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Titel2510

Bemerkungen

Wie es 2010 weihnachtet
Wenn der Dezember wieder mal viel zu früh gekommen ist; wenn, im Radio tagelang angekündigt, plötzlich Schnee fällt und die Bürgersteigreinigungsfirmen folglich nicht damit rechnen konnten; wenn die Agenturen für Arbeit Weihnachtsmänner und Christenglein vermitteln; wenn das Dschingelgebell der Chöre das Kläffen der Hunde übertönt; wenn der Castor heller strahlt als die Festtagskerzen; wenn der Weißbart im Rotmantel wegen des Ausfalls vieler Bahnen so wie einst mit dem Schlitten anreisen muß; wenn den Nikoläusen wegen der Terrorgefahr die Verwendung von Säcken untersagt wird; wenn der Heilige Vater Kondome an seine Mitarbeiter verteilt; wenn deutsche Piloten am Hindukusch »Vom Himmel hoch da komm ich her« singen; wenn der Aufschwung der Bemittelten durch den Abschwung der Unbemittelten beschleunigt wird; wenn die Aussteiger Mary und Jo in ein Abrißhaus einziehen, damit Mary dort einen Hartzvierkader zur Welt bringen kann; wenn sich die USA für interne Informationen über deutsche Weihnachtsmänner entschuldigen; wenn in den Supermärkten die ersten Schokoladenosterhasen erscheinen – dann steht Weihnachten 2010 vor der Tür.

Wolfgang Helfritsch


Mark statt Euro und Olive

»Rettet unser Geld« heißt das neue Buch von Hans-Olaf Henkel, ehemals Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie und heute neben Baring, Broder und Dohnanyi Deutschlands meist – eingeladener Polittalker in unzähligen Fernsehsendern. Man muß schon sehr reaktionär sein, um dort überall immer dasselbe von sich geben zu dürfen.

Der Inhalt des Buches ist schnell erzählt: Der Euro stehe am Abgrund, daran sei nichts mehr zu ändern. Griechenland-Hilfe? Bringt nichts. Irland-Rettung? Sinnlos. Schuld an der Misere seien die »Abwracker«: alle Politiker, die durch Aufweichung der Stabilitätskriterien den Euro »verraten« hätten. Für die deutsche Exportwirtschaft, einst Hauptnutznießer der Eurowährung, seien die guten Zeiten nun endgültig vorbei.

Was tun? Retten kann uns nur noch die Aufspaltung des Euro in zwei Währungen, sagt Henkel. Das geht so: Dem Nord-Euro sollen Deutschland, die Benelux-Länder, Österreich und Finnland angehören, dem Süd-Euro die »Olivenländer« Spanien, Italien, Griechenland und Portugal unter der Führung Frankreichs. Da derzeit aber der Euro-Raum noch einige weitere Staaten umfaßt, kann man schließen, daß demnächst in Irland und ab 2011 auch in Estland vornehmlich Oliven angebaut werden sollen. Und wohin mit der Slowakei, Slowenien, Montenegro oder dem Kosovo? Henkels Forderung nach dem Nord-Euro zielt auf ein ökonomisch-militärisches Kerneuropa, angeführt von Deutschland. Wer da den »Norddeutschen Bund«, das Vorläuferkonstrukt des Zweiten Deutschen Reichs unter preußischer (Militär-)Führung, assoziiert, denkt möglicherweise nicht ganz falsch. Henkel hat sich auch schon einen Namen für den Nord-Euro einfallen lassen: »Euro-Mark«. Darüber werden sich die erneut angeschlossenen Österreicher bestimmt freuen.

Nebenbei: Henkels Rettungsbuch ist mit lobenden Worten Thilo Sarrazins versehen. Schafft sich Deutschland schon ab, läßt sich wenigstens die Mark noch retten.

