erstellt mit easyCMS
Titel0312

Sozialabbau 2012, Folge 1  (Franziska Walt und Tilo Gräser)

6. Januar: Die Pietät endet dort, wo es um den Etat eines Sozialamtes geht, schreibt die B.Z. Im Herbst letzten Jahres stirbt eine 64jährige »Hartz IV«-Empfängerin aus Berlin-Spandau überraschend. Ihr Lebensgefährte Joachim Hoppe, ebenfalls Sozialhilfe-Bezieher, verkraftet den Schicksalsschlag nicht und muß ins Krankenhaus. Anfang Januar – wieder zu Hause – erfährt er, daß seine Freundin nicht auf dem nahegelegenen Friedhof, sondern in Tempelhof, in einem anonymen Urnengrab ihre letzte Ruhe fand. Hoppes Wunsch, die Urne nach Spandau zu holen, will das Sozialamt nicht nachkommen. Thomas Fischer, Sozialamtsleiter in Spandau, erklärte der Zeitung: »Als Lebensgefährte ist Herr Hoppe nicht berechtigt, Anträge zu stellen. Den Wunsch, die Bestattung in Spandau durchzuführen, hätten wir einzelfallbezogen geprüft, allerdings wegen der Mehrkosten wahrscheinlich abgelehnt.« 336 Euro kostete das Begräbnis in Tempelhof, 726 Euro hätte es in Spandau gekostet. Die Behörde sparte also 390 Euro. Hoppe weiß zwar jetzt, wo er seine Blumen niederlegen kann, heißt es in der B.Z. weiter, er ist trotzdem untröstlich: »Ich habe kein Geld für regelmäßige Fahrten zum Grab.«

– Stefan Krastel, 44jähriger Friseurmeister, pflegt seit 14 Jahren seine einseitig gelähmte Mutter. Da es sich um eine 24-Stunden-pro-Tag-Aufgabe handelt, mußte er seinen Beruf aufgeben, lebt inzwischen von »Hartz IV«, berichtet neues deutschland. »Der Hauptmangel für Menschen, die zu Hause pflegen, ist die geringe finanzielle Unterstützung«, so seine Überzeugung. Das System kranke daran, daß Pflege- und Sozialkassen weitaus größere Mittel für Heimunterbringungen und professionelle Pflegedienstleister ausgeben als für Angehörige, die die Pflege in den eigenen vier Wänden leisten. »Wenn die öffentliche Hand für einen Heimplatz rund 3.200 Euro zahlt, reicht uns schon die Hälfte«, zitiert die Zeitung Krastel. Damit käme er aus der »Hartz IV«-Falle heraus, und es ließen sich »zwei Drittel der Probleme im Pflegebereich mit einem Streich lösen«, ist er überzeugt. Gesamtgesellschaftlich sei eine solche Variante humaner und auch billiger. Solange jedoch »die Lobby der Pflegeindustrie in der Politik den Ton angibt«, werde sich daran nichts ändern, befürchtet er.

8. Januar: Die Kaufkraft der Rentner in Deutschland ist 2011 erneut gesunken, meldet Bild und beruft sich auf Zahlen des Hamburgischen Weltwirtschafts-Instituts (HWWI). Seit 2004 ging sie um 8,8 Prozent zurück. Hauptursache ist die Inflation, die im vergangenen Jahr bei 2,3 Prozent lag. Die Bezüge der rund 20 Millionen Rentner in Deutschland wurden 2011 nur um 0,99 Prozent angehoben. Laut HWWI-Experte Jörg Hinze ist das Minus in Wirklichkeit noch größer: »Gerade Waren des täglichen Bedarfs sind teurer geworden, zum Beispiel Lebensmittel, Energie.« Von Preissenkungen wie bei Computern würden die Senioren dagegen weniger profitieren.

