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Titel2515

Klientelorientiert und kleinkariert  (Christoph Butterwegge)

Nimmt man das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes ernst, gehört die Armutsbekämpfung zu den zentralen Aufgaben sämtlicher Staatsorgane. Gleichwohl haben bisher alle Bundesregierungen unabhängig von ihrer parteipolitischen Couleur die Armut im reichen Deutschland geleugnet, verharmlost und verdrängt, sie jedenfalls nicht konsequent bekämpft. Dies gilt auch für die zweite Große Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ins dritte Amtsjahr geht und behauptet, zur Halbzeit der Legislaturperiode schon die meisten Punkte ihres Regierungsprogramms abgearbeitet zu haben.

Großkoalitionäres Rentenpaket – ein Mittel gegen die Armut im Alter?
CDU und CSU konnten ihr Projekt einer verbesserten »Mütterrente« für Frauen durchsetzen, die vor 1992 mindestens ein Kind geboren haben. Von der Anrechnung eines zweiten Entgeltpunktes profitieren hauptsächlich ältere Frauen, die größtenteils Unionswählerinnen sind. Was fälschlicherweise »Mütterrente« heißt, denn auch Männer können sie im Falle der Kindererziehung erhalten, ist ein Instrument mit extrem breiter Streuwirkung: Der nicht gerade üppige Rentenzuschlag kommt zahlreichen Frauen zugute, die weder arm sind noch ihn benötigen, um im Alter gut leben zu können. Die gerade unter älteren Frauen verbreitete Armut kann durch eine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip aber nicht beseitigt werden, zumal Grundsicherungsbezieherinnen überhaupt nicht in den Genuss des zweiten Entgeltpunktes beziehungsweise des entsprechenden Zuschlags auf ihre Altersrente gelangen, weil er auf die Transferleistung angerechnet wird. Unter dem Gesichtspunkt der Armutsbekämpfung ist die Mütterrente daher wenig zielführend.


Auf Drängen der SPD wurde die Vertrauensschutzregelung zur Anhebung der Regelaltersgrenze erweitert: Besonders langjährig Versicherte (mindestens 45 Beitragsjahre, zu denen neben Kinderberücksichtigungs- und Pflegezeiten auch bestimmte Zeiten der Arbeitslosigkeit zählen) konnten schon nach Vollendung des 63. Lebensjahres in Rente gehen, ohne Abschläge hinnehmen zu müssen. Die abschlagsfreie »Rente mit 63« gilt jedoch nur für Angehörige der Geburtsjahrgänge 1951 und 1952. Für die Folgejahrgänge erhöht sich das Alter, mit dem der abschlagsfreie Rentenzugang möglich ist, parallel zur Anhebung des allgemeinen gesetzlichen Renteneintrittsalters um jeweils zwei Monate pro Lebensjahr, bis der besonders geburtenstarke Jahrgang 1964 erst mit dem vollendeten 65. Lebensjahr abschlagsfrei Altersrente beziehen kann. Es handelt sich bei der »Rente ab 63« um ein Danaergeschenk, denn ab 2029 gilt als ein Privileg für Rentenanwärter/innen mit extrem langer Versicherungsbiografie, was bisher für alle Versicherten möglich war: mit 65 Jahren eine Altersrente ohne Abschläge zu beziehen.


Während die Mütterrente und die Rente ab 63 mit hohen Kosten und sinkenden Rentensteigerungen verbunden sind, halten sich die Leistungsverbesserungen für Hilfebedürftige sehr in Grenzen. Rentner/innen mit vor 1992 geborenen Kindern sowie Arbeitnehmer mit 45 Beitragsjahren, die während der nächsten Monate und Jahre vorzeitig in den Ruhestand wechseln wollen – hauptsächlich Facharbeiter in Großbetrieben und Angestellte des öffentlichen Dienstes –, profitieren von den Reformmaßnahmen der Großen Koalition, wohingegen Menschen, die zur selben Zeit wegen gesundheitlicher (physischer oder psychischer) Beeinträchtigungen vorzeitig in Rente gehen müssen, von CDU, CSU und SPD eher stiefmütterlich behandelt und mit einem Almosen abgespeist werden.


Zwischenfazit: Zwar gibt es zum ersten Mal seit 1972 wieder spürbare Leistungsverbesserungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung. Um der sich ausbreitenden Altersarmut entgegenzuwirken, fehlt den beschlossenen Maßnahmen aber die nötige Zielgenauigkeit und den Regierungsparteien aufgrund ihrer
Klientelorientierung ein geschlossenes und in sich schlüssiges Rentenkonzept. Da sie dem Ziel, die bestehende Altersarmut zu verringern und deren Neuentstehung zu verhindern, keine Priorität einräumten, wächst das Armutsrisiko für Senioren. Die soziale Ungleichheit im Alter nimmt künftig vermutlich auch deshalb zu, weil ohnehin Bessergestellte durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz noch stärker privilegiert werden und ausgerechnet jene Menschen davon nicht oder nur unterdurchschnittlich profitieren, die großzügigerer Regelungen am dringendsten bedürften.

Großkoalitionärer Mindestlohn – das Ende von Lohndumping und Aufstockerei?
Seit dem 1. Januar 2015 gilt in Deutschland ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto pro Stunde. Er greift jedoch keineswegs »flächendeckend«, gleicht er doch aufgrund seiner Ausnahmen (für Jugendliche ohne Berufsausbildung, Kurzzeitpraktikanten, Langzeiterwerbslose, Saisonarbeiter und Zeitungszusteller) einem Flickenteppich, was Kontrollen hinsichtlich seiner Einhaltung erschwert und Gesetzesverstöße erleichtert.


Dass die SPD in der dritten Großen Koalition auf Bundesebene einen solchen Mindestlohn realisiert hat, macht Hartz IV weder rückgängig noch wirkungslos. Zwar mag der Mindestlohn trotz seiner zahlreichen Ausnahmen und Sonder- und Übergangsregelungen das soziale Gewissen der Partei beziehungsweise ihrer für die rot-grüne Reformpolitik verantwortlichen Politiker vorübergehend beruhigen, er kann aber weder die »Agenda«-Politik vergessen machen noch ihre negativen Konsequenzen beseitigen oder ihre schlimmsten Folgen lindern. Das Wachstum des Niedriglohnsektors kann durch den großkoalitionären Mindestlohn bestenfalls gestoppt werden. Er verhindert aber nicht, dass sich ausgerechnet einige der schutzbedürftigsten Gruppen auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor zu Dumpinglöhnen verdingen müssen.


Der großkoalitionäre Mindestlohn reicht weder aus, um die wachsende Erwerbs- und die spätere Altersarmut einzudämmen, noch zieht er Hartz IV die Giftzähne: Sowohl rigide Zumutbarkeitsregeln wie auch drakonische Sanktionen, die den Niedriglohnsektor boomen lassen, bleiben weiter bestehen. Dieser wird daher auf einem weniger unerträglichen und etwas höheren Durchschnittsniveau zementiert. Durch den Mindestlohn wird höchstens eine weitere Lohnspreizung verhindert und der Niedriglohnsektor zwar nach unten abgedichtet, aber nicht eingedämmt oder gar abgeschafft, was jedoch nötig wäre, um Armut und soziale Ausgrenzung wirksam zu bekämpfen.

Von Christoph Butterwegge erschien am 16. November in der Reihe »essentials« das Buch »Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung. Eine sozial- und steuerpolitische Halbzeitbilanz der Großen Koalition«, Springer VS, 56 Seiten, Taschenbuch 9,99, ebook (PDF) 4,99 €.