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Titel2512

Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Das Berliner Ensemble hatte zum Ausgang der Spielzeit 2011/12 große Tage: das Wien-Festival. Das hatte Menge und Güte. Es gab rund zwei Dutzend Vorstellungen, davon drei Premieren, einige Wiederaufnahmen, Gastspiele der Wiener Burgtheaters, des Josefstädtischen Theaters, Lesungen und Solo-Abende mit bekannten Autoren wie Peter Turrini. Große Schauspieler ehrten große Dichter, so Gert Voss Thomas Bernhard oder Michael Degen Karl Kraus und Bertolt Brecht. Von Ödön von Horváth gab es eine Premiere der »Geschichten aus dem Wiener Wald«. Andere Große von der Donau waren: Adalbert Stifter (Corinna Kirchhof las »Brigitta«), Fritz Ritter von Herzmanovsky-Orlando (Hermann Beil stellte »Kaiser Franz Josephs Frühstückswürstel« vor); Ernst Jandl durfte nicht fehlen (»Die Humanisten«); man brachte auch den einst von Hans Albers fast 1000 Mal auf die Bühne gestellten ungehobelten wie herzigen Kerl namens Liliom von Franz Molnár (s. Ossietzky 12/12), und neben aristokratischer und hochbürgerlicher Literatur vergaß man nicht proletarisch-revolutionäre Stimmen wie Jura Soyfer.
Doch ging das umfängliche und vielfältige Programm über reine Literatur hinaus: Man gedachte großer Schauspieler wie Josef Kainz (»Ich trage einen Schatz in mir«) oder Helmut Qualtinger, dessen unsterblicher Wiener Spießbürger, »Der Herr Karl«, jetzt von Martin Zauner gespielt, österreichische Kabarettgeschichte geschrieben hat. Bereits im Vorfeld hatte Christian Seiler »André Heller. Feuerkopf. Die Biografie« vorgestellt. Und noch eine Großer österreichischer Kultur durfte nicht fehlen: Sigmund Freud – Maria Happel und Michael Maertens lasen die »Brautbriefe«, also die an Marthe Bernays. Und schließlich war auch Franz-Xaver Kroetz mit einem relativ frühen Stück – »Stallerhof« (1972) – vertreten, durch ein Gastspiel des Burgtheaters, inszeniert von David Bösch. Ein Riesenprogramm, meist auch künstlerisch von hohem Rang. Es war Welt im Theater, und so war auch wieder Welttheater an der Spree zu sehen:
Weit bemerkenswerter als die recht mittelmäßige »Liliom«-Produktion waren Horváths »Geschichten aus dem Wiener Wald«, inszeniert von Enrico Lübbe und einem Stab Szenaristen (Hugo Gretler, Bianca Deigner), dem Musiker Bert Wrede und dem Dramaturgen Dietmar Böck. Im BE wirkte ein bemerkenswertes Ensemble: als Großmutter Gudrun Ritter, die den oft so schwierigen Übergang ins Alten-Fach glänzend schaffte, als Mutter Claudia Burghardt, die uns noch in Jura Soyfers »Weltuntergang« begegnete; die Valerie spielte Angela Winkler, den Oskar Boris Jakoby, den Rittmeister Axel Werner und den Zauberkönig Roman Kaminski, alle überzeugend. Ausgerechnet der Alfred, diese für kommende Gewaltsysteme brauchbar schwankende, höchst widersprüchliche Figur, erschien in der Formung von Sabin Tambrea nicht überzeugend. Zwanzig Schauspieler sind nicht zu nennen – nur so viel: Sie bildeten ein Ensemble. Das in Berlin von Heinz Hilpert im Deutschen Theater uraufgeführte Stück von 1931 wirkt heute wie ein Warnepos, auf welches man nicht gehört hatte, das aber nicht verstummt ist. Und so tief es im Wienertum sozial verwurzelt ist, so weit reicht es in seiner aufklärenden Kraft über den Donau-Raum hinaus. Viel Beifall in Berlin!
