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Titel2519

Die Arbeiterklasse macht blau: Brexit  (Johann-Günther König)

Vor gut 175 Jahren erschien der zweite Band der »Englischen Skizzen« des damals weithin bekannten Reiseschriftstellers Johann Georg Kohl (1808–1878). Darin findet sich in dem Kapitel über die »unabhängige Stellung« Großbritanniens der merkwürdig aktuell scheinende Passus: »Zur Zeit der Gipfelmacht Napoleons standen die Engländer, auf ihrer Insel fußend, allein frei und herrschend dem ganzen Continente gegenüber, und obgleich nicht mehr auf kriegerischem Fuße, befinden sie sich doch in vieler Beziehung noch jetzt in dieser Opposition mit demselben. […] Denn während das Land in den letzten europäischen Verwickelungen mit seinen Armeen, mit seinem Gelde, mit seinen Unterhandlungen überall half und wirkte, und während es die Länder und Länderstücke, welche an die verschiedenen Continental-Mächte vertheilt werden sollten, durch seinen Einfluß zurecht schneiden und arrangiren half, ließ es davon doch nichts direct in seine eigene Tasche fallen, indem es sich auf sein Inselgebiet beschränkte. […] Mehr als irgendein anderer Staat bildet England jetzt eine eigene Welt für sich, folgt mehr als irgendein anderes Volk seinen eigenen Impulsen und fühlt in sich selbst seinen Halt und Schwerpunkt.«

 

Seit der Nacht auf Freitag, den 13. Dezember 2019, als in den 650 Wahlkreisen des – noch – Vereinigten Königreichs sukzessive die siegreichen Abgeordneten für das Unterhaus verkündet wurden, bildet das Inselreich aus unionseuropäischer Sicht wahrlich eine eigene Welt für sich, scheint der Brexit nicht mehr abwendbar. Denn als die Briten morgens auf die politische Landkarte schauten, hatte sie sich über große Flächen in Tory-Blau gefärbt. Die Remainer jedenfalls bekamen bei der Wahl zwar in Schottland, aber nicht in England, Wales und Nordirland ihre Kandidatinnen und Kandidaten wie erhofft durch. Während Nicola Sturgeon mit ihrer pro-unionseuropäischen Scottish National Party (SNP) von den 59 schottischen Mandaten sagenhafte 48 gewinnen konnte, erhielten Jo Swinson und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter von den Liberal Democrats, die im ganzen Königreich mit der unmissverständlichen Parole »Stop Brexit« den Wahlkampf geführt hatten, lediglich elf Sitze (die Grünen sogar nur einen einzigen).

 

Die Liberaldemokraten, im Mai 2019 noch strahlende Gewinner der EU-Parlamentswahlen, sind – trotz vieler Überläufer aus der konservativen Partei – krachend gescheitert. Da Parteichefin Jo Swinson sogar ihren Unterhaussitz verlor, blieb ihr nur der Rücktritt, müssen die Parteimitglieder nun eine neue Führungsfigur suchen. Einen kräftigen Schub hat zweifellos das Streben schottischer Nationalisten nach Unabhängigkeit beziehungsweise Beibehalt der EU-Mitgliedschaft erhalten. Die SNP fordert bereits ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum – und das dürfte im kommenden Jahr ein heftiges politisches Gerangel mit dem Parlament in London nach sich ziehen.

 

Und nun geht’s ans Eingemachte. Boris Johnson errang mit dem endlos wiederholten Slogan »Get Brexit Done« einen zuvor nicht erwarteten deutlichen Wahlsieg für die Tories. Mit 365 gewonnenen Unterhaussitzen hat der Premier in den kommenden fünf Jahren eine größere Mehrheit hinter sich als Margaret Thatcher ab 1987. Und damit enden nun erst einmal die Zeiten einer in sich gespaltenen konservativen Partei, deren prounionseuropäische Abgeordnete bislang einen dicken Stolperstein bei den mehrfachen Unterhausabstimmungen zur Implementierung des Brexits bildeten. Da alle der nun frisch ins Unterhaus gewählten Tories Boris Johnson bereits zugesichert haben, dem Austrittsgesetz zuzustimmen, dürfte der jüngst zum Ende Januar 2020 vereinbarte Vollzug des Brexits eingehalten werden. Die dann anstehenden und über alles Inhaltliche entscheidenden Verhandlungen über das künftige Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur EU, für die bislang nur der äußerst knappe Zeitraum bis zum Ende des Jahres 2020 vorgesehen ist, versprechen jede Menge Aufregungen, Ärger und Spannungen. Zwar ist Johnson bislang hinsichtlich der Regierungspläne für die Ausgestaltung des künftigen Verhältnisses zur EU vage geblieben; auch wird er wahrscheinlich einen etwas gemäßigteren Kurs, als von den harten Brexiteers erwartet, fahren. Aber wer weiß – die hinter dem nun vom Volk und nicht nur von Parteimitgliedern gewählten Premier stehende parlamentarische Mehrheit verleiht ungeahnt große Spielräume in den kommenden, zweifellos strittig verlaufenden Austrittsverhandlungen. Ein No-deal weiterhin inbegriffen.

