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Titel2512

Bemerkungen

Das »Faß ohne Boden«
»Merkel verfehlt Kanzlermehrheit« – titelte Spiegel online nach der Abstimmung über die erneute Griechenland-»Hilfe«. Die Überschrift ist irreführend, sachgerecht hätte sie heißen müssen: »Merkel erreicht Zustimmung von SPD und Grünen.« Denn der Beachtung wert ist die ganz große Koalition, die hier zu Tage trat. Die Abweichler aus den Reihen der Zustimmungsparteien übernehmen dabei die Funktion, den im Volke weitverbreiteten Unmut über diese Art von »Eurorettung« in deutschchauvinistische Gemütsbahnen zu lenken. Die offiziellen Redner der sozialdemokratischen und der grünen Fraktion wiederum haben ein bißchen Opposition vorzutäuschen, indem sie nicht den Inhalt, sondern Modalitäten der regierenden Griechenlandpolitik kritisieren – nicht gefällig genug werde diese dem Publikum dargestellt und außerdem hätte sie zügiger abgewickelt werden können.

Inwieweit die Mitglieder der Regierung und die Abgeordneten im Parlament den Durchblick haben bei dem, was sie da exekutieren und legitimieren, wissen wir nicht. PolitikerInnen sind ja nicht einem TÜV ausgesetzt im Hinblick auf ihre politisch-ökonomischen Kenntnisse und Erkenntnisfähigkeiten. Bei der Masse der ZuschauerInnen dieser Profipolitik bleibt am Ende das Gefühl, da spiele sich ein schicksalhafter Vorgang ab, nicht wirklich durchschaubar, aber augenscheinlich alternativlos, mit vermutlich schlimmen Folgen für das bürgende und zahlende deutsche Volk. Und Zorn sammelt sich an – leichtfertig und verschwenderisch seien sie, die Griechen und auch die anderen Völker im Süden Europas.

Die herrschende deutsche Politik wirft Griechenland vor, es habe »über seine Verhältnisse gelebt«, eine Ökonomie »auf Pump« betrieben. Das ist Heuchelei, denn selbstverständlich sind die Instanzen des Kapitalismus (auch die deutschen Finanzinstitute) darauf aus, daß Staaten sich verschulden und privater Profit daraus entsteht; und verschuldete Kreditnehmer zahlen besonders hohe Zinsen. An den teuren Rüstungsgütern beispielsweise die aus der Bundesrepublik an Griechenland geliefert wurden, haben nicht nur die Waffenfabrikanten, sondern auch deutsche kreditgebende Banken verdient.

Der griechischen Bevölkerung wird jetzt »Sparsamkeit« aufgeherrscht, genauer gesagt: Von außen verordnete Verarmung der Mittel- und Unterschichten. Verbunden wird dies mit der Ermahnung, die griechische Wirtschaft müsse endlich »konkurrenzfähig« im internationalen Markt werden. Auch das ist heuchlerisch. Die Exportindustrie der Bundesrepublik wünscht sich keineswegs, daß griechische Firmen ihr die Kunden wegnehmen. Erwünscht ist nur die Übernahme einiger rentabler Betriebe in Griechenland, per Privatisierung, und – wenn es geht – ein zusätzliches Angebot an Arbeitskräften zum Dumpinglohn, für ausländische Konzerne.

Diese Realitäten müssen den BürgerInnen hierzulande verdeckt bleiben. Manche von ihnen könnten sonst auf die Idee kommen, das »Faß ohne Boden« an anderer Stelle zu suchen als in hellenischen Gefilden.

 A. K.


Steinbrück und Pommesbuden
Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag. Aber um den staatlichen Etat geht es gar nicht, sondern ums Schaulaufen im Vorwahlkampf – Peer Steinbrück im rhetorischen Wettbewerb mit Angela Merkel. Der SPD-Kanzlerkandidat läßt seine Angreiferrede in dem Satz gipfeln, die Kanzlerin mitsamt ihrem Kabinett sei schlicht unfähig, »jede Pommesbude« werde da »besser gemanagt«. Offenbar war das anders, als Steinbrück noch regierender Mitmanager war, als Bundesfinanzminister unter Angela Merkel.