Zu den am BE vorgetragenen beziehungsweise gespielten Autoren gehörte Arthur Schnitzler: Eine große Inszenierung war wohl nicht zu leisten, aber Texte gab es zu hören – »Fräulein Else« (1924) und »Leutnant Gustl« (1901). Ganz unproblematisch waren beide Lesungen nicht. »Fräulein Else« hieß nun »Welcome back, Fräulein Else« mit dem Untertitel »eine Fortschreibung ... von Stephan Lack«, vorgetragen von Maresa Hörbiger. Lack brachte eine Art Rahmenerzählung hinzu, änderte den Schluß: Else stirbt nicht mehr im Freitod, sondern lebt im Exil und kehrt schließlich nach Europa zurück, um sich zu erinnern und zu befragen – eine eher optimistische, vor allem entwicklungsoffene Lösung: Es soll sich das Schreckliche nicht wiederholen. Sollte die Menschheit wirklich gelernt haben? Maresa Hörbiger machte die Spannungen in der neuen Fabel tragfähig. Ob das mit eigener Betroffenheit zu hatte? Die Tochter (1945 geboren) einer Familie, die stark im Hitler-Dunst beschäftigt war, wirkt nun an Aufarbeitung und Befreiung vom Übelerbe mit. Durchaus ehrenhaft!
Weniger erfolgreich das Bemühen um die Novelle »Leutnant Gustl« 1901 – also noch in der franzjosephinischen Ära vor dem Ersten Weltkrieg – damals mochte dieser Ehrenkonflikt eines Offiziers noch Schärfe und Unwucht gehabt haben, denn es ist in Wahrheit ein Scheinkonflikt, eher Ehrpusseligkeit, eines überholten Ehrbegriffs wegen in den Freitod zu gehen. Inzwischen liegt diese Story so fern, ist im Grunde aus der Kunst in die Historiografie gefallen, sozusagen als Textzeuge veralteter Ideologie. Überflüssig. Daran ändert auch die kluge Lesung durch Johannes Krisch nichts.
Von ganz anderer Wucht hingegen »Elisabeth II.«, um 1987 entstanden, 1989 in Berlin uraufgeführt, 2002 am Burgtheater in einer Inszenierung durch Thomas Langhoff und mit Gert Voss. Aus dieser – von Ursula Voss neu eingerichteten – Fassung machte Voss nun seinen umjubelten Solo-Abend. Seinetwegen war ich hingegangen. Das ist eine echte, eine hochdosierte zornige Schmäh, der Grantler Thomas Bernhard hat in seinem vorletzten Stück noch einmal vom Leder gezogen. Eigentlich gibt es keine Fabel, nur die Idee davon: Menschenmengen warten auf einen Herrscher. Realiter wartete man damals auf Prinz Charles mit Diana; der Dichter bediente sich jedoch der Queen, um Dummheit, Größenwahn und Mengenfanatismus noch wuchtiger zu machen. Voss setze Stimme, Mimik, die wenige Bewegung (verunglücktes Aufstehen und Umsetzen im Rollstuhl) genauestens ein. Dennoch: Ich hatte mir ihn haßvoller, schneidender, zorniger erwartet – war er von der Vorstellung am Vorabend erschöpft?
Fast wären nun Ernst Jandls »Die Humanisten« (1975) zum Höhepunkt des Festivals geworden. Die hier gezeigte Produktion hat Philip Tiedemann 2000 inszeniert, von Hermann Beil als Dramaturg begleitet. Es spielten: Krista Birkner, Markus Meyer, Michel Rothmann, Veit Schubert. Die Szenerie: eine breite Wand auf der Vorbühne mit vier weit unten angebrachten Öffnungen, aus denen sich zuerst einige Köpfe, später die Figuren zeigen, sich erheben, streiten und wieder zurücksinken. Die beiden in der Mitte sind zwei Nobelpreisträger der Gelehrten- und der Künstlerklasse. Sie streiten um ihre Werte, die vor der harten Realität wertlos geworden sind, die beiden andern, weniger genau bezeichneten, sekundieren. Und dies in der ganz ureigenen Jandl-Sprache: eine Sprache entweder der Laute (hier eher Artmann folgend) oder der Infinitive. Einige seiner Gedichte haben die Urheber dieser Inszenierung dem dramatischen Text eingefügt. Anfangs hört, sieht man Un-Sinn, Absurdes. Man benötigt eine Zeit des Einhörens, bis man das Absurde erkennt – als das Bild der Welt. Spätestens ab Mitte des Wort-Konzerts kommt der Sinn zum Tragen – bekanntlich ist der Gegensatz von Un-Sinn der Sinn. Und allmählich hört man die Komposition.
