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Titel2417

Regieren bis zum Tod  (Sabine Kebir)

Eine neue Gesellschaftsordnung wird nicht hervorgebracht, ohne dass sie fatale Erbstücke vorangehender Ordnungen mit sich schleppt – das hatte schon Karl Marx konstatiert und für den Sozialismus auch schon vorhergesagt. Aber dass die weltgeschichtlich ersten realsozialistischen Versuche Regierungsformen ausbilden würden, die die feudale Tradition lebenslanger Führungspositionen nicht ausschlossen, sondern sogar begünstigten, hätte er sich wohl nicht träumen lassen. Hatte doch schon die von ihm analysierte Pariser Kommune auf zeitlich begrenzte Mandate und sogar auf jederzeit abwählbare Funktionsträger des Staates bestanden. Abgesehen davon, dass die Pariser Kommune unter anderem vielleicht auch an verfrühter demokratischer Akkuratesse zugrunde gegangen ist, lassen sich viele Gründe finden, weshalb sich dieses fortschrittliche Prinzip bei Sozialisten an der Macht bislang nicht durchsetzte. Da es ihnen nicht gelang, sich aus dem Würgegriff der kapitalistischen Welt zu befreien, meinten ihre Führungen, dass die neue Gesellschaft nur durch eine zumindest nach außen festgefügte, auf Kontinuität angelegte Regierungstruppe zusammengehalten werden könne. Sie bestand aus charismatischen Revolutionären, Widerstandskämpfern und später auch aus den Anführern der nationalen Befreiungsbewegungen. Obwohl es relativ unwahrscheinlich ist, dass dieses kampferprobte Personal ebenso gute Fähigkeiten auf Gebieten wie der Ökonomie oder der Kompromissvermittlung in politischen und sozialen Konflikten hat, erlagen die Regierenden allzu oft der Selbsttäuschung, auf längere oder sogar sehr lange Zeit attraktive gesellschaftliche Perspektiven und damit Stabilität herstellen zu können.

 

Das lief und läuft oft auf »Regieren bis zum Tod« hinaus. Beispiel Algerien. Präsident Abdelaziz Bouteflika ist seit 2013 so krank, dass er keine öffentlichen Reden mehr halten und oft nicht einmal einen Staatsgast vor laufenden Kameras empfangen kann. Wegen einer lebensgefährlichen Bronchitis Bouteflikas wurde 2016 der Besuch von Bundeskanzlerin Merkel an dem Tage abgeblasen, an dem er stattfinden sollte – die Zeitungen hatten ihn schon als Tatsache vermeldet. Kürzlich konnte er auch den venezuelanischen Präsidenten Maduro nicht begrüßen. Mehr Glück hatte Emmanuel Macron, der »einige lange Minuten« mit Bouteflika »sprechen« konnte. Der algerische Präsident ist sichtlich stark behindert, aber alle neuen Großprojekte werden ihm zugeschrieben, und man diskutiert bereits über die Vorbereitung einer fünften Amtszeit. Obwohl das dank der 1988 errungenen Pressefreiheit kontrovers geschieht und in einer Offenheit, die im verblichenen Ostblock undenkbar war, gibt es keine Garantie dafür, dass es nicht doch dazu kommt.

 

Ein tristes Beispiel für das Regieren auf Lebenszeit lieferte auch Simbabwes Präsident Robert Mugabe, der sich zumindest zeitweise als Marxist verstand. Mit 93 Jahren und nach 37 Jahren als Regierungschef soll er sogar noch versucht haben, seine nur halb so alte Ehefrau Grace als neue Regierungschefin einzusetzen und so weiter Einfluss auszuüben. Dass das nicht nur üble imperialistische Nachrede gewesen sein kann, zeigte sich, als er seinen Stellvertreter und designierten Nachfolger Emmerson Dambudzo Mnangagwa entließ. Dass das Militär, das Mugabe bislang gestützt hatte, seiner Amtszeit ein Ende setzte, muss als Drahtseilakt bezeichnet werden – denn die Union Afrikanischer Staaten hat in ihren Statuten festgelegt, keine Regierung mehr anzuerkennen, die durch einen Militärputsch an die Macht gelangt. Dieses sehr begrüßenswerte, fortschrittliche Prinzip hat nun dazu geführt, dass Mugabes Entmachtung unter höchstmöglicher Wahrung der Würde vonstattenging, die er sich als Unabhängigkeitskämpfer und teilweise auch noch während seiner Regierungstätigkeit erworben hat. Das ist keinesfalls selbstverständlich. Nikita Chruschtschow wurde nach seiner Amtsenthebung mit Ehefrau Nina in eine Zweizimmerwohnung verfrachtet und völlig aus der Öffentlichkeit verbannt. Auch Walter Ulbricht hatte nach der erzwungenen Aufgabe seiner Ämter als Staatsratsvorsitzender und 1. Sekretär der SED öffentlich nichts mehr zu vermelden und durfte auch nicht mehr repräsentieren. Warum? Wahrscheinlich sollte beim Volk der Eindruck erweckt werden, dass diese ehemals fast Allmächtigen eben doch Fehler gemacht und Bestrafung verdient hätten. Dabei blieb es der individuellen Spekulation überlassen, welche Fehler das gewesen sein mochten. Fehlerkorrektur von unten war nur auf indirektem Wege möglich. Volkes Murren wurde ausgewertet und diente auch zuweilen als Anregung für Veränderungen. Letztlich war es aber häufig so, dass man auf den Tod des jeweilig mächtigsten Mannes an der Spitze von Staat und Partei warten musste, um eventuell spürbare Veränderungen erhoffen zu können. Dieses morbide Prinzip Hoffnung erreichte seine grotesken Höhepunkte in den letzten Jahren der Sowjetunion, die zwischen 1983 und 1985 drei Mal das Staatsoberhaupt auswechseln musste.

 

Parlamentarische Systeme, die sich in bürgerlicher Tradition sehen, haben die Begrenzung von Regierungsmandaten nur selten durchgesetzt, aber Regieren bis zum Tod ist nicht üblich. Die Erfahrung zeigt, dass selbst der Wahlsieg einer Oppositionspartei wenig oder gar keinen Wandel bringt. Aber der Wahlkampf und die Wahlen an sich erzeugen auf massenpsychologischer Ebene immer wieder große Hoffnungen. Das genügt zurzeit noch, um die Hegemonie kapitalistischer Strukturen abzusichern.

 

Die festgefügten, auf Kontinuität angelegten Führungstruppen des Realsozialismus und seiner Nachfolger waren Ausdruck struktureller Schwäche. Ein starkes System funktioniert unabhängig vom Charisma seiner Führungsfiguren, nicht zuletzt, weil es über genügend solcher Figuren verfügt, die eben auch auswechselbar sind. Durch den hohen Grad an Demokratisierung, den das Bildungswesen im Ostblock aufwies, fühlten sich immer mehr Menschen in politische Unmündigkeit verbannt. Obwohl die Bildungssysteme in afrikanischen Ländern noch keinen vergleichbaren Stand erreicht haben, sind auch dort immer größer werdende Schichten herangewachsen, die von politischer Mitbestimmung nicht mehr ausgeschlossen sein wollen.