An eine seiner damaligen Großtaten hat er neulich angeknüpft, vor seiner Kandidatur, mit einem gut dotierten Interview, das er für den Geschäftsbericht des Baukonzerns Bilfinger Berger lieferte, für den auch der frühere hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) tätig ist. Dieses Interview ist nun nachgedruckt im »PPP-Jahrbuch 2012«, das von einem Konsortium herausgegeben wird, dem die Ausbreitung der Public-Private-Partnership am Herzen liegt. Die Großfirma Bilfinger Berger ist an solchen Geschäften hochinteressiert. PPP heißt: Bund, Länder und Gemeinden machen privaten Unternehmen Platz, die als Investoren und Bewirtschafter in öffentliche Bauten und Einrichtungen »partnerschaftlich« einsteigen, von der Schule über das kommunale Krankenhaus bis zum Straßenbau. So fließt privates Kapital in die öffentliche Hand, aber selbstverständlich muß sich das rentieren: durch langfristige Zins- und Mietzahlungen an die Unternehmen oder Banken. Rechnet man PPP auf eine längere Frist hin durch, so stellt sich heraus: Gewinner ist der private, Verlierer der öffentliche »Partner«, und nebenher werden öffentliche Dienste verschlechtert. Da geht es nicht um Pommesbuden, sondern um ein Riesenprojekt – eine renditefeste neue Branche. Um diese hat sich Steinbrück große Verdienste erworben: Als Bundesfinanzminister bereitete er ihr den politisch-organisatorischen Weg, gründete auch eigens eine halbstaatliche Agentur, die PPP-Projekte beratend und werbend begleitet. Die juristische Zuarbeit für den Bundesfinanzminister übernahm die Anwaltskanzlei Freshfields, von der Steinbrück dann auch, als er nicht mehr Finanzminister war, als Vortragskünstler eingeladen wurde, wiederum gut honoriert. Um die PPP herum hat sich ein ganzes Netzwerk von einflußreichen Bankern, Unternehmern, juristischen Beratern und Staatsbediensteten gebildet, geschäftsfördend. Erstklassiges Management. Und Steinbrück mittendrin.
 M. W.


... weil ich arm war
»Ich bin von Haus aus Kommunist, weil wir arm waren.« Dieses Geständnis machte jetzt ein 70jähriger, der es zu Wohlstand und Ansehen in Deutschland gebracht hat, der Fußball-Erfolgstrainer Hans Meyer. Er hat sowohl in der DDR als auch nach der sogenannten Wende in der Bundesrepublik, hier zum Beispiel bei Borussia Mönchengladbach und dem 1. FC Nürnberg, Triumphe gefeiert und brachte es bei den Fans zur Kultfigur. Dennoch – oder deshalb? – sagte er jetzt auf eine Frage: »Gehen Sie davon aus, daß ich angesichts der vielen Armen in unserem Land meinen Standpunkt nicht verändert habe.« Selbstverständlich hat, vor allem bei den Sportjournalisten, diese Äußerung Aufsehen erregt, und Meyer wurde von manchen in die Ecke der Unverbesserlichen gedrängt. Kaum eingegangen wurde von den Kritikern auf seinen Hinweis, daß in unserem Land die Reichen immer reicher und die Armen, deren Zahl steigt, immer ärmer werden. Das kapitalistische System sorgt dafür, daß die Umverteilung von unten nach oben bleibt – sonst müßte es sich ja selbst aufgeben. Meyer erlebte mit, daß in den letzten zehn Jahren beispielsweise die Kaufkraft der Deutschen nachweisbar abgenommen hat.