 

Zurück zur Unterhauswahl. Die unter Jeremy Corbyn weder eindeutig für noch gegen den Brexit in den Wahlkampf gezogene Labour Party verlor viele ihrer traditionell roten Wahlkreise und fuhr – in der inzwischen vierten Wahlniederlage in Folge – mit nur 203 Sitzen ihr schlechtestes Ergebnis seit 1935 ein. Seitdem ist die alte Arbeiterpartei tief gespalten und sind die Tage Corbyns an der Parteispitze gezählt – er will sein Amt beziehungsweise die Hebel der Macht in der Partei allerdings erst dann abgeben, wenn seine Nachfolge geklärt ist. Es waren die Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterklasse im Norden und in der Mitte Englands, die der Labour Party bei der Wahl den Rücken kehrten und in ihrem jeweiligen Wahlkreis den Brexit, also einen Tory, wählten. In Schottland hält Labour übrigens nur mehr einen Sitz … Johnson und seine cleveren Berater Dominic Cummings und Isaac Levido hatten die Tory-Wahlkampagne nicht zufällig gezielt auf Nord- und Mittelengland ausgerichtet, wo einst die Bergbauregionen und das industrielle Herzland für Wohlstand gesorgt hatten und heute eine ökonomische und soziale Brache herrscht, die die Menschen in die Resignation treibt und Wut auslöst. Dass sich ihr Ressentiment leicht gegen »Brüssel« richten lässt, ist seit 2016 offensichtlich.

 

Während die Tories es mit vielen neuen Kandidatinnen und Kandidaten schafften, die Brexit-Befürworter aus den traditionellen Labour-Wahlkreisen massenweise auf ihre Seite zu ziehen, gelang es Corbyn dagegen kein bisschen, die mindestens ebenso große, wenn nicht größere Gruppe der Remainer ins rote Boot zu holen. Bezeichnenderweise konnte Labour fast alle Londoner Wahlkreise halten und teils sogar Zugewinne erzielen, weil die Partei bei den gut ausgebildeten und gut verdienenden – zumal jüngeren – Wählerinnen und Wählern vergleichsweise gut ankommt, während sie bei der fern der boomenden Hauptstadt lebenden klassischen Arbeiterklasse – die in Großbritannien als solche alltagsweltlich durchaus noch wahrgenommen wird – und den ärmeren Menschen zunehmend auf Ablehnung und Desinteresse stößt.

 

Die die Wahl – ganz im Sinne Boris Johnsons – dominierende Brexit-Problematik sollte freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass gegen Labour laut den Umfragen noch zwei weitere Akzeptanzschwierigkeiten zum Tragen kamen. Zum einen wollten viele Wählerinnen und Wähler den nüchtern wirkenden und durch Antisemitismusvorwürfe geschwächten Kandidaten Jeremy Corbyn schlicht nicht zum Premier erheben, und zum anderen misstrauten nicht wenige den vielen Versprechungen im Wahlprogramm – sie umfassten kostenloses Breitband für alle, die Abschaffung der Studiengebühren, die deutliche Erhöhung der Ausgaben für soziale und gesundheitliche Zwecke und nicht zuletzt die Renationalisierung von Energie, Wasser und Eisenbahn. Wie es wohl mit der dem Socialist Green New Deal verschriebenen alten Arbeiterpartei weitergeht? Bis über eine Urwahl und die damit verbundenen Richtungskämpfe die neue Führungsspitze von Labour ins Amt gehoben worden ist, wird Boris Johnson wohl schon eine Weile regiert und womöglich ungewollt verraten haben, wie schwer die vom Brexit erhoffte Erlösung von allen Übeln wird.