Carsten Schmitt


Tröstliche Botschaft
In der Theoriezeitschrift Kommune, einst vom Kommunistischen Bund Westdeutschlands gegründet und dann grün geworden, analysiert mit viel Sympathie der Bremer Politikwissenschaftler Lothar Probst die weiteren Aussichten der »Volkspartei der neuen Mitte« und kommt zu dem Schluß, dieses grüne politische Unternehmen werde seinen »Höhenflug« fortsetzen können. Seine Begründung: »Die Stärke des Green New Deal liegt nicht unbedingt in den verschiedenen Vorschlägen zum Umbau der Industriegesellschaft, die erst noch einen Realitäts- und Tauglichkeitstest bestehen müssen, sondern in der tröstlichen Botschaft, daß eine Versöhnung von Ökologie und Marktwirtschaft prinzipiell möglich ist.« Die Grünen werden also im Politmarkt weiterhin erfolgreich sein, indem sie sich als Seelenpfleger betätigen, die das angenehme Gefühl vermitteln, bei einigen ökologischen Auffrischungen werde sich’s im Kapitalismus gut leben lassen. »Prinzipiell«, schreibt Probst vorsichtigerweise. Eine Botschaft von Radio Eriwan.
Arno Klönne


Schulfrei für die Bundeswehr
Nein, damit sind keine unterrichtsfreien Tage gemeint, an denen die Schüler in Bundeswehrkasernen Hightech-Waffen bewundern und sich von heimgekehrten Afghanistan-Kämpfern das friedenssichernde Töten erklären lassen sollen – woran Minister Guttenberg und seine Generäle dringend interessiert sind. Konnten 1999 noch 66.750 Truppenbesuche für Schüler organisiert werden, waren es 2009 nur noch 15.145. Viele Jugendliche zeigen Unmut gegenüber dem Militär im Allgemeinen und den Auslandseinsätzen im Besonderen. Der Krieg in Afghanistan stößt auf Ablehnung.

Bislang hat die Bundeswehr mithilfe der Wehrpflicht jährlich zwischen 15.000 und 20.000 Zeit- und Berufssoldaten rekrutiert. Wenn nun aber ab Mitte 2010 die Wehrpflicht nicht mehr gilt, muß die Bundeswehr um so intensiver um Nachwuchs werben.

Vor diesem Hintergrund sind die »Kooperationsabkommen« zwischen Bundeswehr und einer Reihe von Bundesländern zum verstärkten Einsatz von Jugendoffizieren bei der Referendarausbildung, Lehrerfortbildung und im Unterricht zu sehen (Ossietzky berichtete darüber zuletzt in Heft 18/10).

Jetzt kommt dem Werbefeldzug der deutschen Militärs die von der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner und anderen Friedensgruppen organisierte Kampagne »Schulfrei für die Bundeswehr« in die Quere, zunächst in Baden-Württemberg. Hier werden Lernmittel für zivile Konfliktlösungen angeboten wie auch Hilfen für Schulen, die sich weigern, Jugendoffiziere einzulassen. Aktionen vor Schulen werden vorbereitet.

Vor der Karlsruher »Heinrich-Hübsch-Schule« zum Beispiel fand ein Protest gegen die sogenannten Wehrdienstberater statt, die den Berufsschülern die Berufschancen der Bundeswehr anpriesen. Mit großem Transparent »Kein Werben fürs Sterben« und Informationen für die Schüler gegen Militärpropaganda an der Schule wurden Schüler, Lehrer und Öffentlichkeit vor der Militarisierung der Gesellschaft gewarnt. Selbst die stockkonservative Karlsruher Monopolzeitung Badische Neueste Nachrichten sah sich veranlaßt, ihre Leser ausführlich zu informieren, wobei sie auch den Mitinitiator der Initiative »Schulfrei für die Bundeswehr«, Ulli Thiel, mit seiner Kernaussage zitierte: »Die Offiziere verfolgen bei ihren Schulaktionen ein doppeltes Interesse. Sie wollen Nachwuchs werben und gleichzeitig die ›Heimatfront‹ auf Kurs bringen.« Über weitere Materialien und Aktionen informiert die stetig ausgebaute Website der Initiative: www.schulfrei-fuer-die-bundeswehr.de.
Wigbert Benz


Ein Muntermacher
Termingerecht hatten die deutschen Medien Gelegenheit, den Blick von der parlamentarischen Entscheidung über Almosen fürs Prekariat und dessen weitere Entrechtung abzuwenden: Die FDP suchte nach ihrem »Verräter«, und wenn man den ntv-Nachrichten glauben wollte, war sie entschlossen, erbost zurückzuschlagen: »Die liberale Partei sägt an Murphys Stuhl.«

Eine Staatsaffäre? Der deutsche Außenminister im Clinch mit der Superweltmacht?