Es ist wichtig, daß trotz vieler Enttäuschungen, trotz Fehlern und Mißwirtschaft der Kommunisten und Sozialisten anerkannte Mitbürger nicht nur im stillen Kämmerlein an das Gute im Menschen glauben, sondern sich weiter offen zu ihrer Überzeugung bekennen.
Werner René Schwab


Falsch protestiert
Ob er denn wirklich ein »Wendehals« sei, fragte das Deutschlandradio neulich den im Ruhestand befindlichen Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, Christian Führer; die Bild-Zeitung habe ihn als solchen bezeichnet. Der Hintergrund: Führer war als Initiator der Montagsgebete, die dann zu Demonstrationen wurden, einer der Protestanten, die tatsächlich zum Umbruch des politischen Systems der DDR beitrugen. Aber nun hat er sich in einer Predigt als Antikapitalist geäußert, ein ganz anderes wirtschaftliches System herbeigewünscht, und wer so etwas sagt und denkt, ist eben kein »Freiheitskämpfer« mehr ...

Da lassen sich zum Protestanten Christian Führer mit seinem gegenwärtigen öffentlichen Engagement weitere belastende Vorgänge nennen: Beim Ostermarsch hat der Mann kürzlich geredet, sogar gefordert, jeder Rüstungsexport müsse untersagt werden. Sicherlich, das »Schwerter zu Pflugscharen« gehörte zum Auftritt der Friedensandachten in der DDR. Aber andere ehemalige ostdeutsche Pfarrer haben doch auch begriffen: Nach der Wende paßt so ein Spruch nicht mehr, auch ihn muß man nun wenden, das vereinigte Deutschland braucht keine Pflugscharen, sondern Leoparden, Kampfjets und Drohnen. Und den Beifall von Bild dazu.
M. W.


Importwünsche
Das Emirat Katar möchte 200 Leopardpanzer aus der deutschen Rüstungsschmiede geliefert bekommen, die Bundesregierung scheint nicht abgeneigt, dieses Geschäft zu genehmigen. Denn Katar hat sich um den Export westlicher Werte verdient gemacht, beim Regimewechsel in Libyen und jetzt mit der Hilfe für einen solchen in Syrien; auch hat sich das Land im Konflikt mit dem Iran profiliert. Wofür die Leoparden eingesetzt werden sollen, rätseln Kommentatoren; eine Außengrenze hat das kleine Katar nur zu dem befreundeten Saudi-Arabien, eine Bedrohungslage sei nicht zu erkennen.

Importfreudig ist auch die in den Medien beliebte Zweitfrau des Herrschers von Katar; ihr Interesse richtet sich auf westliche Mode. Das hat ein katarischer Poet zum Anlaß eines Verses genommen, in dem es sinngemäß heißt: »Weshalb betreibt sie nicht die Einfuhr von Freiheit?« Nun ist dieser Dichter wegen seiner vorwitzigen Frage zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden. Wenn Emir Scheich Hamad seine Waffenwünsche erfüllt sieht, ob er dann seinen Untertan begnadigt? Das könnte er sich leisten, gegen 200 Panzer kommt doch so ein Gedicht nicht an.
 P. S.


Mordsmäßig
Wenn all die Morde, die alltäglich im Fernsehen passieren, sich wirklich ereigneten, brauch­te sich niemand um die Altersarmut zu sorgen. Die paar Mörder, die dann um 2050 auf der Welt noch übrig wären, müßten zwar auf Volksmusik verzichten, hätten aber bestimmt keine Nahrungssorgen. Es gäbe dann auch keinen Moderator mehr, der seine kulturelle Kompetenz dadurch nachweist, daß er mit einem Bierkasten auf dem Rücken Liegestütze macht. Solche und andere Schreckensbilder mögen den Bundestagspräsidenten dazu angeregt haben, »vor einer Verflachung der Medienkultur« zu warnen. Derartige Warnungen gab es schon früher. Johannes Gross hat 1998 geschrieben: »Die Entwicklung des Fernsehens vollzieht sich in drei Phasen. 1. Kluge Leute machen Programme für kluge Leute. 2. Kluge machen Programme für Dumme. 3. Dumme machen Programme für Dumme. Wir befinden uns im Übergang von der zweiten zur dritten Phase.« Wie gesagt: 1998. Seitdem ist viel Zeit vergangen. Die Entwick­lung bleibt nicht stehen.
Günter Krone


