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Titel2417

Erbschaft jenes Herbstes (I)  (Erhard Weinholz)

Der 19. Dezember 1989 war ein schwarzer Tag für all die im Osten, die eine andere, bessere DDR anstrebten. Denn an jenem Dienstag kurz vor Heiligabend war Kohl bei seinem ersten DDR-Besuch in Dresden bejubelt worden wie wohl nie zuvor in seinem Leben: Man sah ihn anscheinend als eine Art Weihnachtsmann, der Gaben verteilen würde noch und noch. Tags zuvor hatte die Berliner Zeitung die Ergebnisse einer ersten Umfrage von ZDF und Spiegel zum Thema Deutsche Einheit veröffentlicht: 77 Prozent der angesprochenen DDR-Bürger waren dagegen, nur 23 Prozent dafür. Doch alle meine Freunde und Bekannten waren sich schon Anfang Dezember sicher, dass die Zwangsvereinigung kommen würde, so sehr wir uns auch dagegen sträubten. Zwar waren Einheitsforderungen bei Demonstrationen damals erst hier und da zu hören, doch wir wussten, wie sehr sich die meisten nach der D-Mark sehnten. Nur deshalb wollten sie ja die Einheit. Und dieses Umfrageergebnis? Es dauert eben eine Weile, so sagte ich mir, bis man sich eingestanden hat, was man wirklich will.

 

Wir sind dann am Abend des 19. Dezember zur Anti-Kohl-Demo hier in Berlin gegangen, doch geholfen hat es nichts: Die D-Mark kam, die Treuhand begann zu privatisieren, und das Volk verlor vollends, was es ohnehin nur dem Namen nach besessen hatte. Mit der Wirtschaft ging es die nächsten drei Jahre steil bergab, Massenarbeitslosigkeit war die Folge. Kohl aber durfte sich als Bismarck des 20. Jahrhunderts fühlen und blieb allen Voraussagen zum Trotz noch acht Jahre im Amt. Dafür waren wir in jenem Herbst nicht auf die Straße gegangen, und so ist mehr als einmal geforscht worden, ob bei anderem Verhalten einiger Beteiligter die Geschichte hätte anders verlaufen können.

 

Den meines Wissens ersten Versuch dieser Art hat vor bald zwanzig Jahren Bernd Gehrke unternommen, 1989 einer der Verfasser des Gründungsaufrufs der Initiative für eine vereinigte Linke (VL). Die politischen Möglichkeiten des 89er Herbstes, so der Tenor seines Beitrags zum Sammelband »… das war doch nicht unsere Alternative. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende«, seien nicht hinreichend genutzt worden: Eine Vielzahl von Kräften habe sich damals für eine radikaldemokratische Entwicklung in der DDR eingesetzt, doch die Bürgerbewegungen hätten es versäumt, die Regierungsmacht zu ergreifen, dem Volk mit einem politischen und sozialen Programm eine Perspektive zu geben und damit zugleich in den Westen hineinzuwirken, um so eine Annäherung oder stufenweisen Vereinigung beider deutscher Staaten auf Augenhöhe zu ermöglichen. Eine solche Regierung hätte auch die Maueröffnung so vollziehen können, dass sie nicht zur Katastrophe für die demokratische Bewegung geworden wäre.

 

Bernd Gehrke erinnerte hier an radikaldemokratische Ziele, die ihren vollendeten Ausdruck wohl erst im Abschlussdokument der Revolution vom Herbst 1989 gefunden haben, im Verfassungsentwurf des Rundes Tisches, an dem er selbst mitgeschrieben hat. Auf die Hindernisse, die sich der Bildung und der Arbeit einer Bürgerbewegungsregierung entgegengestellt hätten, geht er indes so gut wie gar nicht ein. Betrachtet man sie genauer, wird noch einmal deutlich, dass die Lage dieser Bewegungen zu jener Zeit keinesfalls so günstig war, wie man hätte meinen können. Zu fragen wäre vor allem gewesen, ob der Volkswille überhaupt auf solch eine Regierung zielte? Und da man ein und dieselbe Mauer nicht zweimal öffnen kann, hätte sich hier gleich die Frage anschließen müssen, ob diese Regierung schon vor dem 9. November hätte an die Macht kommen können. Möglich gewesen wäre es eventuell am 4. November, zum ersten und vielleicht auch letzten Male; freie Wahlen wurden bei dieser Großdemonstration in Berlin oft gefordert, eine Regierung dieser Art jedoch meines Wissens nicht. Oder wäre dieser Gedanke, wenn die Bürgerbewegungen ihn nur rechtzeitig geäußert hätten, von den Massen aufgegriffen worden? Vieles spricht dagegen: Man kannte ihre Programme nicht, hielt diese Bewegungen wohl auch nicht für kompetent genug, den Staat zu regieren. Eine deutlichere Vorstellung von ihnen bekamen die meisten, wie der Autor auch schreibt, erst durch die Runden Tische, im Dezember also. Obendrein fehlte ihnen eine Persönlichkeit, der das Volk so hätte zujubeln können wie später Kohl in Dresden. Den einen großen Revolutionsführer hatte es in Deutschland im Übrigen auch 1848 und 1918 nicht gegeben; man kann es als Folge des freiheitlichen Geistes der Revolutionäre deuten.

 

Fragen müsste man schließlich noch, ob die neue Regierung dem Volk tatsächlich eine Perspektive hätte bieten können und ob sich das Volk von ihr so etwas hätte bieten lassen wollen. Die Bürgerbewegungen haben ja seinerzeit ihre Vorschläge gemacht; dass sie als regierende Gruppierungen damit mehr Anklang gefunden hätten, ist kaum anzunehmen. Wen interessierte schon die Vereinigung in drei Stufen? Hatte man sich erst einmal entschieden, so galt: Entweder man wollte die Einheit, und zwar ein bisschen plötzlich, oder man war dagegen, und zwar grundsätzlich. Auch das Radikaldemokratische war sicherlich nur Sache einer Minderheit. Dass die Bürgerbewegungen eine Regierungsbildung nicht einmal erwogen, geschweige denn versucht haben, kritisiert Bernd Gehrke dennoch zu Recht. Ihre Absichten waren, wie er schreibt, auf der Höhe der Zeit; nur die Konservativen hielten sie für utopisch. Denn es ist, um nur ein Beispiel zu nennen, auch dann sinnvoll, Rechte zu fordern und festzuschreiben, wenn erst eine Minderheit bereit oder fähig ist, sie zu nutzen. Um solche Möglichkeiten der Gesellschaftsgestaltung hier und heute geht es ja, wenn man Wege des Geschichtsverlaufs bedenkt, und nicht etwa darum, die einstigen Kämpfe auf dem Papier nun doch noch zu gewinnen.