Jandl war vorzüglich musikalisch, Teile seiner Wiener Wohnung glichen der eines modernen Tonsetzers wie auch Tontechnikers. Die vielen Laute kommen zusammen und ergeben ein zum Ende hin wohlstimmiges Quartett, an dem Schönberg und auch Schostakowitsch mitgeschrieben haben könnten. »Der Humanismus ist tot, hat versagt vor den Herausforderungen des Jahrhunderts«, so lautet der Schlußsatz. Und der Klang? Da sind doch Wörter zu Worten geworden, da ist Sinn, das klingt nach H-Dur, einer Tonart, die Jandl nach persönlicher Aussage sehr liebte. Die vier Sprech-Spieler taten ihr Bestes – Es war kein Finale der Welt, das Humanum war geblieben.
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Ein BE-Ereignis sei abschließend noch gewürdigt: »Dantons Tod«, das Drama von Georg Büchner in einer Inszenierung von Claus Peymann und Jutta Ferbers, dem berühmten Szenografen Karl-Ernst Herrmann und einem Ensemble von mehr als 20 Schauspielern, die in etlichen Fällen in dem personenreichen Revolutionsstück mehrere Rollen spielen. Was mag uns an dem genialen Entwurf des 23jährigen Medizinstudenten über das Jahrhundertereignis Französische Revolution (1789–1794) noch interessieren? Zumal er historisch nicht so ganz stimmt und künstlerisch unvollendet, nach mehreren Seiten offen ist, offen für die unterschiedlichsten Deutungen?
Das Stück ist keine Feier der Revolution, sondern eine Darstellung ihrer Krise. Doch sicher der revolutionäre Stoff überhaupt, Analyse wie auch Pathos und Trauer. Auch diese Revolution begann gewaltig, zersplitterte im Laufe der Jahre durch Fraktionskämpfe und immer weiter greifende, doch in ihrer Zeit nicht zu erfüllende Forderungen und Ziele, konnte große Probleme nicht lösen. Die Führer der Fraktionen bekämpften und töteten sich, den Dantonisten folgten die revolutionären Jakobiner unter Robespierre und St. Just, der konservativere Teil, das sogenannte Directoire, stoppte die Prozesse, das Konsulat verteidigte erfolgreicher als Gironde und Jakobiner die wichtigsten bürgerlichen Ziele und Resultate, und das Kaisertum unter Napoleon I. trug die neuen bürgerlichen Inhalte gegen das absolutistisch-monarchistische Europa, freilich vor allem auf militärischem Wege. Im Grunde das Modell der meisten folgenden Revolutionen. Das Jahr 1794 ist Thema und Stoff des Stücks – Verteidigung der Revolution und zugleich ihre Selbstzerstörung, genauer: die Zerstörung ihrer weiteren Bewegung in der Gewißheit ihrer Weltbedeutung. Die Dantonisten endeten auf der Guillotine – eine notwendige Tragödie, der die jakobinische folgte – riesige Opfer für den weiteren Fortschritt der Menschheit. Anders geht es offenbar nicht, und das hatte Büchner gewußt. Und das hat Peymann im Grunde auch inszeniert – in zeitgemäßer Reflexion ohne Pathos. Revolutionen als Prozeß, mit einem gehörigen Zug Trauer über das nicht Erreichte. Da ist auch Autobiografisches des Regisseurs zu spüren, Erinnerung an revolutionäre Jugend. Immerhin – als Leiter eines der besten deutschen Theater nutzt er noch Möglichkeiten – seine Inszenierungen produzieren zwar Bedenklichkeit, doch keine Resig-nation. Und einen gewaltigen Moment hat diese Aufführung – die Steigerung der Konventszene nach der Verurteilung der Dantonisten durch St. Just in Gestalt des so romanisch-wild aussehenden Tsivanoglou: der Gesang der Marseillaise. Das war kein enthusiastischer Jubelgesang von Barrikadenstürmern, sondern ein Trutzlied bereits überanstrengter, ja erschöpfter, doch sich selbst Mut zurufender, sich stärken wollender Revolutionäre. Es klang ungeheuerlich, ein Schauer lief mir über den Rücken. Heinrich Heine hat für diese Singe-Situation den bestmöglichen Ausdruck gefunden. Er nannte die Marseillaise einen »Triumphierenden Todesgesang der Gironde«. Einen solchen sang das Ensemble – so schaurig wie grandios!
Eine Sternszene des Theaters!