Eine große Liebe?
»Das war zwischen uns eine große Liebesbeziehung«, hat Helene Weigel über das Verhältnis zwischen ihr und Brecht gesagt, und der neue Band Briefe gibt eine Lesehilfe dazu. Ja, es war eine ungewöhnliche Partnerschaft, gerade weil die Briefe eher anderes als geläufige Vorstellungen von einer großen Liebe bedienen. Kaum große Leidenschaft oder gar Schwüre. Der Leser erlebt ein sehr verläßliches, hilfreiches Miteinander mit gelegentlichen Liebesblitzen: »Issest Du genug? Rauch nicht zu viel und heiz gut. Und behalte mich in Erinnerung (und schreib mir ›Deine‹ unter die Briefe). Ich küsse Dich. B.« – »Ich küsse Dich vorsichtig und unvorsichtig, sorgfältig und flüchtig, schnell und langsam, Heli.« Die partnerschaftlichen Konflikte werden nur in wenigen Fällen thematisiert. Viel erfährt man dagegen von der Organisation eines Haushalts mit zwei Kindern und vielen Freunden und Freundinnen, von Geldsorgen und vor allem von der Arbeit, die das Wichtigste für diese Partnerschaft war. Sie brauchten sich und vertrauten einander. Brecht war überzeugt von den großen Fähigkeiten der Schauspielerin, obwohl sie im Exil kaum zum Zuge kam, und die Weigel tat alles für ihn. Ein wunderbares Zeugnis sind die Kurzbriefe der Intendantin an Brecht aus den fünfziger Jahren.

Schade, daß es kaum aufeinander reagierende Briefe gibt. Die Materiallage gibt das nicht her. Dennoch ist dieses hervorragend edierte Buch ein Leckerbissen für alle Brecht- und Weigel-Fans. Die mit der Brecht-Welt Unvertrauten sollen und werden staunen: So funktioniert Liebe also auch.
Christel Berger

Bertolt Brecht/Helene Weigel: »Ich lerne: gläser + tassen spülen. Briefe 1923 – 1956«, hg. von Wolfgang Jeske und Erdmut Wizisla, Suhrkamp, 402 Seiten, 26,95 €


Marie und die Liebe
Der Titel des Buches – »Warten auf Ahab« – spielt gleich auf zwei Werke der Weltliteratur an: »Warten auf Godot« und »Moby Dick«. Der Titel von Becketts Theaterstück bezeichnet heute als Redewendung ein langes, aussichtsloses Warten. Kapitän Ahab zeigt sich während der ersten Tage seiner Jagd nach dem Wal Moby Dick nicht an Bord; die Besatzung hört nur nachts das Kratzen der Beinprothese auf den Schiffsplanken.

