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Titel0310

Woyzeck im Netz  (Monika Köhler)

Woyzecks Welt ist ein Netz. Nicht jenes soziale Netz, das auffangen, schützen soll, sondern das Netz als schwankender Boden, so daß der Absturz vorprogrammiert scheint. Das Hamburger Thalia-Theater zeigt nicht Büchners »Woyzeck«. Das Programmheft weist aus: »nach« Georg Büchner, »von« Tom Waits, Kathleen Brennan, Robert Wilson. Die Songs, die das Stück anreichern, sind von Tom Waits, das Konzept von Robert Wilson. Aber Regie führte die junge Jette Steckel, und fürs Bühnenbild-Netz ist Florian Lösche verantwortlich. Diese beiden schaffen zusammen mit den Schauspielern und den sechs Musikern etwas völlig anderes als das vor zehn Jahren uraufgeführte Waits-Musical, sie schaffen den Einklang von Bühnenraum, Regie und Büchners Text. Die Bilder ergeben sich aus der Sprache, die Musik fügt eine neue Dimension hinzu. Das gilt nicht unbedingt für die Songs von Waits, auf die man verzichten könnte. Büchners Sprache wird Musik, manchmal gesungen. Und die Stille gibt einen Raum für Poesie. Auch für grausame Bilder – wenn Woyzeck (Felix Knopp) kopfunter hängt, baumelt, wie ein Tier, das geschlachtet werden soll. Unter ihm der Doktor (Tilo Werner), der seine Menschenversuche mit Erbsen endlich von Ergebnissen gekrönt sehen will. Ein Vierteljahr nur diese Hülsenfrüchte. Wie lange hält so ein Depp von Soldat die Billigkost durch? Was zeigt sein Urin?

Der Doktor: ein Vor-Sarrazin? Büchner studierte 1833/34 in Gießen, wo auch der berühmte Justus von Liebig lehrte. Und der veranlaßte genau das: Versuche an Soldaten, die Ernährung betreffend. Die chemische Zusammensetzung des Urins war ihm wichtig. Die Auswirkungen auf die Psyche, den Puls. Bei Büchner: der schöne »ungleiche Puls«. Begeistert ruft der Doktor: »Fühlen Sie, meine Herren, fühlen Sie!« Der Arzt ist besessen von dem Gedanken, etwas beweisen zu wollen. Woyzecks Haare, »ganz dünn geworden seit ein paar Tagen. Ja die Erbsen, meine Herren!« Wer ist hier der Verrückte? Jette Steckel läßt den Doktor als böse Karikatur spielen. Er überstäubt sich mit Goldglitter und benutzt den eigenen – hohlen? – Körper als Trommel.

Der Tambourmajor (Josef Ostendorf) kommt mit seiner Riesentrommel als bedrohlich komische Figur auf die Bühne. Seine Körpermassen klingen im Anprall wie Blech. Blech, das verletzen kann. Marie (Maja Schöne) springt ihn wie in Verzweiflung an und trägt Wunden davon. Was sucht Marie bei diesem albernen eitlen Soldaten? Allenfalls ein Ausbrechen, heraus aus dem Vorgegebenen, dem »Schicksal«? Wenn Marie den Versuch macht wegzufliegen, die Arme ausbreitet und dann vor einem Mikrophon mit glitzernden Pumps einen Song probiert – nein, es paßt nicht zu ihr, nicht die Musik, nicht der Text. Zurück zu Büchner.

Der Narr Karl oder der Idiot (Julian Greis), eine wunderbare Figur, die ihren Schatten sucht. Er ist wie ein irdischer Schutzengel fast überall dabei, trägt manchmal Maries Kind und gibt lakonische Kommentare ab: »Jeder Mensch ist ein Abgrund« – auch er kann Abstürze nicht verhindern. Die Schauspieler müssen sich abseilen und anschnallen, um den Fallstricken des Netzes nicht zu erliegen, dieses riesigen Netzes, das waagerecht oder senkrecht die Bühne überzieht und, eingespannt in einen Metallrahmen als Schräge, Menschen erdrücken kann.

Auch der Hauptmann (Philipp Hochmair) ist gefangen im Netz wie ein Insekt und gibt seinen Druck weiter an den Füsilier Woyzeck – das unterste Glied der Kette –, den er für sich ausnutzt. Soldaten »sind die gesetzlichen Mörder, welche die gesetzlichen Räuber schützen«, schrieb Büchner schon im Hessischen Landboten. Soldat auch Andres, Woyzecks Gefährte (Jörg Pohl), der ihn aufzurichten versucht in seiner naiven, simplen Art, ihn aber nicht wirklich versteht.

Woyzecks Ängste, als Psychose gedeutet, seine Eifersucht, die ihn sein Liebstes und sich selbst zerstören läßt, bringen ihn zum Mord, der hier nicht deutlich gezeigt wird. Es könnte auch eine innige Umarmung sein, die da oben im Netz geschieht. Das Märchen vom »arm Kind« leitet das Stück ein und steht am Schluß. Margreth (Gabriela Maria Schmeide) singt es nicht wie ihren Waits-Song »It`s over«, sie spricht es, indem sie mit einer schwachen Lampe wie mit einem Mond über die Bühne läuft, mit bitterem, sarkastischem Lachen.