Der US-Botschafter in Berlin verkündete dann rasch die Friedensbotschaft, ebenfalls über ntv: »Wir haben keinen besseren Verbündeten als Deutschland, und das wird so bleiben.«

Was ja nicht heißt, daß die Vereinigten Staaten sich keinen besseren deutschen Außenminister vorstellen könnten, und offenbar hat Mr. Murphy den geheimen Erzählungen des »Mr. Helmut« gern zugehört.
Der präsentierte sich auf seiner Website als »MunterMacherMetzner« und zeigte sich vor seiner »Enttarnung« stolz auf seine Fähigkeit zu »unkonventionellen Aktionen«. Ein Aufsteiger, bisher: vom bayerischen Jungliberalen zum Büroleiter des FDP-Vorsitzenden. Nun haben sich, so die offizielle Lesart, die blau-gelbe Parteizentrale und Metzner einvernehmlich getrennt; zum »Verräter« will ihn die FDP-Führung nicht erklären, denn was er in der US-Botschaft ausgeplaudert habe, sei vorher schon in den Zeitungen zu lesen gewesen. Für Mr. Murphy mag die Mitteilungsfreude von Mr. Helmut dennoch nützlich gewesen sein, sie hat ihm Lektüreanstrengung erspart. So läßt sich resümieren:
Helmut Metzner hat sich um die deutsch-amerikanische Politikfreundschaft verdient gemacht. Zumindest der Nachfolger Westerwelles im Parteivorsitz, eine Schonfrist muß ja sein, sollte den Mann wieder beschäftigen, zumal Metzner, wie man seiner MunterMacher-Seite entnehmen konnte, der Erfinder der »blau-gelben Hüpfburg« ist, einer spaßigen Gelegenheit für Kinder, sich an die FDP zu gewöhnen.

So mag die liberale Partei in der nächsten Generation wieder zu Ansehen kommen.

Marja Winken


Neokolonialismus
An bestens ausgebildeten Fachkräften mangele es der deutschen Industrie jetzt schon und in Zukunft noch mehr, sagen die Repräsentanten der Wirtschaft und viele Politiker. Deshalb müsse Zuwanderung angeregt und erleichtert werden, aber nur für Hochqualifizierte, die ja inzwischen auch in »Schwellenländern« zu finden seien, leistungsbereit, jung und doch schon mit Berufserfahrung, Alleinstehende, damit nicht der Familienanhang dem deutschen Sozialsystem zur Last falle. Um sicherzugehen, daß es am Arbeitsmarkt rentabel für die Unternehmen zugeht, könne die Zuzugserlaubnis befristet werden.

Der Berliner Kardinal Georg Sterzinsky hat diese Art von Ausländerpolitik als »neokolonialistisch« bezeichnet. Erst seien armen Ländern Rohstoffe geraubt worden; jetzt wolle man ihr »Humankapital« abschöpfen, durch kostenlosen Import von Menschen, deren Qualifizierung in den Heimatländern finanziert wurde.

Warum sollen wir nicht auch mal einem Kardinal Recht geben, wenn er Recht hat und wenn die sogenannten christlichen Parteien nicht auf ihn hören?
Peter Söhren


Greenwashing
»Wenn man heute einkaufen geht, könnte man auf die Idee kommen, die Weltrettung stünde unmittelbar bevor. Weil McDonald’s beschlossen hat, das Firmenschild grün anzumalen, gilt auch Burger-Verzehr als praktizierter Umweltschutz. KonsumentInnen wollen ein gutes Gewissen – Konzerne stellen es ihnen ins Regal«, schreibt Kathrin Hartmann in BrennPunkt, einer unregelmäßig erscheinenden, immer erfreulichen Zeitung der »Christlichen Initiative Romero«.

Diese rührige Gruppe legt sich mit Unternehmen an, die ihre Profite auf Kosten der ArbeiterInnen und der Umwelt in Armutsländern machen.

Details über den »Ablaßhandel« der Konzerne, die »grünen Mäntelchen«, mit denen diese die Lifestyle-Ökos zufriedenstellen und an sich binden, hat BrennPunkt-Autorin Kathrin Hartmann jetzt in einem lesenswerten Buch zusammengestellt.
A. K.
Kathrin Hartmann: »Ende der Märchenstunde«, Verlag Blessing, 384 Seiten, 16,95 €


Der imperiale Weihnachtsmann
Ich komme aus der weiten Ferne
als imperialer Weihnachtsmann,
von euch verlang` ich: Habt mich gerne,
weil ich sonst böse werden kann.