Marie, die Protagonistin aus Leander Sukovs Roman, ist Anfang Zwanzig und gerade nach Berlin gezogen. Die junge Frau ist auf der Suche: Sie will lieben. Ihr Ziel ist nicht die Eroberung einer bestimmten Person, sondern die Liebe überhaupt, irgendwann mit irgendwem. Sie wartet auf einen Menschen, der aber zunächst nicht vorhanden ist. Einerseits verschmilzt sie als Suchende mit der Figur des Ahab, der fanatisch hinter Moby Dick her spürt. Andererseits sucht sie nach einem, der – wie der Kapitän – zunächst nicht auftritt. Marie vergeudet die Wartezeit nicht mit sinnlosen Spielen wie Becketts Figuren, sondern nimmt sich, was die jeweilige Situation bietet. Ihre Beziehungen zu anderen, zu Kevin, Katharina oder dem »Silberhaarmann«, sind voller Sinn. Marie versucht auf diese Weise, Nähe zu erleben. Ihre Affären zeugen von dem Schrei nach Intensität und bleiben doch nur Versuche. Zwar sind die Gefühle echt und bedeutsam, aber es fehlt ihnen an Tiefe. Und als Ahab endlich die Bühne betritt, da zeigt sich, was für eine fragile Veranstaltung das Leben sein kann.

Sukov spielt in seinem Roman mit Geschlechterklischees: Marie ist eine Frau, die sich so verhält, wie es oft Männern zugeschrieben wird: Sie unterscheidet zwischen Sex und Liebe, braucht viel Sex und organisiert sich diesen auf zahlreichen urbanen Raubzügen durchs Berliner Nachtleben. Die traditionell passive Rolle der Frau im Akt der Penetration verkehrt Marie ins Gegenteil: Sie fickt die Männer, nicht umgekehrt.

Alle Bars und Kneipen in denen die Protagonistin auf ihren nächtlichen Spaziergängen Station macht, gibt oder gab es wirklich. Sukov zeichnet hier einen alternativen Berliner Stadtplan jenseits von Hochglanz und Gentrifizierung. »Warten auf Ahab« ist nicht nur ein wunderbar trauriger Liebesroman, sondern auch Zeugnis einer Hauptstadt »hinter den Kulissen«.

Anja Trebbin

Leander Sukov: »Warten auf Ahab oder Stadt Liebe Tod«. Kulturmaschinen Verlag, 279 Seiten, 17,80 €


Walter Kaufmanns Lektüre
»Kapital« – man assoziiert Karl Marx, vermutet ein Sachbuch. Im Englischen ist das anders. Der Originaltitel »Capi­tal« von John Lanchesters Roman ist doppeldeutig: »Hauptstadt« käme die­sem lebendigen, virtuos gestalteten Werk näher. Im Leben einer einzigen Straße spiegelt sich eine Menge London. Was die Bewohner der Pepys Road be­wegt, wird auch die Bewohner unge­zählter anderer Straßen dieser Großstadt bewegen. Unverkennbar hat sich John Lanchester lange als Journalist umgetan, hat für Zeitungen wie den Observer ge­schrieben, den Daily Telegraph, den New Yorker und dabei weitläufige Er­fahrungen gesammelt – und sozialen Durchblick gewonnen. Dieser geschärfte Blick! Kein wichtiges Detail entgeht ihm, und seine Menschenkenntnis reicht tief. Die Personen, die diesen Roman bevölkern, wird es sämtlich gegeben ha­ben. Es sind Prototypen: Der Investmentban­ker Roger Yount und seine geldgierige Gattin Arabella, die, verwöhnt wie sie ist, nur zu willig ihre Söhne der Obhut eines ungarischen Kin­dermädchen überläßt, der Matya Belatu, die der Investmentbanker in ihrer Abwesenheit engagiert hatte und gern umworben hätte, die dann aber den zeitweilig in der Pepys Road beschäftig­ten polnischen Handwerker Zbigniew nimmt: Eine schön erzählte Liebesgeschich­te, die eine Probe beinhal­tet. Was für eine Probe? Das sollte so wenig preisgegeben werden wie zahllose andere Begebenheiten in die­sem Roman. Denn neben der Schreibart und dem gestalterischen Können sind es die Überraschungseffekte, die zum Weiterlesen anregen. Was verbirgt sich in dem Haus der sterbenskranken Petunia Howe, die in ihren letzten Wochen von der Tochter betreut wird? Welche kriminellen Machenschaften führen zur sofortigen Entlassung des Investmentban­kers, und warum wird dem afrikanischen Spitzenfußballer Freddy Kamo eine lebenslängliche Sperre auferlegt? Wie kommt es, daß die schwarze Politesse Quentina, die in der Pepys Road Dienst tut, von einem Tag zum nächsten in Abschiebehaft gerät, und warum verrät der Pakistani Usman seinen Bruder und nimmt in Kauf, daß der lange Tage in Isolations­haft bleibt? Nein, solche Hintergründe sollten hier nicht enthüllt werden. Es muß genügen, John Lanchester zu bestätigen, daß in seinem groß angelegten Roman die Spannung nicht nachläßt und »Kapital« sehr wohl neben Charles Di­ckens’ »Tale Of Two Cities« (dt. »Eine Geschichte aus zwei Städten«) zu stellen wäre, diesem von prallem Leben erfüll­ten Roman über London und Paris.
W. K.