– Der 63jährige Wolfgang Seeger aus Maschen ist bescheiden geworden. Ihm und seiner Frau bleiben pro Monat abzüglich der laufenden Ausgaben nur 200 Euro zum Leben, schreibt der Harburger Anzeiger. Seeger hat gearbeitet, solange es gesundheitlich ging. Erst als Maschinenschlosser, dann hat er sich selbständig gemacht, ging in Konkurs, der erste Herzinfarkt folgte. Zwei Jahre später ein erneuter, diesmal erfolgreicher Versuch in die Selbständigkeit, doch vier Herzinfarkte »besiegeln seinen Abstieg«, so das Blatt. Die private Krankenversicherung, zu der er gewechselt war, hatte wegen seiner Vorschädigung Herzkrankheiten aus der Haftung ausgeschlossen. Seine teuren Behandlungen muß Seeger selbst zahlen. Schnell waren Geld und Haus weg.

10. Januar: Trotz steigender Beschäftigung und nomineller Lohnsteigerungen waren Mitte 2011 rund 570.000 Beschäftigte, die einen sozialversicherten Job ausübten, zusätzlich auf »Hartz IV«-Leistungen angewiesen, so das Ergebnis einer Analyse des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Bundesweit zählten 2,5 Prozent aller sozialversichert Beschäftigten zu den »Aufstockern«. Im Osten sei das Verarmungsrisiko Erwerbstätiger gut doppelt so hoch wie im Westen (4,5 Prozent aller Beschäftigten im Osten gegenüber zwei Prozent im Westen). Rund vier Milliarden Euro wendet der Bund jährlich über »Hartz IV« auf, um Geringverdienern mit Voll- oder Teilzeitjobs ein gesellschaftliches Existenzminimum zu garantieren.

12. Januar: Seit der Einführung von »Hartz IV« Anfang 2005 sind am Berliner Sozialgericht 150.000 Klagen von Sozialhilfeempfängern eingegangen, alle zwölf Minuten trifft eine weitere Klage ein. 54 Prozent der Kläger bekommen vor Gericht Recht. Dies die ernüchternde Bilanz, dokumentiert von Süddeutsche online. Viele Fälle könnten ohne Gericht geklärt werden, zitiert das Blatt die Präsidentin des Sozialgerichts Berlin, Sabine Schudoma. »Die Zeche zahlt der Steuerbürger«, so die Juristin und fordert, daß die »Hartz IV«-Bezieher von den Mitarbeitern der Jobcenter besser betreut werden.

13. Januar: Vor allem Kinder und Jugendliche leiden in Berlin finanzielle Not. Das hat laut Berliner Zeitung der Regionale Sozialbericht für das Jahr 2010 des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg ergeben. Die Armut der Heranwachsenden sei verursacht durch die finanzielle Situation der Eltern, die nationale Herkunft und den Bildungsstand. Vor allem Menschen mit einer schlechten Ausbildung, mit Migrationshintergrund sowie Kinder und Jugendliche müßten in armen Verhältnissen leben.

18. Januar: Das Jobcenter des Landkreises Anhalt-Bitterfeld muß den Gürtel enger schnallen, schreibt die Mitteldeutsche Zeitung. Bekam es im vergangenen Jahr noch etwa 21,46 Millionen Euro vom Bund überwiesen, so werden es 2012 voraussichtlich 4,52 Millionen Euro weniger sein. Ursache seien die Kürzungen im Bereich der Eingliederungsleistungen, also des Geldes, das »Hartz IV«-Empfänger wieder in Lohn und Brot bringen soll, so das Blatt. Als Grund benennt der stellvertretende Jobcenter-Vorstand Ingolf Eichelberg die sinkende Arbeitslosenquote. Problematisch ist jedoch laut Eichelberg, daß die Zahl der »Hartz IV«-Bezieher zwischen Dezember 2010 und Dezember 2011 gerade mal um zwei Prozent rückläufig gewesen sei.

19. Januar: Knapp 90 Prozent der Minijobber erhalten nur Niedriglöhne und werden vielfach systematisch geringer bezahlt als andere Beschäftigte, obwohl das verboten ist. Das gehört zu den Ergebnissen dreier Studien der Hans-Böckler-Stiftung beziehungsweise von ihr geförderter Untersuchungen. Danach nutzen Unternehmen Minijobs, in denen überwiegend Frauen arbeiten, gezielt, um Personalkosten zu drücken. Besonders eklatant sei der Lohnrückstand unter geringfügig Beschäftigten, die gleichzeitig Arbeitslosengeld II beziehen. Das sei ein starkes Indiz dafür, daß Arbeitgeber die »Aufstockung« durch Sozialleistungen bei der Lohnfestsetzung bereits einkalkulieren. Die Studien bestätigen auch, daß Minijobs nur selten eine »Brücke« in stabile Beschäftigung bilden.