Ihr wolltet mir zwar nie begegnen.
Mein bloßer Anblick macht euch bang.
Ich aber will euch gnädig segnen.
Wenn es nicht anders geht, mit Zwang.

In meinem Sack sind lauter Gaben,
die ihr nicht braucht und auch nicht
                                                    wollt.
Drum muß ich euch die Rübe schaben,
damit ihr das wollt, was ihr sollt.

Als nächstes müßt ihr an mich glauben,
obwohl ich überhaupt nicht bin.
In meinem Sack sind Daumenschrauben,
mit denen biege ich das hin.

Sodann müßt ihr mich heiß verehren
als Bote vom Sankt Christuskind.
Im Gegenzug will ich euch lehren,
was Liebe und was Güte sind.

Und wollt ihr mich partout nicht lieben,
dann kriegt ihr Haue, daß es kracht.
Ich glaube an die Macht von Hieben.
Stille Nacht, heilige Nacht.
Günter Krone


Klaus Meschkat
Ein sympathischer Zeitgenosse. Ein antiautoritärer Sozialist, skeptisch gegenüber allen Realsozialismen, aber nicht feindselig, kein Kalter Krieger, obwohl im Westberliner Frontstadtdenken großgeworden. Kein Propagandist des US-amerikanischen Imperialismus. Als bedachtsamer Wissenschaftler analysiert er die gesellschaftlichen Verhältnisse in einzelnen Ländern. Zum Beispiel in Venezuela: Chavez‘ Führertum ist ihm fremd und unheimlich, aber er sieht die vielen Basis-Initiativen im Lande, denen Chavez Raum gibt. Daraus zieht Meschkat Hoffnung.

Ich kenne ihn seit den 1950er Jahren. Er war Vorsitzender des Allgemeinen Studenten-Ausschusses an der Freien Universität Berlin und dann Vorsitzender des Verbandes Deutscher Studentenschaften. Gegenüber der SPD war er vielleicht etwas loyaler als ich, aber nie unkritisch. Weil er ihr näher stand, mußte er bitterer unter ihrer Entwicklung – von der Verstoßung ihrer Studentenorganisationen bis zum Bombenkrieg gegen Jugoslawien – leiden als ich. Er war noch beteiligt an der Studentenbewegung der 1960er Jahre, lehrte dann an Universitäten in den USA, in Kolumbien und – bis zum Kissinger-Pinochet-Putsch – in Chile und schließlich 25 Jahre lang an der Universität Hannover. Südamerika wurde zum Hauptthema seiner wissenschaftlichen Arbeit und damit zum Hauptteil dieses Buches, in dem Aufsätze aus mehr als 50 Jahren versammelt sind. Auch und gerade die älteren liest man mit Gewinn, wenn man historische Entwicklungen besser verstehen will.

Sein Verleger Michael Buckmiller schreibt mir: »Klaus gehört zu den wenigen aufrechten Genossen, die sich im Laufe der schwierigen Jahre nicht haben verbiegen lassen.« Das stimmt – gleich welche Jahre man für die schwierigen hält. Die schwierigsten für ihn waren vielleicht die unter Rot-Grün. Aber seine Unverbiegbarkeit hatte er eindrucksvoll schon im April 1968 in einem Fernseh-Interview bewiesen, in dem er als ein Wortführer der Außerparlamentarischen Opposition die strukturellen Demokratie-Defizite der Bundesrepublik benannte und für die Räte-Demokratie plädierte (in diesem Buch nachzulesen). Ob er im heutigen Fernsehen noch einmal so zu Wort käme?
E. S.

Klaus Meschkat: »Konfrontationen – Streitschriften und Analysen 1958 bis 2010«, hg. von Urs Müller-Plantenberg, Offizin-Verlag, 487 Seiten, 34,80 €


Was wichtig wäre, fehlt
Ich sollte zufrieden sein: Peter Longerich bezieht sich auf meine 1986 erschienene Examensarbeit »Der Rußlandfeldzug des Dritten Reiches« und nennt sie als Beleg gegen die Nazi-These vom Präventivkrieg im Osten, den die Wehrmacht geführt habe, um dem angeblich drohenden Einmarsch der Roten Armee in das friedliche Deutsche Reich zuvorzukommen. So weit, so gut – wenn Longerich nicht schreiben würde, Hitler habe Goebbels erst in einem Gespräch am 8. Juli 1941 überzeugen können, daß es sich um einen Präventivkrieg handele. Als ob es Hitler und seinem Propagandisten um die Wahrheitssuche gegangen wäre.