John Lanchester: »Kapital«, aus dem Englischen von Dorothee Merkel, Klett-Cotta, 682 Seiten, 24,95 €


Eine Novelle zum Jubiläumsjahr
Hans Joachim Schädlichs Novelle »Sire, ich eile. Voltaire bei Friedrich II.« ist alles andere als eine apologetische Schrift, die die Freundschaft des Philosophenkönigs preisen würde – ganz im Gegenteil: Mit bescheidenen Mitteln wird eine Legende destruiert.

Aus der Fülle der von Schädlich ausgeschütteten Namen von Adligen und ihrer Beziehungen ergibt sich folgender Eindruck: Der französische Adel im 18. Jahrhundert lebt nicht nur hoch privilegiert, sondern gibt sich in dekadenter Weise einem Durcheinander der Liebesverhältnisse hin. Voltaire geht zwar mit den Adligen um, gehört aber trotzdem nicht zu ihnen, lebt allerdings mit einer der ihren, Émilie de Chatelet, zusammen. Allmählich erweitert sich das Spektrum der Beteiligten, während Voltaire und seine Émilie in trauter Zweisamkeit leben und forschen: Friedrich II. von Preußen taucht auf, zunächst als Thronprinz, als Werbender, der Voltaire gern an seinem Hof sähe. In Anspielung auf seine Homosexualität wird Émilie von Friedrich zunächst nicht einbezogen, was sich aber auf Dauer nicht halten läßt. Émilie ist nicht nur eifersüchtig auf Friedrich II., sondern sie durchschaut ihn – eher als Voltaire: den Machtmenschen, der sich als Philosoph auf dem Thron ausgeben möchte. Die Scheinhaftigkeit dieses Konstrukts wird offenkundig, als Friedrich auf den Thron gelangt und sofort Kriege vom Zaun bricht. Voltaire spricht ihm in seinen Aufzeichnungen »die Seele eines Schlachters« zu.

Daß er sich jedoch zu einem längeren Aufenthalt an Friedrichs Hof überreden läßt, hängt nicht nur mit seiner Nachgiebigkeit zusammen, sondern mit den Umständen: Émilie und das von ihr zur Welt gebrachte Kind sterben in kurzer Folge. In dieser Lage vermag Voltaire nicht mehr, Friedrichs Werben weiteren Widerstand entgegenzusetzen. Schädlich resümiert: »Friedrich hatte den Krieg gegen Émilie du Chatelet, den Kampf um Voltaire gewonnen ... Voltaire hatte sich in seine Hand begeben. – Voltaire besitzen! – Schlesien – besitzen!«

Der zweite Teil der Novelle besteht aus einer Zusammenstellung von Gewalttätigkeiten: Zunächst erfährt Voltaire von einer zynischen Äußerung Friedrichs: »Ich brauche ihn höchstens noch ein Jahr. Man preßt eine Orange aus und wirft die Schale weg.« Dabei verschweigt Schädlich aber nicht, weshalb Voltaire wiederum erpreßbar war. An anderer Stelle greift Friedrich in einen Gelehrtenstreit ein, in dessen Verlauf sich auch Voltaire geäußert hatte. Er zwingt ihn, sein Pamphlet zu verbrennen: »Voltaire konnte sich in diesem Moment an keine schlimmere Demütigung erinnern.« Die individuelle Demütigung wird in der Darstellung des Autors zu einem Fanal gesteigert. Voltaires endgültige Abreise im Frühjahr 1753 wird zu einer Flucht mit Hindernissen.

