sozialen Realität nichts gemein. In Dokusoaps wie »Hartz und herzlich. Die Benz-Baracken von Mannheim« werden vom Kommerzfernsehen Hartz-IV-Familien durch den Kakao gezogen, statt die politisch Verantwortlichen mit den Folgen ihrer falschen Politik vorzuführen. Wen wundert es da, dass der Begriff »Lügenpresse« weiter Hochkonjunktur hat. Das »Edelman Trust Barometer 2017«, eine im Auftrag der größten PR-Agenturen der Welt erstellte Untersuchung, spricht von einer »weltweiten Kernschmelze des Vertrauens« der Menschen: in die Medien, in die Politik, in die parlamentarische Demokratie und das gesamte »System«.

 

Der Journalist Jens Wernicke hat mit »Lügen die Medien? Propaganda, Rudeljournalismus und der Kampf um die öffentliche Meinung« einen fulminanten Sammelband zum Thema herausgegeben. Für sein Medienkritik-Kompendium hat er mit dem »Who‘s who« des kritischen Journalismus gesprochen. Im Band versammelt sind Interviews, darunter mit dem vor einem Jahr verstorbenen Ossietzky-Herausgeber Eckart Spoo. Orientierende Frage der durchweg erhellenden Gespräche ist: »Lügen die Medien?« Wenn ja, wie machen sie das? Wenn nein, wie muss man es dann nennen, was wir tagtäglich gedruckt, gestreamt und ausgestrahlt aufgetischt bekommen?

 

Der Grandseigneur der Linguistik und linker Herrschaftskritik Noam Chomsky ist in Wernickes Aufklärungsbuch mit einem Aufsatz über den »Mythos der freien Presse« vertreten. Der US-Linguist bringt die eigentliche Aufgabe der Massenmedien prägnant auf den Punkt: Sie sollen die Menschen von Wichtigerem fernhalten. »Sollen die Leute sich mit etwas anderem beschäftigen, Hauptsache, sie stören uns nicht – wobei ›wir‹ die Leute sind, die das Heft in der Hand halten. Wenn sie sich zum Beispiel für den Profisport interessieren, ist das ganz in Ordnung. Wenn jedermann Sport oder Sexskandale oder die Prominenten und ihre Probleme unglaublich wichtig findet, ist das okay. Es ist egal, wofür die Leute sich interessieren, solange es nichts Wichtiges ist. Die wichtigen Angelegenheiten bleiben den großen Tieren vorbehalten: ›Wir‹ kümmern uns darum.«

 

Jens Wernicke sieht in der wachsenden Medienkritik und -schelte Selbstermächtigung und Bewusstwerdung der Bevölkerung. »Das, was uns als ›Krise des Vertrauens in die Medien‹ dargeboten und als Resultat des wachsenden Einflusses von Populisten auf die Menschen erklärt wird, ist in Wahrheit das genaue Gegenteil. Nicht ›dümmer‹, sondern ›wacher‹ werden die Menschen in einer Zeit, in der die inneren Widersprüche ›allgemeiner Wahrheiten‹ immer offensichtlicher zutage treten.«

 

 

Jens Wernicke: »Lügen die Medien? Propaganda, Rudeljournalismus und der Kampf um die öffentliche Meinung«, Westend-Verlag, 360 Seiten, 18 €