Leider ist dieser eigenwillige Umgang Longerichs mit Goebbels‘ Tagebüchern symptomatisch für sein Werk. Zwar fordert der Biograph selbst, quellenkritisch zu beachten, daß Goebbels zu propagandistischen Zwecken Tagebuch führte, und zwar in erster Linie um Material für eine später in seinem Sinne zu schreibende Geschichte des Nationalsozialismus bereitzustellen. Doch allzu oft nimmt er Goebbels’ Texte für bare Münze, referiert, statt zu erörtern. Entscheidendes fehlt. Eine Analyse der Bedingungen und Reichweite der Goebbels-Propaganda findet nicht statt. Statt dessen spekuliert er frei nach Goebbels’ Notizen über die Liebeswirren Magda Quandts, der späteren Frau Goebbels, zwischen dem Propagandisten und dessen Chef, denn auch für Hitler galt: »Er liebt sie.«

Wigbert Benz

Peter Longerich: »Goebbels. Biographie«, Siedler Verlag, 910 S., 39,99 €


Herwegh – keinesfalls akkomodiert
Es sei jetzt nicht die Zeit, »reine Literatur« hervorzubringen, bemerkt der Dichter Georg Herwegh 1864 aus seinem Schweizer Exil. Dahinter steht wohl seine Einsicht in die begrenzte Rolle der Literatur in einer Gesellschaft, deren einzig wahre Zukunftsmusik Krupps Orchester ist, wie es in einem Richard Wagner gewidmeten Gedicht heißt. Der einstige Vormärzmann dichtet dennoch weiter, oftmals in zornig sarkastischem Ton.

Nachzulesen ist seine Bemerkung in dem gerade erschienenen sechsten Band der von Ingrid Pepperle herausgegebenen Herwegh-Gesamtausgabe, der seine nachgelassenen Briefe von 1849 bis zum Todesjahr 1875 enthält. Von den 366 dargebotenen Briefen werden etwa zwei Drittel zum ersten Mal publiziert. Damit und mit der ausgezeichneten Kommentierung haben die beiden Bandbearbeiter Ingrid und Heinz Pepperle eine beachtliche Leistung erbracht. Adressaten der Briefe sind neben Herweghs Frau Emma unter anderen Alexander Herzen, Richard Wagner, Franz Liszt, Ferdinand Lassalle, Gottfried Keller, Ludmilla Assing, Franz Dingelstedt und Ludwig Feuerbach. So gibt diese Briefsammlung Einblick in die widersprüchliche Zeit nach der gescheiterten Revolution von 1848/49. Man stößt auf enttäuschte Hoffnungen, Erfahrungen von Entwurzelung und materieller Not ebenso wie auf die Naherwartung eines gesellschaftlichen Umbruchs zu Freiheit, Demokratie und Solidarität. Auszeichnend für Herwegh ist der Blick von unten, mit dem er Emanzipation aus der Perspektive der Entrechteten und Unterprivilegierten denkt, wie er auf literarischem Gebiet eine »Poesie der Hütte« fordert.

Erstaunen löst das im Schweizer Exil beginnende »Familiendrama« Herwegh-Herzen aus. In seinen Briefen hat Herwegh verschiedentlich hervorgehoben, daß er Schönheit und Harmonie wenigstens in den persönlichen Beziehungen anstrebe, sozusagen als Vorbild für die ansonsten zerrüttete Welt. Doch in der Freundschaft mit Alexander Herzen, den Herwegh anfangs seinen Zwillingsbruder nennt, führt dieses Bestreben in ein Desaster. Zwischen Herwegh und Herzens Frau Natalie entwickelt sich eine Liebesbeziehung, die, nachdem Herzen sie entdeckt hat, zu einem Bruch zwischen beiden Männern führt – bis hin zu einer Duellforderung Herweghs. Dieser gerät in der Folge in eine tiefe existenzielle Krise, von der er sich nur langsam erholt, finanzielle Schwierigkeiten dauern bis zum Lebensende an.

