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Titel0312

Kehlmanns Geisterbeschwörung  (Lothar Kusche)

Geister sieht man gern auf der Theaterbühne. Man denke nur an den Geist von Hamlets Vater, der vielleicht weniger durch Shakespeare bekannt geworden ist als (viel später) durch Erich Kästner, der einen Schauspieler namens Gustav Renner im »Toggenburger Stadttheater« bedichtet hat:
»... Alle lobten ihn, sogar die Kenner. / Und die Damen fanden ihn sogar noch schlank. / Schade war nur, daß sich Gustav Renner, / wenn er Geld besaß, enorm betrank. // Eines Abends, als man ›Hamlet‹ gab, / spielte er den Geist von Hamlets Vater. / Ach, er kam betrunken aus dem Grab! / Und was man nur Dummes tun kann, tat er ...«

Daniel Kehlmanns Stück »Geister in Princeton« wurde vom Regisseur Torsten Fischer als deutsche Erstaufführung im Berliner Renaissance-Theater präsentiert. Erwartungsvoll warteten wir auf den Beginn der Vorstellung. Der Mann hinter uns wickelte seine Abendbrötchen aus; wir hatten eingewickelte Hustenbonbons mitgebracht. Ein bißchen nervös wurde ich, weil der Spielplan des Theaters uns darüber informiert hatte, daß Daniel Kehlmann ein außerordentlicher Schriftsteller ist, der quasi von Natur aus Erfolge produziert oder Erfolg hat: »Nach dem Mega-Erfolg von ›Die Vermessung der Welt‹ und seiner bemerkenswerten Rede über das deutsche Regietheater zum Auftakt der Salzburger Festspiele 2009 sucht Bestsellerautor Daniel Kehlmann mit ›Geister in Princeton‹ nun die nächste Herausforderung – sein Debüt als Dramatiker.«

Ob er ein Dramatiker ist, kann ich nicht sagen. Kehlmanns »Mega-Erfolg«, der Roman von der Vermessung der Welt, »ist bisher in vierzig Sprachen der Welt übersetzt worden – einer der erfolgreichsten Romane der Nachkriegszeit.« Mein Freund Egon hat dazu beigetragen, er kaufte sofort ein halbes Dutzend Exemplare. Eins davon habe ich gelesen, obwohl es die Frankfurter Rundschau »ein großes Buch und einen genialen Streich« nannte. »Mit hintergründigem Humor schildert der Autor das Leben zweier Genies: Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß ..., beschreibt ... ihre Gratwanderung zwischen Lächerlichkeit und Größe, Scheitern und Erfolg ...« Beide Genies zeichnen sich eigentlich durch Lächerlichkeit aus: Kehlmanns Humor ist dermaßen hintergründig, daß man ihn nicht leicht entdeckt. Die Begabung des Schriftstellers D. K., uns gut zu unterhalten, ist sehr erfreulich.

»Geister in Princeton«, Kehlmanns Szenarium »über das Leben des Mathematikers Kurt Gödel, fordert den Zuseher, und doch bedarf es keines Doktorats in Philosophie und Logik, um es zu verstehen«, meint die Dramaturgie des Renaissance-Theaters, welche das Stück offenbar verstanden hat. Die Direktion tröstet ihr Publikum, dieses (der Berichterstatter inklusive) »fühle sich wie zu Hause ..., wenn sich Gödel etwa mit Einstein ein intellektuelles Ping-Pong über seine Einbürgerung in Amerika liefert. Dafür sorgt Kehlmanns klare Dramaturgie.« Nanu? Für Klarheit sorgen doch solche Schauspieler wie Heikko Deutschmann (Gödel), Michael Rastl (Botschaftsrat Strinetzki und Moritz von Schlick), Horst Schultheis (Hans Hahn) und in mehreren, auch kleinen Rollen Boris Aljinoviæ und Nikolaus Okonkwo. Besonders beeindruckte mich, wie so oft schon in diesem Hause, der vielseitige Akteur Gerd Wameling – als Albert Einstein (schwer maskiert, von Wameling in Stimme und Gang exakt nachgebildet). Ich darf noch einmal auf Kästners Toggenburger Hamlet-Darbietung mit dem besoffenen Gustav Renner zurückkommen, die in einem Chaos endete. Aber: »So etwas von donnerndem Applaus / gab’s in Toggenburg zum ersten Mal. / Und die meisten Toggenburger fanden: / Endlich hätten sie das Stück verstanden.«

Applaus gibt’s bei Renaissance-Premieren allemal. Wie viele Leute das Stück verstanden und etwas vom Gödelschen Unvollständigkeitssatz begriffen haben, ist nicht bekannt. Als ein Sarg auf der Bühne abgestellt wurde, glaubte ich aus dem Innern des hölzernen Behälters ein leises Klopfen zu hören. Ein akustischer Irrtum. Unwillkürlich hatte ich an ein berühmtes Gedicht von Friederike Kempner gedacht: »Finster und Stumm (Nocturno). – Stürmisch ist die Nacht, / Kind im Grab erwacht, / Seine schwache Kraft / Es zusammenrafft. / ›Machet auf geschwind!‹ / Ruft das arme Kind, / Sieht sich ängstlich um: Finster ist’s und stumm.«