erstellt mit easyCMS
Titel2510

Kapitalistische Sprachregeln  (Harry Nick)

Dreher, Werkzeugmacher, Hilfsarbeiter hießen früher einfach Arbeiter. Deutsche Sprachregler haben sie in »Arbeitnehmer« umbenannt. In deutsch-englischen Wörterbüchern findet man unter »Arbeitnehmer« das Wort »worker«; von einem »taker« ist nichts zu finden.

Auch das Wort »Marktwirtschaft« ist eine deutsche Schöpfung.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Systemauseinandersetzung der westlichen kapitalistischen Welt mit dem »realen Sozialismus« zentrales Moment der Weltentwicklung wurde, brauchte man im Westen Begriffe für die gegensätzlichen Wirtschaftssysteme, die eben nicht Kapitalismus und Sozialismus heißen sollten. Man nannte sie »Marktwirtschaft« und »Planwirtschaft«. Das waren die von Politik und Medien gefundenen politisch brauchbaren Namen für »Zentralverwaltungswirtschaft« und »freie Verkehrswirtschaft«, die Grundbegriffe der neoliberalen Freiburger Schule der 1940er/1950er Jahre.

Die Worte »Marktwirtschaft« und »Planwirtschaft« waren zugleich unentbehrlich im Versuche, der nach dem 2. Weltkrieg dominierenden Auffassung zu begegnen, daß der Kapitalismus der Schoß gewesen war, »aus dem das kroch« (wie Brecht in der »Kriegsfibel« schrieb). Es sollte der Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus verdunkelt, geleugnet und statt dessen ein Zusammenhang von Faschismus und Sozialismus postuliert werden. Theoretischer Wortführer dieser begrifflichen Umkehrung der Verhältnisse war Friedrich Hayek, der in seinem 1944 (deutsch 1945) erschienen Buche »Der Weg zur Knechtschaft« behauptete, »daß der Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialismus nicht als Reaktion gegen die sozialistischen Tendenzen der voraufgegangenen Periode, sondern als die zwangsläufige Folge jener Bewegung begriffen werden muß«. Für die politische Formel »Diktatur versus Demokratie« war damit die wirtschaftliche Analogie gefunden: »Planwirtschaft versus Marktwirtschaft«. Und auf wirtschaftlichem Gebiet, so wurde nun behauptet, hätten die grundlegenden wirtschaftlichen Umwälzungen nicht etwa in der DDR, sondern in der BRD stattgefunden: In der DDR sei nur eine Variante der Zentralverwaltungswirtschaft durch eine andere abgelöst worden. Die östlichen Fünfjahrespläne seien so etwas wie die Göringschen »Vierjahrespläne« mit ihren kriegswirtschaftlichen Regulierungen im Nazireich.

Die Marktwirtschaftslehre nimmt den Kapitalismus aus dem Blick. Vom Markt her gesehen erscheinen nicht Arbeiter und Kapitalist als die zentralen Figuren des Wirtschaftsgeschehens, sondern die Marktteilnehmer, die Käufer und Verkäufer. Der arbeitende Mensch erscheint dann nur in zweierlei Gestalt: als Verkäufer seiner Ware Arbeitskraft und als Käufer von Subsistenzmitteln. Karl Marx hat diese Sicht trefflich beschrieben: »Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum ... Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z. B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen ... Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine ...« Aber beim »Scheiden von dieser Sphäre der einfachen Zirkulation oder des Warenaustausches« scheine sich die Physiognomie der beteiligten Personen zu verwandeln: »Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andere scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigene Haut zu Markte getragen ...« So zu lesen im Marx-Engels-Werke (MEW), Band 23, Seite 189/190.

Ob, wie Joachim Gauck meint, die westlichen Wirtschaften »als ›Kapitalismus‹ denunzierte Marktwirtschaften« anzusehen sind oder »Marktwirtschaft« eine Verschleierung des Kapitalismus ist, mag noch eine Streitfrage sein. Das Wort »Nationalsozialismus« dagegen hat im deutschen Wortschatz einen festen und offenbar von niemandem bezweifelten Platz. Es hat auch dort einen Platz gefunden, wo man es niemals vermuten dürfte: im jüngsten Programmentwurf der Linkspartei.

Den Namen »Deutsche Demokratische Republik« hat kein maßgeblicher Bundespolitiker je in den Mund genommen. Aber das Wort »Nationalsozialismus« für das barbarische faschistische System ist in Politik und Medien gang und gäbe. Es ist eine einfache Übernahme der von den Nazis gewählten Selbstbezeichnung und deren brutalste Lüge. Die Nazis waren und sind keine Sozialisten, auch keine national gesinnten Leute, sondern Rassisten der übelsten Sorte. Bemerkenswert auch hier, daß das Wort »Nationalsozialismus« nur in der Bundesrepublik gebräuchlich ist. In der DDR und den anderen sozialistischen Ländern sprach man vom Faschismus, wie auch im heutigen Rußland und im ganzen Rest der Welt, die USA eingeschlossen. Auch das ist des Nachdenkens wert.