Ungeachtet der prekären Lage verfolgt der Exilant aufmerksam die politischen, kulturellen und auch naturwissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit. Die Briefe geben Aufschluß darüber, wie er sich für progressive, auf demokratische Ziele gerichtete Strömungen wie die italienische Einigungsbewegung unter Garibaldi und Mazzini engagiert sowie die Arbeiterbewegung unterstützt, so als Bevollmächtigter des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins für die Schweiz. Im Gegenzuge wendet er sich gegen den bonapartistischen Staat in Frankreich wie gegen die »Verpreußung« Deutschlands.

Entgegen seinen Plänen gibt Herwegh zu Lebzeiten keinen eigenen Gedichtband mehr heraus, veröffentlicht jedoch zahlreiche Gedichte und Artikel in Zeitschriften und übersetzt in den 1860er Jahren Shakespeare, unter anderem den »Coriolanus«, den er mit dem von ihm kritisierten Bismarck vergleicht. Klingt das kämpferische Pathos in manchen seiner Gedichte heute wie eine fremde Melodie, so ersteht der vergessene Dichter in seinen Briefen gleichwohl als ein Zeitgenosse, der unter drückenden Bedingungen achtenswert an der Maxime »Unter keinen Umständen eine Akkomodation an die bestehenden Verhältnisse« festgehalten hat.

Christine Weckwerth

Georg Herwegh: »Briefe 1849–1875« in: »Werke und Briefe«, Band 6. von Ingrid und Heinz Pepperle, Aisthesis Verlag, 782 Seiten, 148 €, Band



Warnsignale
Der Verlag Neues Leben vereinte 1999 in einem Lyriksammelband Dichter, die zu DDR-Zeiten in der Reihe »Poesiealbum« mit einem eigenen schmalen Bändchen erschienen waren. »Dichter aus jenem Land mit Gedichten aus jener Zeit« war der Titel. Einige der Autoren sind jetzt in der Anthologie »In diesem Land« vertreten, die Michael Lentz und Michael Opitz für den S. Fischer Verlag zusammengestellt haben. Kito Lorenz gehört zu ihnen, Kerstin Hensel, Steffen Mensching, Kathrin Schmidt. Sie sind nicht verstummt und haben wie ihre Westkollegen dieses jetzt vereinte Land »neu vermessen«. Aus der alten Bundesrepublik begegnen uns unter anderem Hans Magnus Enzensberger und Robert Gernhardt und geben Einblicke, wie sie nach 1989 veränderte Realität mit unterschiedlichstem Duktus verarbeitet haben. Von Herbert Grönemeyer liest man die schon 1990 entstandenen sarkastischen Zeilen

Die Lok auf der Hauptstrecke
Seitengleise stillgelegt
Warnsignale werden überfahren

Gehetzt wird jeder

der dem Rausch im Wege steht
Soll erfüllt, vereint und
immer allein.


Insgesamt enthält der Band über 400 Gedichte von 101 Autorinnen und Autoren. Einige der Namhaftesten – Brasch, Hacks, Hilbig – sind nicht mehr am Leben. Daß eine Lyrikerin vom Range Eva Strittmatters in der Anthologie fehlt, ist mehr als bedauerlich.

Dieter Götze


Michael Lentz/Michael Opitz (Hrg.): »In diesem Land. Gedichte aus den Jahren 1990–2010«, S. Fischer Verlag, 637 Seiten, 18 €


Marco Tschirpke
Das Versmaß stimmt, und alles reimt sich. Mal klingt Hacks, mal Rühmkorf an – keine schlechten Eltern. Jedes Gedicht ist sehr dicht gedichtet und doch angenehm luftig. Immer artig und freundlich tritt Marco Tschirpke jetzt mit seinem dritten Lyrik-Bändchen vors Publikum. Freundlich ist er vor allem denen gesonnen, denen er etwas verdankt, auch dem Blümchen am Wege. Daß er dann und wann eine Prise Frivolität streut, wer wird es ihm verübeln? Er erlaubt sich sogar heitere Erinnerungen an Robespierre oder Thälmann. Und ganz lieb denkt er gelegentlich daran, Politiker zu köpfen. Vergnügt und entzückt applaudiert das Publikum. Auf mich wirkt jedes Gedicht von Marco Tschirpke wie ein kühlender Windhauch im Hochsommer – womit ich nicht sagen will, daß er nicht auch im Winter wohltäte.
Eckart Spoo

Marco Tschirpke: »Kategorien der Sorgfalt«, Verlag André Thiele, 48 Seiten, 9.90 €