Die Novelle endet mit einem Happy End für Voltaire. Der Aufenthalt am preußischen Hof schrumpft zu einer unbedeutenden Episode zusammen; Voltaire kann sein »köstliches Refugium« in der Nähe von Genf genießen, während der »Ostgote/Vandale« von Potsdam die Maske des Philosophenkönigs ablegen muß und auf den Zustand eines verbitterten gichtigen Alten zusteuert.

Ein passender Beitrag zum 300. Geburtstag Friedrichs II.
Lothar Zieske

Hans Joachim Schädlich: »Sire, ich eile. Voltaire bei Friedrich II.«, Rowohlt Verlag, 143 Seiten, 16,95 €


Preisgekrönte Dichter
Von Karl Kraus stammt die Idee aus dem Jahre 1930, Bücher zeitgenössischer deutscher Literaturpreisträger sprachkritisch zu untersuchen, um herauszufinden, ob eine Auszeichnung überhaupt gerechtfertigt sei. Diese Idee aufnehmend stellt Wolfgang Beutin darum die Frage: »Weshalb erhielten einige deutsche und deutschsprachige Schriftstellerinnen und Schriftsteller den Literaturnobelpreis, welche Kriterien waren entscheidend dafür? Und weshalb erhielten ihn andere nicht?« Eins seiner Ergebnisse lautet: »Nationalismus und Elemente der Rassenideologie, ja, ein manchmal extremer Nationalismus und rassistische Ressentiments durchziehen seit einem Jahrhundert die Gedankenwelt und Werke der Mehrzahl Preisgekrönter.« Immer wieder findet der aufmerksame Leser Beutin Beispiele für Propagierung und Exkulpation deutscher Weltpolitik. Dem ersten deutschen Literaturnobelpreisträger, Paul Heyse, bescheinigt er Neigung zum Klischee sowie grammatische Unsicherheiten und Effekthascherei. Rudolf Eucken, Nobelpreisträger des Jahres 1908, suggeriere eine einheitlich kompakte deutsche Mentalität. Gerhart Hauptmanns Buch »Griechischer Frühling« charakterisiert er als »mythologisierendes Geraune«. Insofern steht Herta Müller in einer alten Tradition – peinlicherweise aber auch eingerahmt von Thomas Mann, Hermann Hesse, Heinrich Böll und Günter Grass.
Manfred Uesseler

Wolfgang Beutin: »Preisgekrönte. Zwölf Autoren und Autorinnen von Paul Heyse bis Herta Müller. Ausgewählte Werke, sprachkritisch untersucht”, Peter Lang Verlag, 360 Seiten, 39,80 €



Mensch und Tier
Im Ton des von Enkeln umringten Großvaters reimt Hans Krieger auf jedes Tier, das ihm begegnet, ein Gedicht, mal belehrend, mal auch moralisierend, meist vergnüglich, gelegentlich gern ein bißchen albern, aber immer sowohl tier- als auch menschenfreundlich, allerdings oft erschrocken über Menschen, die sich so wenig menschlich verhalten, daß es die Tiere graust. Das liest sich zum Beispiel so: »Ein Wolf, ganz gegen die Natur, / studierte mal Literatur. / Er las in Märchen, Fabeln, Sagen, / wie grausam Wölfe Menschen plagen. / Er las in Philosophentexten, / daß meist der Mensch an seinem Nächsten / so mörderisch und wölfisch handle, / als ob er sich zum Wolf verwandle. / Der Wolf springt auf und ruft entsetzt: / »Wie schlimm wird gegen uns gehetzt! / So böse sind wir Wölfe nicht, / es ist der Mensch der Bösewicht! ...« Die Ansprache des Wolfes endet mit dem Zeilenpaar: »... und wenn man Menschen Wölfe nennt, / ist’s für den Mensch ein Kompliment.«