20. Januar: Für alleinstehende »Hartz IV«-Bezieher sei es schwer, eine kleine Wohnung zu finden, schreibt die Frankfurter Rundschau und nennt als Beispiel einen 52jährigen aus Bad Homburg. Im August 2011 verlor er seine Wohnung und schlief fortan im Freien, bis die Nächte zu kalt wurden. Unterschlupf bei Bekannten war nur ein paar Tage möglich, dann zog er durchs Rhein-Main-Gebiet. Bis zu fünf Nächte lang geben die Kommunen Asyl in Durchwanderer-Herbergen. Inzwischen konnte die Caritas für ihn eine 40 Quadratmeter große Wohnung in Oberursel organisieren, für 3,30 Euro kalt pro Quadratmeter. Teurere Bleiben würde die Sozialbehörde nicht bezahlen. Die Sachbearbeiter nutzen ihre Ermessensspielräume nicht immer aus, zitiert die Frankfurter Rundschau den Caritas-Sozialarbeiter Roland Klinke: »Es sind schon Anträge auf Mietkostenübernahme abgelehnt worden, die gerade mal zehn Euro über den Höchstsätzen lagen.« Dabei bräuchten viele Klienten dringend eine kleine Wohnung.

– Die Tariflöhne und -gehälter sind 2011 real um 0,3 Prozent gesunken, so die Bilanz der Tarifpolitik des Jahres 2011, die das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung vorgelegt hat. Dem Anstieg der nominalen Tariflöhne und -gehälter 2011 von durchschnittlich zwei Prozent steht der Anstieg der Verbraucherpreise um 2,3 Prozent gegenüber. Wäre das Wachstum auch den Beschäftigten zugute gekommen, hätten es mindestens 3,5 Prozent Plus sein müssen. So hoch war 2011 laut WSI der neutrale Verteilungsspielraum, der sich aus dem Anstieg von Verbraucherpreisen (+2,3 Prozent) und Arbeitsproduktivität (+1,2 Prozent) ergibt.

– In Hessen hat zwischen 1999 und 2010 der Anteil des Niedriglohnsektors an allen Beschäftigten deutlich zugenommen, stellt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit fest. Der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten sei um rund ein Viertel auf knapp 19 Prozent gestiegen. Das liege nur wenig unter dem westdeutschen Durchschnitt (21 Prozent) und gelte für fast alle Berufsbereiche und Wirtschaftszweige. »Individuelle Merkmale, die besonders häufig im Niedriglohnsektor zu finden sind, sind weiblich, jung und geringqualifiziert«, so das IAB. Auffällig sei, daß auch viele Personen mit berufsqualifizierendem Abschluß für Niedriglöhne arbeiten müssen. Vor allem in Dienstleistungsbereichen würden geringe Löhne gezahlt. Das Fazit der IAB-Studie: »So gesehen geht der Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft mit einer zunehmenden Niedriglohnproblematik einher.«

27. Januar: Altersarmut dort zu bekämpfen, wo sie entsteht, nämlich am Arbeitsmarkt. Dies fordern zwei Wissenschaftlerinnen der Freien Universität Berlin in einer Studie zu den erwarteten Renteneinkommen der heute 45- bis 50jährigen Frauen. Laut junge Welt wird nach vorläufigen Berechnungen etwa jede sechste Frau der Jahrgänge 1962–66 in den alten und nur jede zehnte in den neuen Bundesländern im Alter einen Zahlbetrag von mehr als 1.050 Euro erhalten. Die monatliche Durchschnittsrente der Frauen werde sich bei Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf rund 700 Euro im Westen und 680 Euro im Osten belaufen. Als Ursachen der vorprogrammierten Frauen-Altersarmut nennen die Verfasserinnen: Arbeitslosigkeit, Beschäftigung in Teilzeit- und Minijobs sowie »Lücken« in der Erwerbsbiographie durch Kindererziehung und Altenpflege.