Politik und Musik
Die Frankfurter Rundschau berichtet über eine Ausstellung zum Thema »Lenin, Stalin und die Musik« im Museum der Cité de la musique in Paris. Wir erfahren: »Lenin wußte von Musik nicht viel«, und Stalin »hatte auch keine Ahnung«. Wie gut, daß es ein Museum gibt, in dem man erfährt, daß Lenin von Musik nicht viel wußte und Stalin auch keine Ahnung hatte. In Zeiten, in denen auch die Museen sparen müssen, scheint mir ein derart unergiebiges Thema sehr lohnend zu sein.

Die FR fügt hinzu: Unter Führung Stalins habe sich ein sozialistischer Realismus gezeigt, »der an Realität nicht interessiert ist und statt dessen in Heroisierungs-Gesten verfällt«.

Mit dem Kunstverständnis von Staatenlenkern scheint es also nicht weit her zu sein. Der kürzlich verstorbene Theaterregisseur Christoph Schlingensief sprach auch Angela Merkel, Dauer-Besucherin der Bayreuther Wagner-Festspiele, jegliches Kunstverständnis ab. Merkel, so Schlingensief, habe stattdessen Berater, »die ihr was zurufen«.

Das immerhin eröffnet Chancen. So kann doch die Kanzlerin bei Richard Wagner, ganz unsozialistisch, einiges über Realitätsverleugnung lernen, die in Heroisierungs-Gesten verfällt.

C.S.


Seltsame Empfehlungen
Wer linke Zeitungen liest, bekommt häufig auch die Angebotskataloge eines Versandgeschäfts für Bücher und Filme in die Hand: »Unsere Buchempfehlungen für Sie« von der Firma ACDM in Berlin. Da wird Lesenswertes vorgestellt, unter anderem »Die DDR unterm Lügenberg« von Ralph Hartmann, »Wehe dem Sieger« von Daniela Dahn, »Das Kreuz mit der Kirche« von Karlheinz Deschner. Aber dann wird Thilo Sarrazins »Deutschland schafft sich ab« in folgender Weise angepriesen: »Sarrazins krude (und berechtigte?) Thesen ... Machen Sie sich selbst ein Bild, damit auch Sie mitreden können!« Reicht es nicht, daß Bild für den Deutschland-Erwecker wirbt?

»Unsere Buchempfehlungen« bieten auch gute politische Filme wie »Rat der Götter« (DEFA) auf DVD an. Zur Erläuterung liest man da: »Der Aufsichtsrat der IG Metall und seine Handlanger«. An der größten deutschen Industriegewerkschaft läßt sich gewiß manches kritisieren; aber für die Verbrechen des Aufsichtsrats der IG Farben kann man sie nicht verantwortlich machen. Den Redakteuren der »Buchempfehlungen« ist Nachhilfe in Politik und Geschichte zu empfehlen. Lesen könnte bilden.

Marja Winken



Press-Kohl
Mit einem fröhlichen Adventsgruß, den ich herzlich erwidere, schickten mir A. & K. ein Foto aus dem Berliner Kurier; es zeigt eine junge pelzbemützte Dame nebst geschmücktem Weihnachtsbaum. Die Unterschrift belehrt uns klug, wie wir es von diesem Blatt aus dem Kölner Medienkonzern DuMont nicht anders gewöhnt sind: »Damit der Baum brennt, müssen Lichterketten absolut sicher sein.« Merke: Die Notrufnummer von Feuerwehr, Rettungsdienst und Notarzt lautet: 112.
*
Das zitierte Blatt meldete einige Tage zuvor: »Hochstapler sahnt ab. – Ein vermeintlich hochrangiger Taliban bei den Friedensgesprächen in Kabul war ein Schwindler. Daß Präsident Karsai auf dem Hochstapler aufsaß, flog erst jetzt auf.« Flogen beide gemeinsam auf? Immerhin hatte der Präsident ja schon einen Sitzplatz, auf dem er aufsaß.
*
Gelegentlich scheint es, als sympathisiere der Berliner Kurier ein bißchen mit dem Menschenhandel: »Der A 380 – das größte Passagierflugzeug der Welt. Mehr als 800 Menschen passen rein. Über 200 Stück sind schon verkauft.«

Hat der Presserat diese Meldung schon gerügt?
Felix Mantel