Unter der Überschrift »Meise« bekennt der Autor: »Hab‘ ich immer noch kein Handy, / halt‘ mich still auf meine Weise, / ist es klar: Ich bin nicht trendy, / also hab‘ ich eine Meise. // Wenn ich mich des Fleischs enthalte, / lieber vegetarisch speise, / hör‘ ich sagen: »Schau, der Alte, / gell, der spinnt, der hat ‘ne Meise.« // Wenn ich noch auf Sozialismus / hoffe und den Markt nicht preise, / fehlt es mir an Realismus, / und es heißt: Der hat ‘ne Meise.« Kurz: Der Autor erweist sich als Menschenkenner und Vernunftmensch.
E. S.

Hans Krieger: »Das Asphalt-Zebra – Animalphabetische Verse«, Zeichnungen von Christine Rieck-Sonntag, Oreos-Verlag, 135 Seiten, 16,80 €



Herbstsplitter 2012

Der Herbst ist eine Jahreszeit,
da sitzt man oft im Trüben.
Die Äpfel reif, die Blätter bunt,
zu naßkalt zum Verlieben

Die Sommerbäder sind schon dicht,
noch duftet eine Rose.
Da greift der Herr der Schöpfung bald
zur langen Unterhose

Die jungen Fraun im Straßenbild
bestrümpfen ihre Waden.
Wird aus dem Regen schon mal Schnee,
kann das gewiß nicht schaden

Zum Herbstbild, das weiß jedes Kind,
gehört ein mieses Wetter.
Und Akten, die gefährlich sind,
gehören in den Schredder

Manch Schlapphut trägt zu Nikolaus
verkappt die Weihnachtsmütze.
So bleibt sein Status zwar geheim,
doch noch zu etwas nütze

Am Schönefelder Aeroport
stehn noch drei Pfifferlinge.
Auch für das nächste Erntejahr
sind sie recht guter Dinge

Die S-Bahn ist wie jedes Jahr
auf Frost und Schnee gerüstet.
So hat das Management sich je
zur Herbsteszeit gebrüstet

Kommt gut durch diese Jahreszeit
und überlebt den Winter!
Behaltet Eure Heiterkeit
und habt gesunde Kinder
Wolfgang Helfritsch


Der Bedarfsträgerstuhl
Einer, der etwas braucht, wird amtlich zuweilen Bedarfsträger genannt. Das ist schon schaurig genug. Doch wie fast alles, so kann auch dieses noch übertrumpft werden. Nehmen wir an, einer benötige, um drauf zu sitzen, einen Stuhl. Was kann man ihm anbieten? Einen Stuhl schlechthin? Einen Sitzstuhl? Eine Gesäßablage?

Nun, das kommt darauf an, wer einen schlichten Stuhl mit feinen Redensarten bekränzen kann. In unserem Falle war es das »Büro für Entwicklung – Messen – Werbung des Fachbereichs Möbel«, das in seinem Messeprospekt ein geheimnisvolles Ding ankündigt, welches »Wohnzimmer- und Bedarfsträgerstuhl mit gepolstertem Sitz« genannt wird.

Offenbar handelt es sich um ein Gerät, welches man nicht nur ins Wohnzimmer stellen kann, sondern das sich im Bedarfsfalle auch herumtragen läßt beziehungsweise das man anstelle von Hosenträgern benutzen kann, falls man gelegentlich gerade keine Hosen trägt, sondern einen Bedarf.
Felix Mantel